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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Jugenderinnerungen.

Aufenthalts von ihm garnicht mehr gewünscht wurde. Er kannte buchstäblich
jeden einzelnen Einwohner der Stadt, wußte jeden Begegnenden mit Namen
zu nennen, ward von allen ehrerbietigst gegrüßt und fühlte sich in dieser Be¬
liebtheit bei der Bevölkerung, die er sich durch freundliches Wesen gewonnen hatte,
offenbar wohl. Nach Art der Kleinstädter war der Onkel ein regelmäßiger
Besucher des städtischen Kasinos, wo sämtliche "Honoratioren" allabendlich zu
bestimmter Stunde zusammentrafen. Da ward denn gewaltig geraucht, sehr
viel mittelmäßiges Bier vertilgt und nach Herzenslust gekannegießert. Natürlich
mußten auch wir Fremden, die einzigen in der ganzen Stadt, diese wichtige
Tafelrunde besuchen, um einen Begriff von der Herrlichkeit des gemütlichen
Landauer Lebens zu bekommen und Bekanntschaft mit den tonangebenden Häuptern
zu macheu. Der gute Onkel in seiner Seligkeit merkte nicht, daß der Vater,
der nie mit andern Menschen an öffentlichem Orte zusammenkam, sich schmäh¬
lich langweilte, während mein Bruder und ich es vorzogen, ohne Erlaubnis die
Straße aufzusuchen und uns ans eigne Faust zu vergnügen, so gut es gehen
wollte.

Besser gefiel es uns in den Häusern und Gärten verschiedner Verwandten,
die dem Kaufmannsstande angehörten und in großem Ansehen standen. Einer
derselben bekleidete auch ein städtisches Amt und bewohnte ein geräumiges Land¬
haus am Queis, in dessen großem, wohlerhaltenen Garten wir uns nach Herzens¬
lust herumtummeln konnten. Hier ward denn auch dem Vater zu Ehre" ein
Familienfest veranstaltet, bei welchem sämtliche Vettern und Muhmen in allen
Altersstufen sich zusammenfanden.

Das war nun ganz lustig und vergnüglich, denn auch wir Brüder wurden
von allen mit Liebe überschüttet und auf alle denkbare Weise gepflegt, ja ver¬
hätschelt, wäre mir in diesem Kreise wohlwollender Verwandten nicht zugleich
auch so viel Stoff zum Lachen vorhanden gewesen. Es gab nämlich unter
diesen ein steinaltes Ehepaar, welchem der Vater mit höchster Ehrfurcht be¬
gegnete. Beide erschienen trotz ihrer hohen Jahre noch merkwürdig rüstig, be¬
wegten sich rasch und unterhielten sich mit großer Lebhaftigkeit. Aber sie zeigten
sich uns in einer Tracht, die immer aufs neue unsre Lachlust reizte, weshalb
wir auf einen Wink des Vaters, der wohl selbst Mühe haben mochte, seinen
priesterlichen Ernst zu bewahren, deren Nähe zu meiden bedeutet wurden. Im
Nacken des kleinen und sehr hagern uralten Vetters zeigte sich nämlich über
demi steifen Rockkragen ein aufrechtstehendes, Spannenlanges Schwänzchen, einem
dicken Rattenschwänze nicht unähnlich. Daran war eine breite schwarze Schleife
befestigt, einem großen schwarzen Falter mit ausgespannten Flügeln vergleichbar.
Dies Zöpfchen nebst Hanrbeutel, von dem sich der gute Vetter durchaus nicht
trennen mochte, fuhr bei jeder Kopfbewegung hin und her, bald links, bald rechts,
flatterte jetzt hoch in die Luft oder verirrte sich als fortwährende Unruhe bis
an die Schulterblätter. Genug, es war überaus spaßig anzusehen, und wenn


Jugenderinnerungen.

Aufenthalts von ihm garnicht mehr gewünscht wurde. Er kannte buchstäblich
jeden einzelnen Einwohner der Stadt, wußte jeden Begegnenden mit Namen
zu nennen, ward von allen ehrerbietigst gegrüßt und fühlte sich in dieser Be¬
liebtheit bei der Bevölkerung, die er sich durch freundliches Wesen gewonnen hatte,
offenbar wohl. Nach Art der Kleinstädter war der Onkel ein regelmäßiger
Besucher des städtischen Kasinos, wo sämtliche „Honoratioren" allabendlich zu
bestimmter Stunde zusammentrafen. Da ward denn gewaltig geraucht, sehr
viel mittelmäßiges Bier vertilgt und nach Herzenslust gekannegießert. Natürlich
mußten auch wir Fremden, die einzigen in der ganzen Stadt, diese wichtige
Tafelrunde besuchen, um einen Begriff von der Herrlichkeit des gemütlichen
Landauer Lebens zu bekommen und Bekanntschaft mit den tonangebenden Häuptern
zu macheu. Der gute Onkel in seiner Seligkeit merkte nicht, daß der Vater,
der nie mit andern Menschen an öffentlichem Orte zusammenkam, sich schmäh¬
lich langweilte, während mein Bruder und ich es vorzogen, ohne Erlaubnis die
Straße aufzusuchen und uns ans eigne Faust zu vergnügen, so gut es gehen
wollte.

Besser gefiel es uns in den Häusern und Gärten verschiedner Verwandten,
die dem Kaufmannsstande angehörten und in großem Ansehen standen. Einer
derselben bekleidete auch ein städtisches Amt und bewohnte ein geräumiges Land¬
haus am Queis, in dessen großem, wohlerhaltenen Garten wir uns nach Herzens¬
lust herumtummeln konnten. Hier ward denn auch dem Vater zu Ehre» ein
Familienfest veranstaltet, bei welchem sämtliche Vettern und Muhmen in allen
Altersstufen sich zusammenfanden.

Das war nun ganz lustig und vergnüglich, denn auch wir Brüder wurden
von allen mit Liebe überschüttet und auf alle denkbare Weise gepflegt, ja ver¬
hätschelt, wäre mir in diesem Kreise wohlwollender Verwandten nicht zugleich
auch so viel Stoff zum Lachen vorhanden gewesen. Es gab nämlich unter
diesen ein steinaltes Ehepaar, welchem der Vater mit höchster Ehrfurcht be¬
gegnete. Beide erschienen trotz ihrer hohen Jahre noch merkwürdig rüstig, be¬
wegten sich rasch und unterhielten sich mit großer Lebhaftigkeit. Aber sie zeigten
sich uns in einer Tracht, die immer aufs neue unsre Lachlust reizte, weshalb
wir auf einen Wink des Vaters, der wohl selbst Mühe haben mochte, seinen
priesterlichen Ernst zu bewahren, deren Nähe zu meiden bedeutet wurden. Im
Nacken des kleinen und sehr hagern uralten Vetters zeigte sich nämlich über
demi steifen Rockkragen ein aufrechtstehendes, Spannenlanges Schwänzchen, einem
dicken Rattenschwänze nicht unähnlich. Daran war eine breite schwarze Schleife
befestigt, einem großen schwarzen Falter mit ausgespannten Flügeln vergleichbar.
Dies Zöpfchen nebst Hanrbeutel, von dem sich der gute Vetter durchaus nicht
trennen mochte, fuhr bei jeder Kopfbewegung hin und her, bald links, bald rechts,
flatterte jetzt hoch in die Luft oder verirrte sich als fortwährende Unruhe bis
an die Schulterblätter. Genug, es war überaus spaßig anzusehen, und wenn


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/660>, abgerufen am 23.12.2024.