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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Sind die deutschen Gewerkvereine politische vereine?

welche bezwecken, politische Gegenstände in Versammlungen zu erörtern, ist zur
Vermeidung der Schließung der Vereine und Bestrafung der Beteiligten die
Verbindung unter einander und die Zulassung von Frauen untersagt.

Um über die eigentliche Bedeutung und die praktische Tragweite dieser
Bestimmungen klar zu werden, bedarf es vornehmlich einer richtigen Erklärung
der beiden Begriffe "öffentliche Angelegenheiten" und "politische Gegenstände,"
wofür das Gesetz keine Definition giebt. Nach der einschlägigen Judikatur")
begreifen "öffentliche Angelegenheiten" nicht bloß die der Gesamtheit, sondern
anch engerer, politisch oder sozial begrenzter Kreise, selbst wenn sie zugleich
Privatinteressen mitberühren, d. h. alle über den Nechtskreis bestimmter (phy¬
sischer oder juristischer) Personen hinausgehende Verhältnisse, namentlich die
sozialen Interessen, sowohl der Gesamtheit als einzelner Berufsstände, wie
z. B. die sittliche und materielle Hebung des Arbeiterstandes (sei es insgesamt
oder in einzelnen Gewerben) gegenüber den andern Ständen. "Politische Gegen¬
stände" dagegen begreifen alle den Staat als Inbegriff der Gesamtheit in seinen
innern und äußern Beziehungen berührende Interessen, insbesondre die sozialen
Fragen, sofern sie zum Staate in praktische Beziehung treten (also z. B. eine
Änderung der bestehenden Staatseinrichtungen oder Gesetze bezwecken oder vor¬
aussetzen), d. h. alle sozialpolitischen Fragen.

Hiernach ergiebt sich, daß zwar alle politischen Angelegenheiten zugleich
öffentliche sind, aber nicht alle öffentlichen politische. Es wird daher genügen,
den politischen Charakter der Gewerkvereine nachzuweisen, um ihre Unterwerfung
unter das Vereinsgesetz nach beiden Richtungen hin als rechtlich begründet zu
erachten. Dieser Nachweis soll aus den Statuten und dem thatsächlichen Ver¬
halten der gedachten Vereine geführt werden.

Indem wir uns betreffs der allgemeine" Entwicklungsgeschichte der deutscheu
Gewerkvereine auf unsern Artikel "Die moderne Arbeiterbewegung" in Ur. 41
und 42 des vorigen Jahrgangs dieser Zeitschrift beziehen, mögen zum bessern
Verständnis des Folgenden vorweg noch einige Bemerkungen über die Organi¬
sation der Gewerkvereine gestattet sein, wie sich dieselbe nach dem Generalstatut
d. h. dem Statut des "Verbandes der deutschen Gewerkvereine," und den soge¬
nannten Berliner Musterstatuten, d. h. den für die einzelnen Gewerkvereine
maßgebenden Statuten, darstellt. Darnach baut sich die gesamte Organisation
von unten her in der Weise auf, daß die Genossen desselben Berufs an jedem
Platze zu "Ortsvereinen" zusammentreten, alle Ortsvereine desselben Berufs
sich zu dem über ganz Deutschland reichenden "Gewerkverein" zusammenschließen,
und endlich sämtliche Gewerkvereine zusammen den "Verband der deutscheu
Gewerkvereine" bilden. Die innere Organisation gestaltet sich im allgemeinen
dahin, daß die Mitglieder- oder Abgeordnetenversammlungen (Ortsversammlung,



") Vergl. Llsco, Die deutschen Vcrcinsgcsche (Berlin).
Sind die deutschen Gewerkvereine politische vereine?

welche bezwecken, politische Gegenstände in Versammlungen zu erörtern, ist zur
Vermeidung der Schließung der Vereine und Bestrafung der Beteiligten die
Verbindung unter einander und die Zulassung von Frauen untersagt.

Um über die eigentliche Bedeutung und die praktische Tragweite dieser
Bestimmungen klar zu werden, bedarf es vornehmlich einer richtigen Erklärung
der beiden Begriffe „öffentliche Angelegenheiten" und „politische Gegenstände,"
wofür das Gesetz keine Definition giebt. Nach der einschlägigen Judikatur")
begreifen „öffentliche Angelegenheiten" nicht bloß die der Gesamtheit, sondern
anch engerer, politisch oder sozial begrenzter Kreise, selbst wenn sie zugleich
Privatinteressen mitberühren, d. h. alle über den Nechtskreis bestimmter (phy¬
sischer oder juristischer) Personen hinausgehende Verhältnisse, namentlich die
sozialen Interessen, sowohl der Gesamtheit als einzelner Berufsstände, wie
z. B. die sittliche und materielle Hebung des Arbeiterstandes (sei es insgesamt
oder in einzelnen Gewerben) gegenüber den andern Ständen. „Politische Gegen¬
stände" dagegen begreifen alle den Staat als Inbegriff der Gesamtheit in seinen
innern und äußern Beziehungen berührende Interessen, insbesondre die sozialen
Fragen, sofern sie zum Staate in praktische Beziehung treten (also z. B. eine
Änderung der bestehenden Staatseinrichtungen oder Gesetze bezwecken oder vor¬
aussetzen), d. h. alle sozialpolitischen Fragen.

Hiernach ergiebt sich, daß zwar alle politischen Angelegenheiten zugleich
öffentliche sind, aber nicht alle öffentlichen politische. Es wird daher genügen,
den politischen Charakter der Gewerkvereine nachzuweisen, um ihre Unterwerfung
unter das Vereinsgesetz nach beiden Richtungen hin als rechtlich begründet zu
erachten. Dieser Nachweis soll aus den Statuten und dem thatsächlichen Ver¬
halten der gedachten Vereine geführt werden.

Indem wir uns betreffs der allgemeine» Entwicklungsgeschichte der deutscheu
Gewerkvereine auf unsern Artikel „Die moderne Arbeiterbewegung" in Ur. 41
und 42 des vorigen Jahrgangs dieser Zeitschrift beziehen, mögen zum bessern
Verständnis des Folgenden vorweg noch einige Bemerkungen über die Organi¬
sation der Gewerkvereine gestattet sein, wie sich dieselbe nach dem Generalstatut
d. h. dem Statut des „Verbandes der deutschen Gewerkvereine," und den soge¬
nannten Berliner Musterstatuten, d. h. den für die einzelnen Gewerkvereine
maßgebenden Statuten, darstellt. Darnach baut sich die gesamte Organisation
von unten her in der Weise auf, daß die Genossen desselben Berufs an jedem
Platze zu „Ortsvereinen" zusammentreten, alle Ortsvereine desselben Berufs
sich zu dem über ganz Deutschland reichenden „Gewerkverein" zusammenschließen,
und endlich sämtliche Gewerkvereine zusammen den „Verband der deutscheu
Gewerkvereine" bilden. Die innere Organisation gestaltet sich im allgemeinen
dahin, daß die Mitglieder- oder Abgeordnetenversammlungen (Ortsversammlung,



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[0064] Sind die deutschen Gewerkvereine politische vereine? welche bezwecken, politische Gegenstände in Versammlungen zu erörtern, ist zur Vermeidung der Schließung der Vereine und Bestrafung der Beteiligten die Verbindung unter einander und die Zulassung von Frauen untersagt. Um über die eigentliche Bedeutung und die praktische Tragweite dieser Bestimmungen klar zu werden, bedarf es vornehmlich einer richtigen Erklärung der beiden Begriffe „öffentliche Angelegenheiten" und „politische Gegenstände," wofür das Gesetz keine Definition giebt. Nach der einschlägigen Judikatur") begreifen „öffentliche Angelegenheiten" nicht bloß die der Gesamtheit, sondern anch engerer, politisch oder sozial begrenzter Kreise, selbst wenn sie zugleich Privatinteressen mitberühren, d. h. alle über den Nechtskreis bestimmter (phy¬ sischer oder juristischer) Personen hinausgehende Verhältnisse, namentlich die sozialen Interessen, sowohl der Gesamtheit als einzelner Berufsstände, wie z. B. die sittliche und materielle Hebung des Arbeiterstandes (sei es insgesamt oder in einzelnen Gewerben) gegenüber den andern Ständen. „Politische Gegen¬ stände" dagegen begreifen alle den Staat als Inbegriff der Gesamtheit in seinen innern und äußern Beziehungen berührende Interessen, insbesondre die sozialen Fragen, sofern sie zum Staate in praktische Beziehung treten (also z. B. eine Änderung der bestehenden Staatseinrichtungen oder Gesetze bezwecken oder vor¬ aussetzen), d. h. alle sozialpolitischen Fragen. Hiernach ergiebt sich, daß zwar alle politischen Angelegenheiten zugleich öffentliche sind, aber nicht alle öffentlichen politische. Es wird daher genügen, den politischen Charakter der Gewerkvereine nachzuweisen, um ihre Unterwerfung unter das Vereinsgesetz nach beiden Richtungen hin als rechtlich begründet zu erachten. Dieser Nachweis soll aus den Statuten und dem thatsächlichen Ver¬ halten der gedachten Vereine geführt werden. Indem wir uns betreffs der allgemeine» Entwicklungsgeschichte der deutscheu Gewerkvereine auf unsern Artikel „Die moderne Arbeiterbewegung" in Ur. 41 und 42 des vorigen Jahrgangs dieser Zeitschrift beziehen, mögen zum bessern Verständnis des Folgenden vorweg noch einige Bemerkungen über die Organi¬ sation der Gewerkvereine gestattet sein, wie sich dieselbe nach dem Generalstatut d. h. dem Statut des „Verbandes der deutschen Gewerkvereine," und den soge¬ nannten Berliner Musterstatuten, d. h. den für die einzelnen Gewerkvereine maßgebenden Statuten, darstellt. Darnach baut sich die gesamte Organisation von unten her in der Weise auf, daß die Genossen desselben Berufs an jedem Platze zu „Ortsvereinen" zusammentreten, alle Ortsvereine desselben Berufs sich zu dem über ganz Deutschland reichenden „Gewerkverein" zusammenschließen, und endlich sämtliche Gewerkvereine zusammen den „Verband der deutscheu Gewerkvereine" bilden. Die innere Organisation gestaltet sich im allgemeinen dahin, daß die Mitglieder- oder Abgeordnetenversammlungen (Ortsversammlung, ») Vergl. Llsco, Die deutschen Vcrcinsgcsche (Berlin).

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/64>, abgerufen am 23.12.2024.