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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Die englische Ministerkrisis.

dagegen, der neulich in Dartford sagte, das Ministerium: könne sich für seine
Aufgaben in Irland und auswärts die Unterstützung der öffentlichen Meinung
nur durch "Einführung offenkundig demokratischer Maßregeln" gewinnen, trat
für einen noch unter Gladstone von den Demokraten Dilke und Chcunberlain
ausgearbeiteten Gesetzentwurf ein, nach welchem die Verwaltungsbehörden lediglich
von den steuernden gewählt werden sollen. Er mag damit richtig gesehen
haben; denn Englands öffentliche Meinung ist in deu letzten Jahrzehnten ent¬
schieden demokratischer geworden, und ein Ministerium, das sich halten will, hat
darauf Rücksicht zu nehmen. Die konservative Partei besteht nicht mehr aus
Landedelleuten, sie stützt sich zum guten Teil auf die städtische Demokratie und
auf die Möglichkeit, auch die ländliche zu gewinnen, und wenn Lord Scilisbury
den Mißgriff begehen wollte, einen Gesetzentwurf einzubringen, der weniger
liberal wäre als die seiner Vorgänger im Amte, so wäre sein und seiner Kollegen
Schicksal entschieden. Das ist nicht erfreulich, aber Thatsache. Ein konservatives
Ministerium in England, welches am Nuder zu bleiben wünscht, muß sich zu
Zugeständnissen an den von Amerika herübergewehten demokratischen Geist ent¬
schließen. Bereits scheint Chcimberlain, der Vertreter dieses Geistes, Churchills
Rücktritt als "Zeichen zu betrachten, daß die alten Torb-Einflüsse im Kabinet
die Oberhand gewonnen haben, und daß man einer Tory-Regierung Auge in
Auge gegenüber stehen werde, deren Vorschläge kein gesinnungstüchtiger Liberaler
unterstützen kann," woran er die Andeutung knüpfte, man werde sich dann
wieder Gladstone zuwenden müssen.

Außer den genannten beiden Punkten hat ohne Zweifel auch Churchills
Stellung zur irischen Frage zu seinem Rücktritte beigetragen. Er hatte sich
mit den Jsländern mehr eingelassen, als es den Gegnern des Homerule ge¬
fallen und passen konnte, und wenn das Kabinet sich jetzt mit der Absicht trug,
den "Feldzugsplan" der Parnellitcn mit Gewaltmaßregeln zu vereiteln, so hat
es damit sicherlich beim Exschatzkanzlcr lebhaften Widerspruch hervorgerufen.
Nicht wahrscheinlich dagegen ist die Vermutung, daß auch Meinungsverschieden¬
heiten hinsichtlich der auswärtigen Politik den letztern zur Fahnenflucht
bewogen haben könnten. Vielmehr dürfen wir annehmen, daß die Meinung,
die trotz aller kriegerischen Gesichter, welche gelegentlich von den offiziösen
Blättern in London gemacht werden, in allen Schichten der englischen Be¬
völkerung weitaus vorherrscht, sowohl von Salisbury als von Churchill geteilt
wird. Diese Meinung aber lautet kurz gefaßt folgendermaßen: Es ist die
Pflicht und das Interesse Englands, die bulgarische Frage so lange unangetastet
zu lassen, bis Österreich und Deutschland Farbe bekannt haben. Wir dürfen
nicht znerst, auch nicht an zweiter Stelle ausspielen und nur äußerstenfalles
an dritter. Geht ihr voran, ihr auf dem Festlande, und siegt für uns, oder
laßt euch schlagen statt unser. In beiden Fällen werden Handel und Industrie
bei uns insofern profitiren, als sie bei euch stocken und leiden.


Die englische Ministerkrisis.

dagegen, der neulich in Dartford sagte, das Ministerium: könne sich für seine
Aufgaben in Irland und auswärts die Unterstützung der öffentlichen Meinung
nur durch „Einführung offenkundig demokratischer Maßregeln" gewinnen, trat
für einen noch unter Gladstone von den Demokraten Dilke und Chcunberlain
ausgearbeiteten Gesetzentwurf ein, nach welchem die Verwaltungsbehörden lediglich
von den steuernden gewählt werden sollen. Er mag damit richtig gesehen
haben; denn Englands öffentliche Meinung ist in deu letzten Jahrzehnten ent¬
schieden demokratischer geworden, und ein Ministerium, das sich halten will, hat
darauf Rücksicht zu nehmen. Die konservative Partei besteht nicht mehr aus
Landedelleuten, sie stützt sich zum guten Teil auf die städtische Demokratie und
auf die Möglichkeit, auch die ländliche zu gewinnen, und wenn Lord Scilisbury
den Mißgriff begehen wollte, einen Gesetzentwurf einzubringen, der weniger
liberal wäre als die seiner Vorgänger im Amte, so wäre sein und seiner Kollegen
Schicksal entschieden. Das ist nicht erfreulich, aber Thatsache. Ein konservatives
Ministerium in England, welches am Nuder zu bleiben wünscht, muß sich zu
Zugeständnissen an den von Amerika herübergewehten demokratischen Geist ent¬
schließen. Bereits scheint Chcimberlain, der Vertreter dieses Geistes, Churchills
Rücktritt als „Zeichen zu betrachten, daß die alten Torb-Einflüsse im Kabinet
die Oberhand gewonnen haben, und daß man einer Tory-Regierung Auge in
Auge gegenüber stehen werde, deren Vorschläge kein gesinnungstüchtiger Liberaler
unterstützen kann," woran er die Andeutung knüpfte, man werde sich dann
wieder Gladstone zuwenden müssen.

Außer den genannten beiden Punkten hat ohne Zweifel auch Churchills
Stellung zur irischen Frage zu seinem Rücktritte beigetragen. Er hatte sich
mit den Jsländern mehr eingelassen, als es den Gegnern des Homerule ge¬
fallen und passen konnte, und wenn das Kabinet sich jetzt mit der Absicht trug,
den „Feldzugsplan" der Parnellitcn mit Gewaltmaßregeln zu vereiteln, so hat
es damit sicherlich beim Exschatzkanzlcr lebhaften Widerspruch hervorgerufen.
Nicht wahrscheinlich dagegen ist die Vermutung, daß auch Meinungsverschieden¬
heiten hinsichtlich der auswärtigen Politik den letztern zur Fahnenflucht
bewogen haben könnten. Vielmehr dürfen wir annehmen, daß die Meinung,
die trotz aller kriegerischen Gesichter, welche gelegentlich von den offiziösen
Blättern in London gemacht werden, in allen Schichten der englischen Be¬
völkerung weitaus vorherrscht, sowohl von Salisbury als von Churchill geteilt
wird. Diese Meinung aber lautet kurz gefaßt folgendermaßen: Es ist die
Pflicht und das Interesse Englands, die bulgarische Frage so lange unangetastet
zu lassen, bis Österreich und Deutschland Farbe bekannt haben. Wir dürfen
nicht znerst, auch nicht an zweiter Stelle ausspielen und nur äußerstenfalles
an dritter. Geht ihr voran, ihr auf dem Festlande, und siegt für uns, oder
laßt euch schlagen statt unser. In beiden Fällen werden Handel und Industrie
bei uns insofern profitiren, als sie bei euch stocken und leiden.


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[0059] Die englische Ministerkrisis. dagegen, der neulich in Dartford sagte, das Ministerium: könne sich für seine Aufgaben in Irland und auswärts die Unterstützung der öffentlichen Meinung nur durch „Einführung offenkundig demokratischer Maßregeln" gewinnen, trat für einen noch unter Gladstone von den Demokraten Dilke und Chcunberlain ausgearbeiteten Gesetzentwurf ein, nach welchem die Verwaltungsbehörden lediglich von den steuernden gewählt werden sollen. Er mag damit richtig gesehen haben; denn Englands öffentliche Meinung ist in deu letzten Jahrzehnten ent¬ schieden demokratischer geworden, und ein Ministerium, das sich halten will, hat darauf Rücksicht zu nehmen. Die konservative Partei besteht nicht mehr aus Landedelleuten, sie stützt sich zum guten Teil auf die städtische Demokratie und auf die Möglichkeit, auch die ländliche zu gewinnen, und wenn Lord Scilisbury den Mißgriff begehen wollte, einen Gesetzentwurf einzubringen, der weniger liberal wäre als die seiner Vorgänger im Amte, so wäre sein und seiner Kollegen Schicksal entschieden. Das ist nicht erfreulich, aber Thatsache. Ein konservatives Ministerium in England, welches am Nuder zu bleiben wünscht, muß sich zu Zugeständnissen an den von Amerika herübergewehten demokratischen Geist ent¬ schließen. Bereits scheint Chcimberlain, der Vertreter dieses Geistes, Churchills Rücktritt als „Zeichen zu betrachten, daß die alten Torb-Einflüsse im Kabinet die Oberhand gewonnen haben, und daß man einer Tory-Regierung Auge in Auge gegenüber stehen werde, deren Vorschläge kein gesinnungstüchtiger Liberaler unterstützen kann," woran er die Andeutung knüpfte, man werde sich dann wieder Gladstone zuwenden müssen. Außer den genannten beiden Punkten hat ohne Zweifel auch Churchills Stellung zur irischen Frage zu seinem Rücktritte beigetragen. Er hatte sich mit den Jsländern mehr eingelassen, als es den Gegnern des Homerule ge¬ fallen und passen konnte, und wenn das Kabinet sich jetzt mit der Absicht trug, den „Feldzugsplan" der Parnellitcn mit Gewaltmaßregeln zu vereiteln, so hat es damit sicherlich beim Exschatzkanzlcr lebhaften Widerspruch hervorgerufen. Nicht wahrscheinlich dagegen ist die Vermutung, daß auch Meinungsverschieden¬ heiten hinsichtlich der auswärtigen Politik den letztern zur Fahnenflucht bewogen haben könnten. Vielmehr dürfen wir annehmen, daß die Meinung, die trotz aller kriegerischen Gesichter, welche gelegentlich von den offiziösen Blättern in London gemacht werden, in allen Schichten der englischen Be¬ völkerung weitaus vorherrscht, sowohl von Salisbury als von Churchill geteilt wird. Diese Meinung aber lautet kurz gefaßt folgendermaßen: Es ist die Pflicht und das Interesse Englands, die bulgarische Frage so lange unangetastet zu lassen, bis Österreich und Deutschland Farbe bekannt haben. Wir dürfen nicht znerst, auch nicht an zweiter Stelle ausspielen und nur äußerstenfalles an dritter. Geht ihr voran, ihr auf dem Festlande, und siegt für uns, oder laßt euch schlagen statt unser. In beiden Fällen werden Handel und Industrie bei uns insofern profitiren, als sie bei euch stocken und leiden.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/59>, abgerufen am 01.10.2024.