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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Toynbee-Hall.

Is-v Airg-rälans. Sollte die Gesellschaft mit weitern Gründungen vorgehen und
es ihr dadurch gelingen, wie in White-Chapel auch in andern vernachlässigten
Bezirken der großen Städte gebildete Elemente anzusiedeln, so würde sie rühmlich
dazu beitragen, die altgeschichtliche Bedeutung des Ehrenamtes und der Selbst¬
verwaltung in England zu retten.




Wir haben das University-Extension-Movement kennen gelernt, aus ihm
die IIvivErsit^ ssttlorQövt - Ässoeig-lion hervorgehen sehen, die von diesem
Verein gegründete Anstalt besucht und die Residenten von Toyubee-Hall hinaus
zu ihren Nachbarn begleitet. Auf unsern Wegen hat uns etwas von dem
frischen, reformatorischen Hauche angeweht, der sich auf den englischen Univer¬
sitäten zu regen anfängt. Es waren eigentümliche Erscheinungen, denen wir
begegnet sind; aber sie waren doch ganz und gar aus dem englischen Volksleben
hervorgewachsen. Um in ihnen Äußerungen einer weit allgemeineren Zeitrichtung
überhaupt zu erkennen, genügt folgende Betrachtung.

In den ersten Jahrzehnten unsers Jahrhunderts, zu einer Zeit, als ander¬
wärts von einer sozialen Frage noch nicht die Rede sein konnte, waren die
Verhältnisse der industriellen Arbeiterklassen in England bereits so schlecht als
möglich. Denken wir an die Schilderungen, wie sie Dickens in seinem L1"z-cklloo.8<z
und seinem Harä tirnss entwirft. Nachdem sich jedoch die öffentliche Meinung
mit diesen Mißständen zu beschäftigen angefangen hatte, entstand im Laufe der
Zeit ein großartiges System der Neformgesetzgebnng. Die Anregung, welche
die konservative Partei und ihre großen Staatsmänner gegeben hatten, wurde
von allgemeinem, fast begeistertem Beifall der Nation begrüßt. Wir nennen
die Reform der Armengesetzgebung, die weitverzweigte Fabrik-, Gesuudheits- und
Schulgesetzgebung, endlich auch die Landgesetzgebuug, deren Anfänge unsrer Zeit
angehören.

Ähnlich war die Entwicklung in Deutschland. Später freilich, eigentlich
erst mit dem Aufschwünge, den unser Leben seit der Gründung des Gesamt¬
staates genommen hat, zeigten sich Anzeigen krankhafter Zustünde in unserm
Volkskörper: Ereignisse, die uns vielfach die Schatten künftiger, größerer Ge¬
fahren zu sein schienen. Da haben auch wir unverzagt und unter starker
Führung das Gebiet der Neformgesetzgebnng betreten. Ein großes Stück Weges
ist heute bereits zurückgelegt, wenn uns auch die Lösung schwierigerer Aufgaben
noch bevorsteht.

In solchen Zeiten, die fast unabsehbare Gebiete der Gesetzgebung aufthun,
liegt eine Überschätzung derselben nahe. Selbst in England, der Heimat des
Individualismus, wo die Lehren von Smith und Ricardo dem Volke wirklich
zu Fleisch und Blut geworden sind, haben solche Regungen nicht gefehlt. Auch
dort hat es Stimmungen gegeben, in denen gerade Männer, welche die Ans-


Toynbee-Hall.

Is-v Airg-rälans. Sollte die Gesellschaft mit weitern Gründungen vorgehen und
es ihr dadurch gelingen, wie in White-Chapel auch in andern vernachlässigten
Bezirken der großen Städte gebildete Elemente anzusiedeln, so würde sie rühmlich
dazu beitragen, die altgeschichtliche Bedeutung des Ehrenamtes und der Selbst¬
verwaltung in England zu retten.




Wir haben das University-Extension-Movement kennen gelernt, aus ihm
die IIvivErsit^ ssttlorQövt - Ässoeig-lion hervorgehen sehen, die von diesem
Verein gegründete Anstalt besucht und die Residenten von Toyubee-Hall hinaus
zu ihren Nachbarn begleitet. Auf unsern Wegen hat uns etwas von dem
frischen, reformatorischen Hauche angeweht, der sich auf den englischen Univer¬
sitäten zu regen anfängt. Es waren eigentümliche Erscheinungen, denen wir
begegnet sind; aber sie waren doch ganz und gar aus dem englischen Volksleben
hervorgewachsen. Um in ihnen Äußerungen einer weit allgemeineren Zeitrichtung
überhaupt zu erkennen, genügt folgende Betrachtung.

In den ersten Jahrzehnten unsers Jahrhunderts, zu einer Zeit, als ander¬
wärts von einer sozialen Frage noch nicht die Rede sein konnte, waren die
Verhältnisse der industriellen Arbeiterklassen in England bereits so schlecht als
möglich. Denken wir an die Schilderungen, wie sie Dickens in seinem L1«z-cklloo.8<z
und seinem Harä tirnss entwirft. Nachdem sich jedoch die öffentliche Meinung
mit diesen Mißständen zu beschäftigen angefangen hatte, entstand im Laufe der
Zeit ein großartiges System der Neformgesetzgebnng. Die Anregung, welche
die konservative Partei und ihre großen Staatsmänner gegeben hatten, wurde
von allgemeinem, fast begeistertem Beifall der Nation begrüßt. Wir nennen
die Reform der Armengesetzgebung, die weitverzweigte Fabrik-, Gesuudheits- und
Schulgesetzgebung, endlich auch die Landgesetzgebuug, deren Anfänge unsrer Zeit
angehören.

Ähnlich war die Entwicklung in Deutschland. Später freilich, eigentlich
erst mit dem Aufschwünge, den unser Leben seit der Gründung des Gesamt¬
staates genommen hat, zeigten sich Anzeigen krankhafter Zustünde in unserm
Volkskörper: Ereignisse, die uns vielfach die Schatten künftiger, größerer Ge¬
fahren zu sein schienen. Da haben auch wir unverzagt und unter starker
Führung das Gebiet der Neformgesetzgebnng betreten. Ein großes Stück Weges
ist heute bereits zurückgelegt, wenn uns auch die Lösung schwierigerer Aufgaben
noch bevorsteht.

In solchen Zeiten, die fast unabsehbare Gebiete der Gesetzgebung aufthun,
liegt eine Überschätzung derselben nahe. Selbst in England, der Heimat des
Individualismus, wo die Lehren von Smith und Ricardo dem Volke wirklich
zu Fleisch und Blut geworden sind, haben solche Regungen nicht gefehlt. Auch
dort hat es Stimmungen gegeben, in denen gerade Männer, welche die Ans-


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[0588] Toynbee-Hall. Is-v Airg-rälans. Sollte die Gesellschaft mit weitern Gründungen vorgehen und es ihr dadurch gelingen, wie in White-Chapel auch in andern vernachlässigten Bezirken der großen Städte gebildete Elemente anzusiedeln, so würde sie rühmlich dazu beitragen, die altgeschichtliche Bedeutung des Ehrenamtes und der Selbst¬ verwaltung in England zu retten. Wir haben das University-Extension-Movement kennen gelernt, aus ihm die IIvivErsit^ ssttlorQövt - Ässoeig-lion hervorgehen sehen, die von diesem Verein gegründete Anstalt besucht und die Residenten von Toyubee-Hall hinaus zu ihren Nachbarn begleitet. Auf unsern Wegen hat uns etwas von dem frischen, reformatorischen Hauche angeweht, der sich auf den englischen Univer¬ sitäten zu regen anfängt. Es waren eigentümliche Erscheinungen, denen wir begegnet sind; aber sie waren doch ganz und gar aus dem englischen Volksleben hervorgewachsen. Um in ihnen Äußerungen einer weit allgemeineren Zeitrichtung überhaupt zu erkennen, genügt folgende Betrachtung. In den ersten Jahrzehnten unsers Jahrhunderts, zu einer Zeit, als ander¬ wärts von einer sozialen Frage noch nicht die Rede sein konnte, waren die Verhältnisse der industriellen Arbeiterklassen in England bereits so schlecht als möglich. Denken wir an die Schilderungen, wie sie Dickens in seinem L1«z-cklloo.8<z und seinem Harä tirnss entwirft. Nachdem sich jedoch die öffentliche Meinung mit diesen Mißständen zu beschäftigen angefangen hatte, entstand im Laufe der Zeit ein großartiges System der Neformgesetzgebnng. Die Anregung, welche die konservative Partei und ihre großen Staatsmänner gegeben hatten, wurde von allgemeinem, fast begeistertem Beifall der Nation begrüßt. Wir nennen die Reform der Armengesetzgebung, die weitverzweigte Fabrik-, Gesuudheits- und Schulgesetzgebung, endlich auch die Landgesetzgebuug, deren Anfänge unsrer Zeit angehören. Ähnlich war die Entwicklung in Deutschland. Später freilich, eigentlich erst mit dem Aufschwünge, den unser Leben seit der Gründung des Gesamt¬ staates genommen hat, zeigten sich Anzeigen krankhafter Zustünde in unserm Volkskörper: Ereignisse, die uns vielfach die Schatten künftiger, größerer Ge¬ fahren zu sein schienen. Da haben auch wir unverzagt und unter starker Führung das Gebiet der Neformgesetzgebnng betreten. Ein großes Stück Weges ist heute bereits zurückgelegt, wenn uns auch die Lösung schwierigerer Aufgaben noch bevorsteht. In solchen Zeiten, die fast unabsehbare Gebiete der Gesetzgebung aufthun, liegt eine Überschätzung derselben nahe. Selbst in England, der Heimat des Individualismus, wo die Lehren von Smith und Ricardo dem Volke wirklich zu Fleisch und Blut geworden sind, haben solche Regungen nicht gefehlt. Auch dort hat es Stimmungen gegeben, in denen gerade Männer, welche die Ans-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/588>, abgerufen am 27.08.2024.