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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Die Lage der Landwirtschaft in Gberitalien und die Bauern-Streiks ^38^-^335.

ernte die Hälfte für sich. Vergleicht man endlich die Lohntabellen der letzten
vierzig Jahre, so zeigt sich, daß die Lohnsätze für Männer seit 1847 im ge¬
ringsten Satz von 0,85 auf 1,12 Lira, im höchsten Satze von 1 auf 1,35 Lira
gestiegen sind; für Frauen von 0,47 auf 0,60 bezw. von 0,62 auf 0,87 Lira.

Man kann also nicht behaupten, daß der Bauer Oberitaliens, abgesehen
davon, daß er nur selten eigen Gut besitzt, schlechter gestellt wäre als der Bauer
irgend eines andern europäischen Landes; im Gegenteil. Woher kommt es nun,
daß weder in Deutschland noch in Österreich, weder in Belgien noch in Frank¬
reich, wo Arbeitseinstellungen doch zu den täglichen Dingen gehören, jemals
Streiks unter den bäuerlichen Arbeitern vorgekommen sind, daß die Zeitigung
dieser Besonderheit den ackerbautreibenden oberitalienischen Provinzen vorbehalten
blieb, wo ausgedehnte Bauern-Streiks mit stark sozialistischen, ja selbst anar¬
chischen Charakter seit dem Jahre 1384 auf der Tagesordnung stehen?

Wie Professor Bertciguolli in einer sehr lesenswerten Studie mitteilt, zer¬
fallen die Ursachen dieser Erscheinung in mittelbare und unmittelbare. Als
mittelbare bezeichnet der Verfasser: den andauernden Arbeitsmangel ans dem
Platten Lande, herbeigeführt durch Übervölkerung, durch Übergang ausgedehnter
Landstriche vom Körnerbau zur Weide- und Viehwirtschaft und endlich durch
Beendigung langjähriger Bonifikationsarbeitcn, welche zahlreichen Arbeitern und
Bauern, namentlich im Winter, Beschäftigung gaben. Als unmittelbare Ursachen
stellt er hin: 1. verheerende Überschwemmungen der Poebene, welche zahlreiche
Bauern brotlos machte, und 2. die von außen her in die Kreise der Land¬
bevölkerung künstlich hineingetragene, durch Abgesandte von Umsturzparteien
unterhaltene Agitation, welche es zuwege gebracht hat, daß eine bis dahin
friedliche, konservative, ihren Grundherren ergebene und mit ihrem Lose nicht
hadernde Bevölkerungsklasse Haus und Hof, Ernte und Vieh aufs Spiel setzte,
um einen freiwillig eingegangenen Vertrag unter Begehung von allerlei Gewalt¬
thätigkeiten zu brechen, lediglich auf das Anstiften fremder, ihrem Interessen-
kreise fernstehender Menschen hin.

Die von den Bauernbewegungen der Jahre 1884 und 1885 heimgesuchten
Gegenden fallen mit den Provinzen Mailand, Cremona, Parma, Modena,
Mantua, Padua, Rovigo, Verona und Reggio-Emilia zusammen, kurz mit
der Lombardei, Venetien und der Romagna. Aber während es sich in den
Provinzen Cremona, Parma, Modena, Padua, Verona und Reggio mehr
um Zusammenrottung Arbeitsuchender handelte, gingen die ländlichen Ar¬
beiter und Kolonen der Provinzen Mailand, Mantua und Rovigo zu regel¬
rechten Massenstreiks, Rohheiten und Gewaltthätigkeiten über, gegen welche die
bewaffnete Macht einschreiten mußte.

Was zunächst die Provinz Rovigo betrifft, so hatte hier eine in dem Orte
Adria bestehende Umsturzgesellschaft die Landleute seit längerer Zeit bearbeitet
und ihnen sogar eingeredet, daß die Regierung eine Bewegung zur Verbesserung


Die Lage der Landwirtschaft in Gberitalien und die Bauern-Streiks ^38^-^335.

ernte die Hälfte für sich. Vergleicht man endlich die Lohntabellen der letzten
vierzig Jahre, so zeigt sich, daß die Lohnsätze für Männer seit 1847 im ge¬
ringsten Satz von 0,85 auf 1,12 Lira, im höchsten Satze von 1 auf 1,35 Lira
gestiegen sind; für Frauen von 0,47 auf 0,60 bezw. von 0,62 auf 0,87 Lira.

Man kann also nicht behaupten, daß der Bauer Oberitaliens, abgesehen
davon, daß er nur selten eigen Gut besitzt, schlechter gestellt wäre als der Bauer
irgend eines andern europäischen Landes; im Gegenteil. Woher kommt es nun,
daß weder in Deutschland noch in Österreich, weder in Belgien noch in Frank¬
reich, wo Arbeitseinstellungen doch zu den täglichen Dingen gehören, jemals
Streiks unter den bäuerlichen Arbeitern vorgekommen sind, daß die Zeitigung
dieser Besonderheit den ackerbautreibenden oberitalienischen Provinzen vorbehalten
blieb, wo ausgedehnte Bauern-Streiks mit stark sozialistischen, ja selbst anar¬
chischen Charakter seit dem Jahre 1384 auf der Tagesordnung stehen?

Wie Professor Bertciguolli in einer sehr lesenswerten Studie mitteilt, zer¬
fallen die Ursachen dieser Erscheinung in mittelbare und unmittelbare. Als
mittelbare bezeichnet der Verfasser: den andauernden Arbeitsmangel ans dem
Platten Lande, herbeigeführt durch Übervölkerung, durch Übergang ausgedehnter
Landstriche vom Körnerbau zur Weide- und Viehwirtschaft und endlich durch
Beendigung langjähriger Bonifikationsarbeitcn, welche zahlreichen Arbeitern und
Bauern, namentlich im Winter, Beschäftigung gaben. Als unmittelbare Ursachen
stellt er hin: 1. verheerende Überschwemmungen der Poebene, welche zahlreiche
Bauern brotlos machte, und 2. die von außen her in die Kreise der Land¬
bevölkerung künstlich hineingetragene, durch Abgesandte von Umsturzparteien
unterhaltene Agitation, welche es zuwege gebracht hat, daß eine bis dahin
friedliche, konservative, ihren Grundherren ergebene und mit ihrem Lose nicht
hadernde Bevölkerungsklasse Haus und Hof, Ernte und Vieh aufs Spiel setzte,
um einen freiwillig eingegangenen Vertrag unter Begehung von allerlei Gewalt¬
thätigkeiten zu brechen, lediglich auf das Anstiften fremder, ihrem Interessen-
kreise fernstehender Menschen hin.

Die von den Bauernbewegungen der Jahre 1884 und 1885 heimgesuchten
Gegenden fallen mit den Provinzen Mailand, Cremona, Parma, Modena,
Mantua, Padua, Rovigo, Verona und Reggio-Emilia zusammen, kurz mit
der Lombardei, Venetien und der Romagna. Aber während es sich in den
Provinzen Cremona, Parma, Modena, Padua, Verona und Reggio mehr
um Zusammenrottung Arbeitsuchender handelte, gingen die ländlichen Ar¬
beiter und Kolonen der Provinzen Mailand, Mantua und Rovigo zu regel¬
rechten Massenstreiks, Rohheiten und Gewaltthätigkeiten über, gegen welche die
bewaffnete Macht einschreiten mußte.

Was zunächst die Provinz Rovigo betrifft, so hatte hier eine in dem Orte
Adria bestehende Umsturzgesellschaft die Landleute seit längerer Zeit bearbeitet
und ihnen sogar eingeredet, daß die Regierung eine Bewegung zur Verbesserung


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[0579] Die Lage der Landwirtschaft in Gberitalien und die Bauern-Streiks ^38^-^335. ernte die Hälfte für sich. Vergleicht man endlich die Lohntabellen der letzten vierzig Jahre, so zeigt sich, daß die Lohnsätze für Männer seit 1847 im ge¬ ringsten Satz von 0,85 auf 1,12 Lira, im höchsten Satze von 1 auf 1,35 Lira gestiegen sind; für Frauen von 0,47 auf 0,60 bezw. von 0,62 auf 0,87 Lira. Man kann also nicht behaupten, daß der Bauer Oberitaliens, abgesehen davon, daß er nur selten eigen Gut besitzt, schlechter gestellt wäre als der Bauer irgend eines andern europäischen Landes; im Gegenteil. Woher kommt es nun, daß weder in Deutschland noch in Österreich, weder in Belgien noch in Frank¬ reich, wo Arbeitseinstellungen doch zu den täglichen Dingen gehören, jemals Streiks unter den bäuerlichen Arbeitern vorgekommen sind, daß die Zeitigung dieser Besonderheit den ackerbautreibenden oberitalienischen Provinzen vorbehalten blieb, wo ausgedehnte Bauern-Streiks mit stark sozialistischen, ja selbst anar¬ chischen Charakter seit dem Jahre 1384 auf der Tagesordnung stehen? Wie Professor Bertciguolli in einer sehr lesenswerten Studie mitteilt, zer¬ fallen die Ursachen dieser Erscheinung in mittelbare und unmittelbare. Als mittelbare bezeichnet der Verfasser: den andauernden Arbeitsmangel ans dem Platten Lande, herbeigeführt durch Übervölkerung, durch Übergang ausgedehnter Landstriche vom Körnerbau zur Weide- und Viehwirtschaft und endlich durch Beendigung langjähriger Bonifikationsarbeitcn, welche zahlreichen Arbeitern und Bauern, namentlich im Winter, Beschäftigung gaben. Als unmittelbare Ursachen stellt er hin: 1. verheerende Überschwemmungen der Poebene, welche zahlreiche Bauern brotlos machte, und 2. die von außen her in die Kreise der Land¬ bevölkerung künstlich hineingetragene, durch Abgesandte von Umsturzparteien unterhaltene Agitation, welche es zuwege gebracht hat, daß eine bis dahin friedliche, konservative, ihren Grundherren ergebene und mit ihrem Lose nicht hadernde Bevölkerungsklasse Haus und Hof, Ernte und Vieh aufs Spiel setzte, um einen freiwillig eingegangenen Vertrag unter Begehung von allerlei Gewalt¬ thätigkeiten zu brechen, lediglich auf das Anstiften fremder, ihrem Interessen- kreise fernstehender Menschen hin. Die von den Bauernbewegungen der Jahre 1884 und 1885 heimgesuchten Gegenden fallen mit den Provinzen Mailand, Cremona, Parma, Modena, Mantua, Padua, Rovigo, Verona und Reggio-Emilia zusammen, kurz mit der Lombardei, Venetien und der Romagna. Aber während es sich in den Provinzen Cremona, Parma, Modena, Padua, Verona und Reggio mehr um Zusammenrottung Arbeitsuchender handelte, gingen die ländlichen Ar¬ beiter und Kolonen der Provinzen Mailand, Mantua und Rovigo zu regel¬ rechten Massenstreiks, Rohheiten und Gewaltthätigkeiten über, gegen welche die bewaffnete Macht einschreiten mußte. Was zunächst die Provinz Rovigo betrifft, so hatte hier eine in dem Orte Adria bestehende Umsturzgesellschaft die Landleute seit längerer Zeit bearbeitet und ihnen sogar eingeredet, daß die Regierung eine Bewegung zur Verbesserung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/579>, abgerufen am 26.08.2024.