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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Deutsch-böhmische Briefe.

eignisse an. Die Tschechen hatten sich vor 1848 in verschleimen Beziehungen
geregt und gehoben, und zwar zunächst auf wissenschaftlichem und literarischen
Felde. Dobrowsky gab den Anstoß dazu durch seine Forschungen auf dem Ge¬
biete der verschiednen slawischen Sprachen. Ihm reihten sich im Laufe der
Zeit Gelehrte wie Pelzel, Prochaska, Rutil, Tomsa und Puchmnyer an, und
das schon 1818 durch den Grafen Kaspar von Sternberg gegründete böhmische
Museum erhielt in der Ninive oeskg, eine besondre Abteilung mit dem Zwecke,
die Herausgabe tschechischer Bücher zu erleichtern, mit deren Beihilfe Josef
Jnngmcmn sein großes Wörterbuch, ein Werk ungewöhnlichen Fleißes, vollenden
konnte. Alte Schriftsteller wurden der Vergessenheit entrissen. Die tschechische
Prosa, bisher in Armut und Ungelenkheit versunken, wurde nach solchen Mustern
und aus andern Quellen bereichert und veredelt, sodaß sie sich auch zur Be¬
sprechung von Dingen eignete, die nicht dem Gebiete des gewöhnlichen Lebens
angehören. Es entstand eine nentschechische Literatur, zu der die Geschicht¬
schreiber Schafarik und Palacky, Jaromir Erben und Tönet, die Brüder
Jiretschck, von denen der eine als Rechts-, der andre als Literarhistoriker sich
auszeichnete, der Philosoph Hanusch, die Archäologen Wvccl und Mikowetz
und die Naturforscher Prest und Purkynje mehr oder minder wertvolle Bei¬
träge lieferten. Neben ihnen trat eine Anzahl tschechischer Dichter auf, von
denen nur Celakowsky und Kollar angeführt werden mögen. Alles das ent¬
wickelte sich ans dem Grunde deutscher Kultur, und selbst das Beste davon ging
wenig über die Mittelmäßigkeit hinaus. Aber die Tschechen hatten daran doch
einen höhern geistigen Besitz, und die Geschichtschreiber schufen ihnen, zum Teil
durch parteiische Darstellung ihrer Vergangenheit, Waffen zu politischen Zwecken.
Man war auf literarischem Wege vornehmer, selbstbewußter und anspruchsvoller
geworden.

Mit dem Jahre 1348 nimmt die Geschichte Böhmens eine wesentlich neue
Wendung. Wie der Staat, dessen Glied es seit dem Jahre 1627 ist, seitdem
in seiner Machtstellung gegenüber den Nachbarn wiederholt erschüttert wurde,
so erlebte er auch in seinen innern Verhältnissen dnrch Einführung des Kon¬
stitutionalismus verhängnisvolle Krisen, von denen Böhmen nicht weniger er¬
griffen wurde als die übrigen Provinzen, und die sich hier besonders auf zwei
Gebieten abspielten: auf dem der Verfassungsfrage und auf dem, welches der
Gegensatz der Nationalitäten im Lande ausfüllte. Hinsichtlich des erstern mußte
dieses selbstverständlich sich dem Staate der Habsburger unterordnen, mit dem es
jetzt fast drei Jahrhunderte verbunden und allmählich nach allen Beziehungen
verwachsen war. Selbst das formelle Recht erlitt keine Verletzung, wenn die
Negierung wie dem Volke in den übrigen Provinzen den Böhmen eine andre
als die bisherige Verfassung verlieh; denn im achten Artikel der "Bcrnewerten
Landesordnung" von 1627 hatte Ferdinand II., der Sieger in jener Schlacht
am Weißen Berge, mit welcher das alte staatsrechtliche Verhältnis Böhmens


Deutsch-böhmische Briefe.

eignisse an. Die Tschechen hatten sich vor 1848 in verschleimen Beziehungen
geregt und gehoben, und zwar zunächst auf wissenschaftlichem und literarischen
Felde. Dobrowsky gab den Anstoß dazu durch seine Forschungen auf dem Ge¬
biete der verschiednen slawischen Sprachen. Ihm reihten sich im Laufe der
Zeit Gelehrte wie Pelzel, Prochaska, Rutil, Tomsa und Puchmnyer an, und
das schon 1818 durch den Grafen Kaspar von Sternberg gegründete böhmische
Museum erhielt in der Ninive oeskg, eine besondre Abteilung mit dem Zwecke,
die Herausgabe tschechischer Bücher zu erleichtern, mit deren Beihilfe Josef
Jnngmcmn sein großes Wörterbuch, ein Werk ungewöhnlichen Fleißes, vollenden
konnte. Alte Schriftsteller wurden der Vergessenheit entrissen. Die tschechische
Prosa, bisher in Armut und Ungelenkheit versunken, wurde nach solchen Mustern
und aus andern Quellen bereichert und veredelt, sodaß sie sich auch zur Be¬
sprechung von Dingen eignete, die nicht dem Gebiete des gewöhnlichen Lebens
angehören. Es entstand eine nentschechische Literatur, zu der die Geschicht¬
schreiber Schafarik und Palacky, Jaromir Erben und Tönet, die Brüder
Jiretschck, von denen der eine als Rechts-, der andre als Literarhistoriker sich
auszeichnete, der Philosoph Hanusch, die Archäologen Wvccl und Mikowetz
und die Naturforscher Prest und Purkynje mehr oder minder wertvolle Bei¬
träge lieferten. Neben ihnen trat eine Anzahl tschechischer Dichter auf, von
denen nur Celakowsky und Kollar angeführt werden mögen. Alles das ent¬
wickelte sich ans dem Grunde deutscher Kultur, und selbst das Beste davon ging
wenig über die Mittelmäßigkeit hinaus. Aber die Tschechen hatten daran doch
einen höhern geistigen Besitz, und die Geschichtschreiber schufen ihnen, zum Teil
durch parteiische Darstellung ihrer Vergangenheit, Waffen zu politischen Zwecken.
Man war auf literarischem Wege vornehmer, selbstbewußter und anspruchsvoller
geworden.

Mit dem Jahre 1348 nimmt die Geschichte Böhmens eine wesentlich neue
Wendung. Wie der Staat, dessen Glied es seit dem Jahre 1627 ist, seitdem
in seiner Machtstellung gegenüber den Nachbarn wiederholt erschüttert wurde,
so erlebte er auch in seinen innern Verhältnissen dnrch Einführung des Kon¬
stitutionalismus verhängnisvolle Krisen, von denen Böhmen nicht weniger er¬
griffen wurde als die übrigen Provinzen, und die sich hier besonders auf zwei
Gebieten abspielten: auf dem der Verfassungsfrage und auf dem, welches der
Gegensatz der Nationalitäten im Lande ausfüllte. Hinsichtlich des erstern mußte
dieses selbstverständlich sich dem Staate der Habsburger unterordnen, mit dem es
jetzt fast drei Jahrhunderte verbunden und allmählich nach allen Beziehungen
verwachsen war. Selbst das formelle Recht erlitt keine Verletzung, wenn die
Negierung wie dem Volke in den übrigen Provinzen den Böhmen eine andre
als die bisherige Verfassung verlieh; denn im achten Artikel der „Bcrnewerten
Landesordnung" von 1627 hatte Ferdinand II., der Sieger in jener Schlacht
am Weißen Berge, mit welcher das alte staatsrechtliche Verhältnis Böhmens


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[0574] Deutsch-böhmische Briefe. eignisse an. Die Tschechen hatten sich vor 1848 in verschleimen Beziehungen geregt und gehoben, und zwar zunächst auf wissenschaftlichem und literarischen Felde. Dobrowsky gab den Anstoß dazu durch seine Forschungen auf dem Ge¬ biete der verschiednen slawischen Sprachen. Ihm reihten sich im Laufe der Zeit Gelehrte wie Pelzel, Prochaska, Rutil, Tomsa und Puchmnyer an, und das schon 1818 durch den Grafen Kaspar von Sternberg gegründete böhmische Museum erhielt in der Ninive oeskg, eine besondre Abteilung mit dem Zwecke, die Herausgabe tschechischer Bücher zu erleichtern, mit deren Beihilfe Josef Jnngmcmn sein großes Wörterbuch, ein Werk ungewöhnlichen Fleißes, vollenden konnte. Alte Schriftsteller wurden der Vergessenheit entrissen. Die tschechische Prosa, bisher in Armut und Ungelenkheit versunken, wurde nach solchen Mustern und aus andern Quellen bereichert und veredelt, sodaß sie sich auch zur Be¬ sprechung von Dingen eignete, die nicht dem Gebiete des gewöhnlichen Lebens angehören. Es entstand eine nentschechische Literatur, zu der die Geschicht¬ schreiber Schafarik und Palacky, Jaromir Erben und Tönet, die Brüder Jiretschck, von denen der eine als Rechts-, der andre als Literarhistoriker sich auszeichnete, der Philosoph Hanusch, die Archäologen Wvccl und Mikowetz und die Naturforscher Prest und Purkynje mehr oder minder wertvolle Bei¬ träge lieferten. Neben ihnen trat eine Anzahl tschechischer Dichter auf, von denen nur Celakowsky und Kollar angeführt werden mögen. Alles das ent¬ wickelte sich ans dem Grunde deutscher Kultur, und selbst das Beste davon ging wenig über die Mittelmäßigkeit hinaus. Aber die Tschechen hatten daran doch einen höhern geistigen Besitz, und die Geschichtschreiber schufen ihnen, zum Teil durch parteiische Darstellung ihrer Vergangenheit, Waffen zu politischen Zwecken. Man war auf literarischem Wege vornehmer, selbstbewußter und anspruchsvoller geworden. Mit dem Jahre 1348 nimmt die Geschichte Böhmens eine wesentlich neue Wendung. Wie der Staat, dessen Glied es seit dem Jahre 1627 ist, seitdem in seiner Machtstellung gegenüber den Nachbarn wiederholt erschüttert wurde, so erlebte er auch in seinen innern Verhältnissen dnrch Einführung des Kon¬ stitutionalismus verhängnisvolle Krisen, von denen Böhmen nicht weniger er¬ griffen wurde als die übrigen Provinzen, und die sich hier besonders auf zwei Gebieten abspielten: auf dem der Verfassungsfrage und auf dem, welches der Gegensatz der Nationalitäten im Lande ausfüllte. Hinsichtlich des erstern mußte dieses selbstverständlich sich dem Staate der Habsburger unterordnen, mit dem es jetzt fast drei Jahrhunderte verbunden und allmählich nach allen Beziehungen verwachsen war. Selbst das formelle Recht erlitt keine Verletzung, wenn die Negierung wie dem Volke in den übrigen Provinzen den Böhmen eine andre als die bisherige Verfassung verlieh; denn im achten Artikel der „Bcrnewerten Landesordnung" von 1627 hatte Ferdinand II., der Sieger in jener Schlacht am Weißen Berge, mit welcher das alte staatsrechtliche Verhältnis Böhmens

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/574>, abgerufen am 23.12.2024.