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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Deutsch-böhmische Briefe,

Kriege befallen hatte, und welche der Absolutismus im Verein mit dem das
Schulwesen regierenden Jesuitismus zu erhalten bemüht war. Umso kräftiger
begann um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts in Norddeutschland das
nationale Leben zu Pulsiren. Die Thaten Friedrichs des Großen, die Anfänge der
glänzendsten Periode unsrer Literaturgeschichte wirkten mittelbar und unmittelbar
auch auf das eingeschlafene Deutschtum in Böhmen. 1763 bat der Professor
Seybt, ein geborner Schlesier, Maria Theresia um die Erlaubnis, an der
Prager Universität Vortrüge über die schönen Wissenschaften zu halten, dieselbe
wurde gewährt, und als Seybt nun in deutscher Sprache über den Gegenstand
zu lesen begann und dabei vorzüglich auf die neuaufblüheude deutsche Literatur
hinwies, konnte sein Auftreten, wie selbst der tschechische Historiograph Tönet
zugesteht, "in gewisser Hinsicht als eine neue Epoche in Böhmens Kultur¬
geschichte angesehen werden." Seine Vorlesungen versammelten eine ungewöhn¬
lich große Anzahl von Hörern, und die deutschen Dichter und Schriftsteller
waren bald in jedermanns Händen. "Sogar Damen, die bisher nur franzö¬
sische Literatur kannten -- schreibt der Tscheche Pelzel -- lasen itzt ihren Gellert,
Hagedorn, Rabener, Gleim, Geßner, Kleist u. ni. mit so viel Begierde, daß sie
sie nicht sobald aus den Händen ließen. In Gärten, ans Spciziergängcn und
sogar auf öffentlichen Gassen traf man sie mit einem Wieland oder Klopstock
an. Hierdurch aber wurde nicht nur diese Sprache, sondern auch der deutsche
Geist und Geschmack unter den Böhmen mehr und mehr ausgebreitet." Und
das setzte sich fort und stieg, als auf die genannten deutschen Schöngeister
Schiller und Goethe, dann die Romantiker folgten. Auch die Tschechen nahmen
daran teil, und der deutsche Geist schuf ihnen ihre neue Literatur, die im wesent¬
lichen Abglanz und Nachahmung deutscher Muster ist; ja man darf sagen, daß
die romantische Schule sie mit ihrer Vorliebe für das Mittelalter darauf hin¬
wies, daß sie einmal bedeutend gewesen waren, den Wunsch weckte, es wieder
zu werden, und so den Anstoß gab zu darauf gerichteten Bestrebungen, zunächst
auf literarischem, dann in Verbindung mit andern Umständen auf politischem
Gebiete.

Es war bisher überlieferte Politik der Habsburger gewesen, ihre Stärke
in der Verschiedenheit ihrer Völker zu suche" und eine Nation durch die andre
in Schach zu halten. Jetzt kam eine andre auf, die von der Ansicht ausging,
Österreich könne nur dann kräftiger werden, wenn es allmählich ganz oder
wenigstens in seinen wichtigsten Teilen germanisirt werde. Maria Theresia
neigte zu dieser Meinung hin, und Josef II. ging mit dem Ungestüm seines
Charakters an die Ausführung dessen, was sie empfahl. Er steckte sich jedoch
zu weite Ziele, und er kam mit seinen Absichten zu spät; das deutsche Kaiser¬
tum hatte in den Händen der Habsburger schon lange nicht mehr die nationale
Aufgabe, die es einst besessen, und das deutsche Element in Österreich war nicht
stark genug, um allein die übrigen Nationalitüten allmählich aufzusaugen.


Deutsch-böhmische Briefe,

Kriege befallen hatte, und welche der Absolutismus im Verein mit dem das
Schulwesen regierenden Jesuitismus zu erhalten bemüht war. Umso kräftiger
begann um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts in Norddeutschland das
nationale Leben zu Pulsiren. Die Thaten Friedrichs des Großen, die Anfänge der
glänzendsten Periode unsrer Literaturgeschichte wirkten mittelbar und unmittelbar
auch auf das eingeschlafene Deutschtum in Böhmen. 1763 bat der Professor
Seybt, ein geborner Schlesier, Maria Theresia um die Erlaubnis, an der
Prager Universität Vortrüge über die schönen Wissenschaften zu halten, dieselbe
wurde gewährt, und als Seybt nun in deutscher Sprache über den Gegenstand
zu lesen begann und dabei vorzüglich auf die neuaufblüheude deutsche Literatur
hinwies, konnte sein Auftreten, wie selbst der tschechische Historiograph Tönet
zugesteht, „in gewisser Hinsicht als eine neue Epoche in Böhmens Kultur¬
geschichte angesehen werden." Seine Vorlesungen versammelten eine ungewöhn¬
lich große Anzahl von Hörern, und die deutschen Dichter und Schriftsteller
waren bald in jedermanns Händen. „Sogar Damen, die bisher nur franzö¬
sische Literatur kannten — schreibt der Tscheche Pelzel — lasen itzt ihren Gellert,
Hagedorn, Rabener, Gleim, Geßner, Kleist u. ni. mit so viel Begierde, daß sie
sie nicht sobald aus den Händen ließen. In Gärten, ans Spciziergängcn und
sogar auf öffentlichen Gassen traf man sie mit einem Wieland oder Klopstock
an. Hierdurch aber wurde nicht nur diese Sprache, sondern auch der deutsche
Geist und Geschmack unter den Böhmen mehr und mehr ausgebreitet." Und
das setzte sich fort und stieg, als auf die genannten deutschen Schöngeister
Schiller und Goethe, dann die Romantiker folgten. Auch die Tschechen nahmen
daran teil, und der deutsche Geist schuf ihnen ihre neue Literatur, die im wesent¬
lichen Abglanz und Nachahmung deutscher Muster ist; ja man darf sagen, daß
die romantische Schule sie mit ihrer Vorliebe für das Mittelalter darauf hin¬
wies, daß sie einmal bedeutend gewesen waren, den Wunsch weckte, es wieder
zu werden, und so den Anstoß gab zu darauf gerichteten Bestrebungen, zunächst
auf literarischem, dann in Verbindung mit andern Umständen auf politischem
Gebiete.

Es war bisher überlieferte Politik der Habsburger gewesen, ihre Stärke
in der Verschiedenheit ihrer Völker zu suche» und eine Nation durch die andre
in Schach zu halten. Jetzt kam eine andre auf, die von der Ansicht ausging,
Österreich könne nur dann kräftiger werden, wenn es allmählich ganz oder
wenigstens in seinen wichtigsten Teilen germanisirt werde. Maria Theresia
neigte zu dieser Meinung hin, und Josef II. ging mit dem Ungestüm seines
Charakters an die Ausführung dessen, was sie empfahl. Er steckte sich jedoch
zu weite Ziele, und er kam mit seinen Absichten zu spät; das deutsche Kaiser¬
tum hatte in den Händen der Habsburger schon lange nicht mehr die nationale
Aufgabe, die es einst besessen, und das deutsche Element in Österreich war nicht
stark genug, um allein die übrigen Nationalitüten allmählich aufzusaugen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/570>, abgerufen am 23.12.2024.