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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Preußen an die Spitze Deutschlands zu bringen, wurden dafür zu "Revolutio-
nären in Schlafrock und Pantoffeln" gestempelt. Hoffnungslosigkeit bemächtigte
sich vieler. Gervinus ging zu den Demokraten über und verrannte sich all¬
mählich in einen förmlichen Preußenhaß, Heinrich Gagern wurde großdeutsch,
sein Bruder Max gar ultramontan und Mitarbeiter der Wiener Staatskanzlei,
in welcher die Absicht Schwarzenbergs, völlige Demütigung Preußens, zwar
mit schwächlicheren Mittel"?, aber nicht weniger zäh verfolgt wurde. Und die
Nichtabtrünnigen konnten nicht anders, als mit steigender Heftigkeit die Leiter
gerade des Staates angreife", dem sie teils aus Bedürfnis des Herzens, teils
aus mühsam gewonnener Überzeugung vor allem zugethan waren. Daß sie sich
in der Hauptsache nicht irremachen ließen, bewies der Nationalverein in seinen
Anfängen. Die sogenannten Freisinnigen schreiben gelegentlich sich das Verdienst
zu, den nationalen Gedanken in Deutschland lebendig erhalten und der Politik
Bismarcks die Wege geebnet zu haben; die Wahrheit ist, daß sie alles erdenk¬
liche thaten, den Nationalverein, welcher sich diese Aufgabe gestellt hatte, der¬
selben abwendig zu machen, was ihnen ja auch während der Irrungen von
1862 bis 1866 glückte. Und wiederum, wie lästerten sie die "National-Mise¬
rablen," als diese, nun auf festerem Grunde als 1849, abermals mit der Re¬
gierung Frieden machten!

Dieser Dinge sich zu erinnern, lag gerade in den letzten Monaten manche
Veranlassung vor; die unmittelbare gab das Erscheinen einer Lebensgeschichte
des am 13. August 1885 verstorbenen Leipziger Abgeordneten Eduard Stephanie)
Wie der Titel besagt, ist das Buch mehr als eine Biographie. Und wenn der
Verfasser, ein einstiger Parteigenosse Stephanis, natürlich den Nachdruck auf
die Entwicklungsgeschichte seiner Partei legt, so sehen wir in dem Umstände,
daß eine solche Parteigeschichte gerade mit jener Persönlichkeit in Verbindung
gebracht werden konnte, einen Beitrag zur Charakteristik unsers parlamentarischen
Wesens im allgemeinen. Viele, die den politischen Ereignissen mit Aufmerk¬
samkeit folgen, werden kaum wissen, wer Stephani gewesen ist. In den Kammer¬
berichten wurde sein Name selten genannt, und doch war er eine wichtigere
Persönlichkeit, als so viele, welche sich täglich in den Vordergrund zu drängen
verstehen. Nur zu oft gleichen die glänzenden Redner den glänzenden Attaches,
welche reprcisentiren, während anspruchslose Arbeiter die Staatsschriften ver¬
fassen. Stephani, geboren am 29. Oktober 1817 in Bcucha bei Leipzig, ge¬
hörte auch zu den anspruchslosen Arbeitern. Von 1847 an hat er ein Tage¬
buch geführt, welches von Boettcher benutzt werden konnte; 1348 war er
Stadtverordneter, später stieg er zu höhern Würden in der Verwaltung Leip¬
zigs auf; seit 1867 gehörte er der Neichsvertrctung an, hochangesehen in seiner



*) Eduard Stephani. Ein Beitrag zur Zeitgeschichte, insbesondre zur Geschichte
der nationalliberalen Partei. Von F. Boettcher. Leipzig, Brockhaus.

Preußen an die Spitze Deutschlands zu bringen, wurden dafür zu „Revolutio-
nären in Schlafrock und Pantoffeln" gestempelt. Hoffnungslosigkeit bemächtigte
sich vieler. Gervinus ging zu den Demokraten über und verrannte sich all¬
mählich in einen förmlichen Preußenhaß, Heinrich Gagern wurde großdeutsch,
sein Bruder Max gar ultramontan und Mitarbeiter der Wiener Staatskanzlei,
in welcher die Absicht Schwarzenbergs, völlige Demütigung Preußens, zwar
mit schwächlicheren Mittel»?, aber nicht weniger zäh verfolgt wurde. Und die
Nichtabtrünnigen konnten nicht anders, als mit steigender Heftigkeit die Leiter
gerade des Staates angreife», dem sie teils aus Bedürfnis des Herzens, teils
aus mühsam gewonnener Überzeugung vor allem zugethan waren. Daß sie sich
in der Hauptsache nicht irremachen ließen, bewies der Nationalverein in seinen
Anfängen. Die sogenannten Freisinnigen schreiben gelegentlich sich das Verdienst
zu, den nationalen Gedanken in Deutschland lebendig erhalten und der Politik
Bismarcks die Wege geebnet zu haben; die Wahrheit ist, daß sie alles erdenk¬
liche thaten, den Nationalverein, welcher sich diese Aufgabe gestellt hatte, der¬
selben abwendig zu machen, was ihnen ja auch während der Irrungen von
1862 bis 1866 glückte. Und wiederum, wie lästerten sie die „National-Mise¬
rablen," als diese, nun auf festerem Grunde als 1849, abermals mit der Re¬
gierung Frieden machten!

Dieser Dinge sich zu erinnern, lag gerade in den letzten Monaten manche
Veranlassung vor; die unmittelbare gab das Erscheinen einer Lebensgeschichte
des am 13. August 1885 verstorbenen Leipziger Abgeordneten Eduard Stephanie)
Wie der Titel besagt, ist das Buch mehr als eine Biographie. Und wenn der
Verfasser, ein einstiger Parteigenosse Stephanis, natürlich den Nachdruck auf
die Entwicklungsgeschichte seiner Partei legt, so sehen wir in dem Umstände,
daß eine solche Parteigeschichte gerade mit jener Persönlichkeit in Verbindung
gebracht werden konnte, einen Beitrag zur Charakteristik unsers parlamentarischen
Wesens im allgemeinen. Viele, die den politischen Ereignissen mit Aufmerk¬
samkeit folgen, werden kaum wissen, wer Stephani gewesen ist. In den Kammer¬
berichten wurde sein Name selten genannt, und doch war er eine wichtigere
Persönlichkeit, als so viele, welche sich täglich in den Vordergrund zu drängen
verstehen. Nur zu oft gleichen die glänzenden Redner den glänzenden Attaches,
welche reprcisentiren, während anspruchslose Arbeiter die Staatsschriften ver¬
fassen. Stephani, geboren am 29. Oktober 1817 in Bcucha bei Leipzig, ge¬
hörte auch zu den anspruchslosen Arbeitern. Von 1847 an hat er ein Tage¬
buch geführt, welches von Boettcher benutzt werden konnte; 1348 war er
Stadtverordneter, später stieg er zu höhern Würden in der Verwaltung Leip¬
zigs auf; seit 1867 gehörte er der Neichsvertrctung an, hochangesehen in seiner



*) Eduard Stephani. Ein Beitrag zur Zeitgeschichte, insbesondre zur Geschichte
der nationalliberalen Partei. Von F. Boettcher. Leipzig, Brockhaus.
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[0518] Preußen an die Spitze Deutschlands zu bringen, wurden dafür zu „Revolutio- nären in Schlafrock und Pantoffeln" gestempelt. Hoffnungslosigkeit bemächtigte sich vieler. Gervinus ging zu den Demokraten über und verrannte sich all¬ mählich in einen förmlichen Preußenhaß, Heinrich Gagern wurde großdeutsch, sein Bruder Max gar ultramontan und Mitarbeiter der Wiener Staatskanzlei, in welcher die Absicht Schwarzenbergs, völlige Demütigung Preußens, zwar mit schwächlicheren Mittel»?, aber nicht weniger zäh verfolgt wurde. Und die Nichtabtrünnigen konnten nicht anders, als mit steigender Heftigkeit die Leiter gerade des Staates angreife», dem sie teils aus Bedürfnis des Herzens, teils aus mühsam gewonnener Überzeugung vor allem zugethan waren. Daß sie sich in der Hauptsache nicht irremachen ließen, bewies der Nationalverein in seinen Anfängen. Die sogenannten Freisinnigen schreiben gelegentlich sich das Verdienst zu, den nationalen Gedanken in Deutschland lebendig erhalten und der Politik Bismarcks die Wege geebnet zu haben; die Wahrheit ist, daß sie alles erdenk¬ liche thaten, den Nationalverein, welcher sich diese Aufgabe gestellt hatte, der¬ selben abwendig zu machen, was ihnen ja auch während der Irrungen von 1862 bis 1866 glückte. Und wiederum, wie lästerten sie die „National-Mise¬ rablen," als diese, nun auf festerem Grunde als 1849, abermals mit der Re¬ gierung Frieden machten! Dieser Dinge sich zu erinnern, lag gerade in den letzten Monaten manche Veranlassung vor; die unmittelbare gab das Erscheinen einer Lebensgeschichte des am 13. August 1885 verstorbenen Leipziger Abgeordneten Eduard Stephanie) Wie der Titel besagt, ist das Buch mehr als eine Biographie. Und wenn der Verfasser, ein einstiger Parteigenosse Stephanis, natürlich den Nachdruck auf die Entwicklungsgeschichte seiner Partei legt, so sehen wir in dem Umstände, daß eine solche Parteigeschichte gerade mit jener Persönlichkeit in Verbindung gebracht werden konnte, einen Beitrag zur Charakteristik unsers parlamentarischen Wesens im allgemeinen. Viele, die den politischen Ereignissen mit Aufmerk¬ samkeit folgen, werden kaum wissen, wer Stephani gewesen ist. In den Kammer¬ berichten wurde sein Name selten genannt, und doch war er eine wichtigere Persönlichkeit, als so viele, welche sich täglich in den Vordergrund zu drängen verstehen. Nur zu oft gleichen die glänzenden Redner den glänzenden Attaches, welche reprcisentiren, während anspruchslose Arbeiter die Staatsschriften ver¬ fassen. Stephani, geboren am 29. Oktober 1817 in Bcucha bei Leipzig, ge¬ hörte auch zu den anspruchslosen Arbeitern. Von 1847 an hat er ein Tage¬ buch geführt, welches von Boettcher benutzt werden konnte; 1348 war er Stadtverordneter, später stieg er zu höhern Würden in der Verwaltung Leip¬ zigs auf; seit 1867 gehörte er der Neichsvertrctung an, hochangesehen in seiner *) Eduard Stephani. Ein Beitrag zur Zeitgeschichte, insbesondre zur Geschichte der nationalliberalen Partei. Von F. Boettcher. Leipzig, Brockhaus.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/518>, abgerufen am 01.10.2024.