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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Jugenderinnerungen.

ohne lautes Herzklopfen und scheues Anblicken aber ging es dabei doch
nicht ab.

Wie es möglich war, diesen Aberglauben ruhig fortwuchern zu lassen, ist
mir noch heute nicht recht verständlich. Diejenigen, deren Aufgabe es gewesen
wäre, hier belehrend und aufklärend einzuschreiten, konnten sich mit Unwissen¬
heit nicht entschuldigen. Jedermann wußte sehr wohl darum, denn es ward
gar zu oft und bei dem geringsten Anlaß davon gesprochen. Aber es fiel
keinem Menschen ein, den Leuten das Schädliche ihres Aberglaubens vorzu-
halten und sie schonend, aber einsichtsvoll auf das Unhaltbare desselben auf¬
merksam zu machen. Verstreute Äußerungen, die mir gesprächsweise zu Ohren
kamen, wenn benachbarte Prediger uns besuchten und dann aus langen hollän¬
dischen Thonpfeifen Tabak rauchend mit dem Vater in unserm großen Wohn¬
zimmer auf- und abgingen und sich lebhaft unterhielten, ließen schou damals
die Ahnung in mir aufsteigen, daß man schwieg, um das Volk nicht zu sehr
aufzuklären! Gewiß ist, daß die Mehrzahl aller Prediger, die in meinem Eltern¬
hause ein- und ausgingen, sich entschieden zur Wehr setzte, wenn hie und da in
pädagogischen Zeitschriften oder in Büchern die Notwendigkeit betont wurde, daß
man mehr Bildung unter das Volk bringen müsse, und daß diese hochwichtige
Aufgabe in erster Linie den Schulen zufalle.

Mein Vater selbst schien im Prinzip nichts dagegen zu haben, nur erklärte
er sich gegen jede Überstürzung und war nebenbei auch der Meinung, daß man
seine Leute ansehen müsse und nicht alle über einen Kamin scheeren dürfe.
Ganz anders faßte ein Onkel von mir und der damalige Beichtvater der Eltern
diese Angelegenheit aus. Beide erklärten mit Eifer und aus gleichen Gründen,
es sei viel besser, das Volk glaube an Teufel, Gespenster und allerhand Unsinn,
als daß es überhaupt im Glauben wankend werde. Fange man erst an, auf¬
zuklären, den Leuten ein Licht aufzustecken, so werde man nur traurige Er¬
fahrungen machen. Der gemeine Mann verstehe selten richtig zu unterscheiden
und Maß zu halten; ungeübt im Denken, überhebe er sich gern, wenn er meine,
es sei ihm ein neues Licht aufgegangen. Der Dünkel lasse ihm dann keine
Ruhe mehr, er reiße ungestüm alle Grenzen nieder, trete auch das Heiligste
unter die Füße und verfalle rettungslos dem Unglauben. Letzterer sei aber
doch jedenfalls zehnmal verwerflicher als der krasseste Aberglaube. Darum
möge man die Leute ruhig bei ihrem Aberglauben lassen, dieser erhalte sie in
der allen so wohlthätigen Gottesfurcht, mache sie unterwürfig und entfremde
sie nicht der Kirche, die, wie man ja leider alle Tage zu bemerken Gelegenheit
habe, von denen, welche sich aufgeklärt dünkten, immer mehr gemieden würde.
Inwieweit mein Vater diesen Ansichten sich etwa nähern mochte, habe ich
nicht in Erfahrung bringen können. Es lag in seiner Natur, mit seiner
Meinung gern zurückzuhalten, teils weil er niemand durch absprechendes Wesen
verletzen wollte, teils auch, weil er besorgte, die Wirkung einer selbst Wohl-


Jugenderinnerungen.

ohne lautes Herzklopfen und scheues Anblicken aber ging es dabei doch
nicht ab.

Wie es möglich war, diesen Aberglauben ruhig fortwuchern zu lassen, ist
mir noch heute nicht recht verständlich. Diejenigen, deren Aufgabe es gewesen
wäre, hier belehrend und aufklärend einzuschreiten, konnten sich mit Unwissen¬
heit nicht entschuldigen. Jedermann wußte sehr wohl darum, denn es ward
gar zu oft und bei dem geringsten Anlaß davon gesprochen. Aber es fiel
keinem Menschen ein, den Leuten das Schädliche ihres Aberglaubens vorzu-
halten und sie schonend, aber einsichtsvoll auf das Unhaltbare desselben auf¬
merksam zu machen. Verstreute Äußerungen, die mir gesprächsweise zu Ohren
kamen, wenn benachbarte Prediger uns besuchten und dann aus langen hollän¬
dischen Thonpfeifen Tabak rauchend mit dem Vater in unserm großen Wohn¬
zimmer auf- und abgingen und sich lebhaft unterhielten, ließen schou damals
die Ahnung in mir aufsteigen, daß man schwieg, um das Volk nicht zu sehr
aufzuklären! Gewiß ist, daß die Mehrzahl aller Prediger, die in meinem Eltern¬
hause ein- und ausgingen, sich entschieden zur Wehr setzte, wenn hie und da in
pädagogischen Zeitschriften oder in Büchern die Notwendigkeit betont wurde, daß
man mehr Bildung unter das Volk bringen müsse, und daß diese hochwichtige
Aufgabe in erster Linie den Schulen zufalle.

Mein Vater selbst schien im Prinzip nichts dagegen zu haben, nur erklärte
er sich gegen jede Überstürzung und war nebenbei auch der Meinung, daß man
seine Leute ansehen müsse und nicht alle über einen Kamin scheeren dürfe.
Ganz anders faßte ein Onkel von mir und der damalige Beichtvater der Eltern
diese Angelegenheit aus. Beide erklärten mit Eifer und aus gleichen Gründen,
es sei viel besser, das Volk glaube an Teufel, Gespenster und allerhand Unsinn,
als daß es überhaupt im Glauben wankend werde. Fange man erst an, auf¬
zuklären, den Leuten ein Licht aufzustecken, so werde man nur traurige Er¬
fahrungen machen. Der gemeine Mann verstehe selten richtig zu unterscheiden
und Maß zu halten; ungeübt im Denken, überhebe er sich gern, wenn er meine,
es sei ihm ein neues Licht aufgegangen. Der Dünkel lasse ihm dann keine
Ruhe mehr, er reiße ungestüm alle Grenzen nieder, trete auch das Heiligste
unter die Füße und verfalle rettungslos dem Unglauben. Letzterer sei aber
doch jedenfalls zehnmal verwerflicher als der krasseste Aberglaube. Darum
möge man die Leute ruhig bei ihrem Aberglauben lassen, dieser erhalte sie in
der allen so wohlthätigen Gottesfurcht, mache sie unterwürfig und entfremde
sie nicht der Kirche, die, wie man ja leider alle Tage zu bemerken Gelegenheit
habe, von denen, welche sich aufgeklärt dünkten, immer mehr gemieden würde.
Inwieweit mein Vater diesen Ansichten sich etwa nähern mochte, habe ich
nicht in Erfahrung bringen können. Es lag in seiner Natur, mit seiner
Meinung gern zurückzuhalten, teils weil er niemand durch absprechendes Wesen
verletzen wollte, teils auch, weil er besorgte, die Wirkung einer selbst Wohl-


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[0506] Jugenderinnerungen. ohne lautes Herzklopfen und scheues Anblicken aber ging es dabei doch nicht ab. Wie es möglich war, diesen Aberglauben ruhig fortwuchern zu lassen, ist mir noch heute nicht recht verständlich. Diejenigen, deren Aufgabe es gewesen wäre, hier belehrend und aufklärend einzuschreiten, konnten sich mit Unwissen¬ heit nicht entschuldigen. Jedermann wußte sehr wohl darum, denn es ward gar zu oft und bei dem geringsten Anlaß davon gesprochen. Aber es fiel keinem Menschen ein, den Leuten das Schädliche ihres Aberglaubens vorzu- halten und sie schonend, aber einsichtsvoll auf das Unhaltbare desselben auf¬ merksam zu machen. Verstreute Äußerungen, die mir gesprächsweise zu Ohren kamen, wenn benachbarte Prediger uns besuchten und dann aus langen hollän¬ dischen Thonpfeifen Tabak rauchend mit dem Vater in unserm großen Wohn¬ zimmer auf- und abgingen und sich lebhaft unterhielten, ließen schou damals die Ahnung in mir aufsteigen, daß man schwieg, um das Volk nicht zu sehr aufzuklären! Gewiß ist, daß die Mehrzahl aller Prediger, die in meinem Eltern¬ hause ein- und ausgingen, sich entschieden zur Wehr setzte, wenn hie und da in pädagogischen Zeitschriften oder in Büchern die Notwendigkeit betont wurde, daß man mehr Bildung unter das Volk bringen müsse, und daß diese hochwichtige Aufgabe in erster Linie den Schulen zufalle. Mein Vater selbst schien im Prinzip nichts dagegen zu haben, nur erklärte er sich gegen jede Überstürzung und war nebenbei auch der Meinung, daß man seine Leute ansehen müsse und nicht alle über einen Kamin scheeren dürfe. Ganz anders faßte ein Onkel von mir und der damalige Beichtvater der Eltern diese Angelegenheit aus. Beide erklärten mit Eifer und aus gleichen Gründen, es sei viel besser, das Volk glaube an Teufel, Gespenster und allerhand Unsinn, als daß es überhaupt im Glauben wankend werde. Fange man erst an, auf¬ zuklären, den Leuten ein Licht aufzustecken, so werde man nur traurige Er¬ fahrungen machen. Der gemeine Mann verstehe selten richtig zu unterscheiden und Maß zu halten; ungeübt im Denken, überhebe er sich gern, wenn er meine, es sei ihm ein neues Licht aufgegangen. Der Dünkel lasse ihm dann keine Ruhe mehr, er reiße ungestüm alle Grenzen nieder, trete auch das Heiligste unter die Füße und verfalle rettungslos dem Unglauben. Letzterer sei aber doch jedenfalls zehnmal verwerflicher als der krasseste Aberglaube. Darum möge man die Leute ruhig bei ihrem Aberglauben lassen, dieser erhalte sie in der allen so wohlthätigen Gottesfurcht, mache sie unterwürfig und entfremde sie nicht der Kirche, die, wie man ja leider alle Tage zu bemerken Gelegenheit habe, von denen, welche sich aufgeklärt dünkten, immer mehr gemieden würde. Inwieweit mein Vater diesen Ansichten sich etwa nähern mochte, habe ich nicht in Erfahrung bringen können. Es lag in seiner Natur, mit seiner Meinung gern zurückzuhalten, teils weil er niemand durch absprechendes Wesen verletzen wollte, teils auch, weil er besorgte, die Wirkung einer selbst Wohl-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/506>, abgerufen am 23.12.2024.