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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Jugenderinnerungen.

rettungslos Verlorner betrachtet. Man glaubte fest und führte als Belege
Beispiele an, daß seine Seele dem Teufel verfallen sei. Kein Mensch berührte
ihn, und ein ehrliches Begräbnis ward einem solchen Unglücklichen in meiner
Jugend noch entschieden vom Volke verweigert. Die seelenlose Hülle gehörte
dem Abdecker, der sie dann auch auf seinen Karren lud, weit ins Feld hinaus
fuhr und dort auf entlegenem Anger begrub; "verscharrte," sagte kalt die herz¬
lose Menge. Zweimal habe ich aus der Entfernung solchen Bestallungen un¬
glücklicher Selbstmörder in sehr jungen Jahren beigewohnt.

Wie kam denn aber dann die Predigersfran, die ja doch mich eine Selbst¬
mörderin war, in das nesselbewachsene Grab an der Kirchhofsmauer? Darauf
kann ich nur mit einer Erzählung antworten, die von Mund zu Munde lief
und die ich von verschiednen Personen in gleicher Weise mehrmals gehört habe.
Die alte Pfarrfrau -- so bezeichnete man gewöhnlich die Unglückliche -- hatte
sich ans dem Boden eines ansehnlichen Hauses im Dorfe, das einem Leinewand¬
fabrikanten gehörte, erhenkt. Der Ort wurde später durch einen Verschlag von
dem übrigen Bodenraume abgetrennt, denn die Bewohner des Hauses waren
in ihrem unausrottbaren Aberglauben der Meinung, die Tote treibe dort ihr
Wesen. Wahrscheinlich aus einer gewissen Scheu vor der Entseelten, die bei
Lebzeiten ihres Gatten allsonntäglich im Angesichte der ganzen Gemeinde im
Pfarrstnhle gesessen hatte, gewährte man ihr abseits von allen übrigen Gräbern
guter Christen eine Ruhestätte an der Kirchhofsmauer. Vermutlich hatten ihr
diesen letzten Dienst mildherzige Leute erwiesen. Nun kam aber das Unglück
nach. Die arme Seele hatte keine Ruhe in dem halbehrlichen Grabe, das ihr
ja nicht geziemte; sie stieg des Nachts aus der Erde und ging ruhelos um
bis zum ersten Hahnenschrei. Bewohner des Pfarrhauses und des nächsten
Bauernhofes, dessen Feldweg den Kirchhof fast berührte, sahen die "alte Pfarr¬
frau" auf dem Grabe sitzen; andre begegneten ihr im Dorfe, wie sie schatten¬
haft an den Zäunen forthuschte und in dem Hause verschwand, wo sie sich den
Tod gegeben hatte. Und dort begann um die Mitternachtsstunde ein Rumoren,
daß die Bewohner desselben nicht wußten, was sie anfangen sollten. Es unterlag
gar keinem Zweifel, die unselige Selbstmörderin ging um, oder, wie der Volks-
ausdruck hieß, sie "scheenste" ^scheuchte^!

Was war da zu thun? Die Frage war mißlich und schwer zu beant¬
worten. Zunächst konnte man sich ja Rats erholen beim "klugen Manne."
Ein solcher, der in hohem Ansehen beim Volke stand, wohnte nicht weit jenseits
der böhmischen Grenze in Niedergrund. Der Mann war ein Ausbund von
Weisheit, war in geheimer Wissenschaft erfahren und verstand in manchen Fällen
sogar den Schleier der Zukunft zu lüften. Sein Ausspruch -- das stand fest --
sollte entscheidend sein, vorausgesetzt, daß er in so heikler Angelegenheit sich
überhaupt entschloß, seinen Mund zu öffnen.

Der Geist der Unseligen muß gebannt werden, lautete der Spruch des


Jugenderinnerungen.

rettungslos Verlorner betrachtet. Man glaubte fest und führte als Belege
Beispiele an, daß seine Seele dem Teufel verfallen sei. Kein Mensch berührte
ihn, und ein ehrliches Begräbnis ward einem solchen Unglücklichen in meiner
Jugend noch entschieden vom Volke verweigert. Die seelenlose Hülle gehörte
dem Abdecker, der sie dann auch auf seinen Karren lud, weit ins Feld hinaus
fuhr und dort auf entlegenem Anger begrub; „verscharrte," sagte kalt die herz¬
lose Menge. Zweimal habe ich aus der Entfernung solchen Bestallungen un¬
glücklicher Selbstmörder in sehr jungen Jahren beigewohnt.

Wie kam denn aber dann die Predigersfran, die ja doch mich eine Selbst¬
mörderin war, in das nesselbewachsene Grab an der Kirchhofsmauer? Darauf
kann ich nur mit einer Erzählung antworten, die von Mund zu Munde lief
und die ich von verschiednen Personen in gleicher Weise mehrmals gehört habe.
Die alte Pfarrfrau — so bezeichnete man gewöhnlich die Unglückliche — hatte
sich ans dem Boden eines ansehnlichen Hauses im Dorfe, das einem Leinewand¬
fabrikanten gehörte, erhenkt. Der Ort wurde später durch einen Verschlag von
dem übrigen Bodenraume abgetrennt, denn die Bewohner des Hauses waren
in ihrem unausrottbaren Aberglauben der Meinung, die Tote treibe dort ihr
Wesen. Wahrscheinlich aus einer gewissen Scheu vor der Entseelten, die bei
Lebzeiten ihres Gatten allsonntäglich im Angesichte der ganzen Gemeinde im
Pfarrstnhle gesessen hatte, gewährte man ihr abseits von allen übrigen Gräbern
guter Christen eine Ruhestätte an der Kirchhofsmauer. Vermutlich hatten ihr
diesen letzten Dienst mildherzige Leute erwiesen. Nun kam aber das Unglück
nach. Die arme Seele hatte keine Ruhe in dem halbehrlichen Grabe, das ihr
ja nicht geziemte; sie stieg des Nachts aus der Erde und ging ruhelos um
bis zum ersten Hahnenschrei. Bewohner des Pfarrhauses und des nächsten
Bauernhofes, dessen Feldweg den Kirchhof fast berührte, sahen die „alte Pfarr¬
frau" auf dem Grabe sitzen; andre begegneten ihr im Dorfe, wie sie schatten¬
haft an den Zäunen forthuschte und in dem Hause verschwand, wo sie sich den
Tod gegeben hatte. Und dort begann um die Mitternachtsstunde ein Rumoren,
daß die Bewohner desselben nicht wußten, was sie anfangen sollten. Es unterlag
gar keinem Zweifel, die unselige Selbstmörderin ging um, oder, wie der Volks-
ausdruck hieß, sie „scheenste" ^scheuchte^!

Was war da zu thun? Die Frage war mißlich und schwer zu beant¬
worten. Zunächst konnte man sich ja Rats erholen beim „klugen Manne."
Ein solcher, der in hohem Ansehen beim Volke stand, wohnte nicht weit jenseits
der böhmischen Grenze in Niedergrund. Der Mann war ein Ausbund von
Weisheit, war in geheimer Wissenschaft erfahren und verstand in manchen Fällen
sogar den Schleier der Zukunft zu lüften. Sein Ausspruch — das stand fest —
sollte entscheidend sein, vorausgesetzt, daß er in so heikler Angelegenheit sich
überhaupt entschloß, seinen Mund zu öffnen.

Der Geist der Unseligen muß gebannt werden, lautete der Spruch des


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[0502] Jugenderinnerungen. rettungslos Verlorner betrachtet. Man glaubte fest und führte als Belege Beispiele an, daß seine Seele dem Teufel verfallen sei. Kein Mensch berührte ihn, und ein ehrliches Begräbnis ward einem solchen Unglücklichen in meiner Jugend noch entschieden vom Volke verweigert. Die seelenlose Hülle gehörte dem Abdecker, der sie dann auch auf seinen Karren lud, weit ins Feld hinaus fuhr und dort auf entlegenem Anger begrub; „verscharrte," sagte kalt die herz¬ lose Menge. Zweimal habe ich aus der Entfernung solchen Bestallungen un¬ glücklicher Selbstmörder in sehr jungen Jahren beigewohnt. Wie kam denn aber dann die Predigersfran, die ja doch mich eine Selbst¬ mörderin war, in das nesselbewachsene Grab an der Kirchhofsmauer? Darauf kann ich nur mit einer Erzählung antworten, die von Mund zu Munde lief und die ich von verschiednen Personen in gleicher Weise mehrmals gehört habe. Die alte Pfarrfrau — so bezeichnete man gewöhnlich die Unglückliche — hatte sich ans dem Boden eines ansehnlichen Hauses im Dorfe, das einem Leinewand¬ fabrikanten gehörte, erhenkt. Der Ort wurde später durch einen Verschlag von dem übrigen Bodenraume abgetrennt, denn die Bewohner des Hauses waren in ihrem unausrottbaren Aberglauben der Meinung, die Tote treibe dort ihr Wesen. Wahrscheinlich aus einer gewissen Scheu vor der Entseelten, die bei Lebzeiten ihres Gatten allsonntäglich im Angesichte der ganzen Gemeinde im Pfarrstnhle gesessen hatte, gewährte man ihr abseits von allen übrigen Gräbern guter Christen eine Ruhestätte an der Kirchhofsmauer. Vermutlich hatten ihr diesen letzten Dienst mildherzige Leute erwiesen. Nun kam aber das Unglück nach. Die arme Seele hatte keine Ruhe in dem halbehrlichen Grabe, das ihr ja nicht geziemte; sie stieg des Nachts aus der Erde und ging ruhelos um bis zum ersten Hahnenschrei. Bewohner des Pfarrhauses und des nächsten Bauernhofes, dessen Feldweg den Kirchhof fast berührte, sahen die „alte Pfarr¬ frau" auf dem Grabe sitzen; andre begegneten ihr im Dorfe, wie sie schatten¬ haft an den Zäunen forthuschte und in dem Hause verschwand, wo sie sich den Tod gegeben hatte. Und dort begann um die Mitternachtsstunde ein Rumoren, daß die Bewohner desselben nicht wußten, was sie anfangen sollten. Es unterlag gar keinem Zweifel, die unselige Selbstmörderin ging um, oder, wie der Volks- ausdruck hieß, sie „scheenste" ^scheuchte^! Was war da zu thun? Die Frage war mißlich und schwer zu beant¬ worten. Zunächst konnte man sich ja Rats erholen beim „klugen Manne." Ein solcher, der in hohem Ansehen beim Volke stand, wohnte nicht weit jenseits der böhmischen Grenze in Niedergrund. Der Mann war ein Ausbund von Weisheit, war in geheimer Wissenschaft erfahren und verstand in manchen Fällen sogar den Schleier der Zukunft zu lüften. Sein Ausspruch — das stand fest — sollte entscheidend sein, vorausgesetzt, daß er in so heikler Angelegenheit sich überhaupt entschloß, seinen Mund zu öffnen. Der Geist der Unseligen muß gebannt werden, lautete der Spruch des

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/502>, abgerufen am 23.07.2024.