Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Literatur und das verbrechen.

Interesse für den Staatsmann und Juristen, als für den Historiker des Schrift¬
tums besitzt.

Das moderne Frankreich bietet einige Beispiele hierzu. Dort herrscht eine
epidemische Furcht vor deutschen Spionen, Es ist gewissermaßen schon zu
einem Glaubensartikel geworden, daß in jeder Ecke deutsche Offiziere umher-
spühcn, hinhorcheu, Notizen und Zeichnungen entwerfen. Die Spioucnriecherei
grassirt heute in Frankreich nicht weniger stark, als im Mittelalter die Manier,
überall Hexen zu wittern. Wer wollte verkennen, daß nicht nur die Zeitungen,
die von der Sensation leben, sondern auch die belletristische Literatur, selbst in
ihren höchsten Spitzen, vom heitern Maupassant bis zum ernsten Daudet und
dem racheglühenden Dervuledc, redlich ihr Teil dazu beigetragen haben, die halb
lächerliche, halb ärgerliche Spivnensuche großzuziehen?

Diejenigen, welche von der allgemeinen Verrücktheit nicht erfaßt sind, können
es nicht begreifen, wie jemand glauben kann, daß die Spionage in Friedens-
zeiten mehr als eine unnütze Ausgabe sei. Die Stärke der Kriegsmacht jedes
europäischen Staates ist ja in den Veröffentlichungen der Behörden enthalten.
Es giebt nichts ans dem Boden eines Landes, das nicht jeder mit der größten
Leichtigkeit erfahren könnte, der sich eine Landesvermessungskarte anschafft.
Wenn wir im letzten Kriege besser mit Landkarten versorgt waren als die
Franzosen, so lag die Ursache eben nur darin, daß wir uns die Mühe gegeben
hatten, die Originale, welche auch unser Generalstab aller Wahrscheinlichkeit
nach in Läden gekauft hatte, zu studiren und zu vervielfältigen. Hin und
wieder kann es ja von Nutzen sein, Pläne von Festungen zu besitzen; aber
sogar das ist oft vollständig wertlos. In zehn Fällen dürfte ein tüchtiger
Ingenieur, der das Terrain kennt, neunmal imstande sein, die Art und Weise
der Befestigung zu erkennen, indem er nnr erwägt, wie er selbst an dieser Stelle
ein Fort anlegen würde. Die Franzosen sind jedoch immer noch andrer
Meinung. Sie sind fest davon überzeugt, daß die Deutschen den Krieg dadurch
schou halb gewonnen haben, daß sie vor Beginn desselben auf irgend eine ge¬
heimnisvolle Weise in allen Höhlen und Ecken herumgestöbert und in un¬
sinnigen Maße Spione verwendet haben.

Eine noch ernstere Sache ist der bluttriefende Ton eines großen Teiles
der französischen Unterhaltungsliteratur. Da verrät sich eine ausgesprochene
Vorliebe, die Brutalität um ihrer selbst willen darzustellen und greuliche Mord¬
thaten mit möglichst scheußlichen Einzelheiten zu erfinden. Hand in Hand damit
geht aber auch eine Entwicklung des Verbrechens, die fast beispiellos dasteht
und unzweifelhaft erkennen läßt, daß beides in innigem Zusammenhange steht.
Vor einiger Zeit wurde berechnet, daß mehr als ein vollendeter oder versuchter
Mord auf den Tag kommt!

Seit dieser beunruhigenden Feststellung ist eine genaue Statistik geführt
worden. Die Gerichtsverhandlungen lehren, daß Morde mit einem Raffinement


Die Literatur und das verbrechen.

Interesse für den Staatsmann und Juristen, als für den Historiker des Schrift¬
tums besitzt.

Das moderne Frankreich bietet einige Beispiele hierzu. Dort herrscht eine
epidemische Furcht vor deutschen Spionen, Es ist gewissermaßen schon zu
einem Glaubensartikel geworden, daß in jeder Ecke deutsche Offiziere umher-
spühcn, hinhorcheu, Notizen und Zeichnungen entwerfen. Die Spioucnriecherei
grassirt heute in Frankreich nicht weniger stark, als im Mittelalter die Manier,
überall Hexen zu wittern. Wer wollte verkennen, daß nicht nur die Zeitungen,
die von der Sensation leben, sondern auch die belletristische Literatur, selbst in
ihren höchsten Spitzen, vom heitern Maupassant bis zum ernsten Daudet und
dem racheglühenden Dervuledc, redlich ihr Teil dazu beigetragen haben, die halb
lächerliche, halb ärgerliche Spivnensuche großzuziehen?

Diejenigen, welche von der allgemeinen Verrücktheit nicht erfaßt sind, können
es nicht begreifen, wie jemand glauben kann, daß die Spionage in Friedens-
zeiten mehr als eine unnütze Ausgabe sei. Die Stärke der Kriegsmacht jedes
europäischen Staates ist ja in den Veröffentlichungen der Behörden enthalten.
Es giebt nichts ans dem Boden eines Landes, das nicht jeder mit der größten
Leichtigkeit erfahren könnte, der sich eine Landesvermessungskarte anschafft.
Wenn wir im letzten Kriege besser mit Landkarten versorgt waren als die
Franzosen, so lag die Ursache eben nur darin, daß wir uns die Mühe gegeben
hatten, die Originale, welche auch unser Generalstab aller Wahrscheinlichkeit
nach in Läden gekauft hatte, zu studiren und zu vervielfältigen. Hin und
wieder kann es ja von Nutzen sein, Pläne von Festungen zu besitzen; aber
sogar das ist oft vollständig wertlos. In zehn Fällen dürfte ein tüchtiger
Ingenieur, der das Terrain kennt, neunmal imstande sein, die Art und Weise
der Befestigung zu erkennen, indem er nnr erwägt, wie er selbst an dieser Stelle
ein Fort anlegen würde. Die Franzosen sind jedoch immer noch andrer
Meinung. Sie sind fest davon überzeugt, daß die Deutschen den Krieg dadurch
schou halb gewonnen haben, daß sie vor Beginn desselben auf irgend eine ge¬
heimnisvolle Weise in allen Höhlen und Ecken herumgestöbert und in un¬
sinnigen Maße Spione verwendet haben.

Eine noch ernstere Sache ist der bluttriefende Ton eines großen Teiles
der französischen Unterhaltungsliteratur. Da verrät sich eine ausgesprochene
Vorliebe, die Brutalität um ihrer selbst willen darzustellen und greuliche Mord¬
thaten mit möglichst scheußlichen Einzelheiten zu erfinden. Hand in Hand damit
geht aber auch eine Entwicklung des Verbrechens, die fast beispiellos dasteht
und unzweifelhaft erkennen läßt, daß beides in innigem Zusammenhange steht.
Vor einiger Zeit wurde berechnet, daß mehr als ein vollendeter oder versuchter
Mord auf den Tag kommt!

Seit dieser beunruhigenden Feststellung ist eine genaue Statistik geführt
worden. Die Gerichtsverhandlungen lehren, daß Morde mit einem Raffinement


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0493" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/200598"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Literatur und das verbrechen.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1527" prev="#ID_1526"> Interesse für den Staatsmann und Juristen, als für den Historiker des Schrift¬<lb/>
tums besitzt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1528"> Das moderne Frankreich bietet einige Beispiele hierzu. Dort herrscht eine<lb/>
epidemische Furcht vor deutschen Spionen, Es ist gewissermaßen schon zu<lb/>
einem Glaubensartikel geworden, daß in jeder Ecke deutsche Offiziere umher-<lb/>
spühcn, hinhorcheu, Notizen und Zeichnungen entwerfen. Die Spioucnriecherei<lb/>
grassirt heute in Frankreich nicht weniger stark, als im Mittelalter die Manier,<lb/>
überall Hexen zu wittern. Wer wollte verkennen, daß nicht nur die Zeitungen,<lb/>
die von der Sensation leben, sondern auch die belletristische Literatur, selbst in<lb/>
ihren höchsten Spitzen, vom heitern Maupassant bis zum ernsten Daudet und<lb/>
dem racheglühenden Dervuledc, redlich ihr Teil dazu beigetragen haben, die halb<lb/>
lächerliche, halb ärgerliche Spivnensuche großzuziehen?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1529"> Diejenigen, welche von der allgemeinen Verrücktheit nicht erfaßt sind, können<lb/>
es nicht begreifen, wie jemand glauben kann, daß die Spionage in Friedens-<lb/>
zeiten mehr als eine unnütze Ausgabe sei. Die Stärke der Kriegsmacht jedes<lb/>
europäischen Staates ist ja in den Veröffentlichungen der Behörden enthalten.<lb/>
Es giebt nichts ans dem Boden eines Landes, das nicht jeder mit der größten<lb/>
Leichtigkeit erfahren könnte, der sich eine Landesvermessungskarte anschafft.<lb/>
Wenn wir im letzten Kriege besser mit Landkarten versorgt waren als die<lb/>
Franzosen, so lag die Ursache eben nur darin, daß wir uns die Mühe gegeben<lb/>
hatten, die Originale, welche auch unser Generalstab aller Wahrscheinlichkeit<lb/>
nach in Läden gekauft hatte, zu studiren und zu vervielfältigen. Hin und<lb/>
wieder kann es ja von Nutzen sein, Pläne von Festungen zu besitzen; aber<lb/>
sogar das ist oft vollständig wertlos. In zehn Fällen dürfte ein tüchtiger<lb/>
Ingenieur, der das Terrain kennt, neunmal imstande sein, die Art und Weise<lb/>
der Befestigung zu erkennen, indem er nnr erwägt, wie er selbst an dieser Stelle<lb/>
ein Fort anlegen würde. Die Franzosen sind jedoch immer noch andrer<lb/>
Meinung. Sie sind fest davon überzeugt, daß die Deutschen den Krieg dadurch<lb/>
schou halb gewonnen haben, daß sie vor Beginn desselben auf irgend eine ge¬<lb/>
heimnisvolle Weise in allen Höhlen und Ecken herumgestöbert und in un¬<lb/>
sinnigen Maße Spione verwendet haben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1530"> Eine noch ernstere Sache ist der bluttriefende Ton eines großen Teiles<lb/>
der französischen Unterhaltungsliteratur. Da verrät sich eine ausgesprochene<lb/>
Vorliebe, die Brutalität um ihrer selbst willen darzustellen und greuliche Mord¬<lb/>
thaten mit möglichst scheußlichen Einzelheiten zu erfinden. Hand in Hand damit<lb/>
geht aber auch eine Entwicklung des Verbrechens, die fast beispiellos dasteht<lb/>
und unzweifelhaft erkennen läßt, daß beides in innigem Zusammenhange steht.<lb/>
Vor einiger Zeit wurde berechnet, daß mehr als ein vollendeter oder versuchter<lb/>
Mord auf den Tag kommt!</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1531" next="#ID_1532"> Seit dieser beunruhigenden Feststellung ist eine genaue Statistik geführt<lb/>
worden. Die Gerichtsverhandlungen lehren, daß Morde mit einem Raffinement</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0493] Die Literatur und das verbrechen. Interesse für den Staatsmann und Juristen, als für den Historiker des Schrift¬ tums besitzt. Das moderne Frankreich bietet einige Beispiele hierzu. Dort herrscht eine epidemische Furcht vor deutschen Spionen, Es ist gewissermaßen schon zu einem Glaubensartikel geworden, daß in jeder Ecke deutsche Offiziere umher- spühcn, hinhorcheu, Notizen und Zeichnungen entwerfen. Die Spioucnriecherei grassirt heute in Frankreich nicht weniger stark, als im Mittelalter die Manier, überall Hexen zu wittern. Wer wollte verkennen, daß nicht nur die Zeitungen, die von der Sensation leben, sondern auch die belletristische Literatur, selbst in ihren höchsten Spitzen, vom heitern Maupassant bis zum ernsten Daudet und dem racheglühenden Dervuledc, redlich ihr Teil dazu beigetragen haben, die halb lächerliche, halb ärgerliche Spivnensuche großzuziehen? Diejenigen, welche von der allgemeinen Verrücktheit nicht erfaßt sind, können es nicht begreifen, wie jemand glauben kann, daß die Spionage in Friedens- zeiten mehr als eine unnütze Ausgabe sei. Die Stärke der Kriegsmacht jedes europäischen Staates ist ja in den Veröffentlichungen der Behörden enthalten. Es giebt nichts ans dem Boden eines Landes, das nicht jeder mit der größten Leichtigkeit erfahren könnte, der sich eine Landesvermessungskarte anschafft. Wenn wir im letzten Kriege besser mit Landkarten versorgt waren als die Franzosen, so lag die Ursache eben nur darin, daß wir uns die Mühe gegeben hatten, die Originale, welche auch unser Generalstab aller Wahrscheinlichkeit nach in Läden gekauft hatte, zu studiren und zu vervielfältigen. Hin und wieder kann es ja von Nutzen sein, Pläne von Festungen zu besitzen; aber sogar das ist oft vollständig wertlos. In zehn Fällen dürfte ein tüchtiger Ingenieur, der das Terrain kennt, neunmal imstande sein, die Art und Weise der Befestigung zu erkennen, indem er nnr erwägt, wie er selbst an dieser Stelle ein Fort anlegen würde. Die Franzosen sind jedoch immer noch andrer Meinung. Sie sind fest davon überzeugt, daß die Deutschen den Krieg dadurch schou halb gewonnen haben, daß sie vor Beginn desselben auf irgend eine ge¬ heimnisvolle Weise in allen Höhlen und Ecken herumgestöbert und in un¬ sinnigen Maße Spione verwendet haben. Eine noch ernstere Sache ist der bluttriefende Ton eines großen Teiles der französischen Unterhaltungsliteratur. Da verrät sich eine ausgesprochene Vorliebe, die Brutalität um ihrer selbst willen darzustellen und greuliche Mord¬ thaten mit möglichst scheußlichen Einzelheiten zu erfinden. Hand in Hand damit geht aber auch eine Entwicklung des Verbrechens, die fast beispiellos dasteht und unzweifelhaft erkennen läßt, daß beides in innigem Zusammenhange steht. Vor einiger Zeit wurde berechnet, daß mehr als ein vollendeter oder versuchter Mord auf den Tag kommt! Seit dieser beunruhigenden Feststellung ist eine genaue Statistik geführt worden. Die Gerichtsverhandlungen lehren, daß Morde mit einem Raffinement

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/493
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/493>, abgerufen am 23.12.2024.