Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.Die Zunahme der Rohheit in Deutschland. aus und wird durch die schlaffen Urteile auch auf das Volk übertragen. Wenn Zu der Milde der Strafrechtspflege tritt um aber, um das Maß des Grenzboten I. 1887. 61
Die Zunahme der Rohheit in Deutschland. aus und wird durch die schlaffen Urteile auch auf das Volk übertragen. Wenn Zu der Milde der Strafrechtspflege tritt um aber, um das Maß des Grenzboten I. 1887. 61
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Die Zunahme der Rohheit in Deutschland.
aus und wird durch die schlaffen Urteile auch auf das Volk übertragen. Wenn
der betrunkene Raufbold, der einem ruhig seines Weges gehenden Bürger ein
Loch in den Kopf geschlagen hat, sieht, daß ihn der Richter mit Rücksicht auf
die Trunkenheit nur zwei Monate ins Gefängnis schickt, so muß er sich mit dem
Gedanken vertraut machen, daß der Staat und das Recht der Völlerei zuliebe
auch die schlimmsten Auflehnungen gegen Gesetz und Ordnung ruhig hingehen
lasse, und welche Wirkungen eine solche Anschauung auf das sittliche und recht¬
liche Denken der Massen ausübt, bedarf keiner Auseinandersetzung, da die Zahlen
der Kriminalstatistik in mehr als ausreichender Weise die Folgen darthun. Was
in einzelnen Fällen mit dieser Annahme mildernder Umstände geleistet wird,
darf geradezu als eine Versündigung gegen den Staat und die Gesellschaft be¬
zeichnet werden, als eine Versündigung, welche sich schon jetzt schwer rächt, in
der Zukunft aber noch ganz anders rächen wird. Dafür werden die Anarchisten
und ihr Anhängsel schon zu sorgen wissen.
Zu der Milde der Strafrechtspflege tritt um aber, um das Maß des
Übels vollzumachen, noch die volle Inhalts- und Bedeutungslosigkeit des Straf¬
vollzuges. Der verlumpte Raufbold und Mesferheld, der nichtswürdige Dirncn-
zuhälter, sie werden während der paar Monate, die sie ins Gefängnis wandern
müssen, auf Staatskosten gefüttert, und zwar in einer Weise gefüttert, welche
viel, unendlich viel besser ist als die Nahrung, die sich der ehrliche Arbeiter
verschaffen kann, der vom frühen Morgen bis zum späten Abend unverdrossen
die Hände rührt, um die für sich und die Seinen erforderlichen Uuterhaltsmittcl
zu gewinnen! Ist doch die Nahrung, welche auf Kosten aller den Insassen des
Gefängnisses gereicht wird, kaum wesentlich schlechter als diejenige, welche unsre
Armee erhält! Worin besteht also eigentlich der Inhalt der Strafe, die jenen
zuteil wird? In der Freiheitsentziehung, antworten die mattherziger Phrasen-
machcr, die schon nervös werden, wenn man auch nur von weitem ans die Ver¬
schärfung des Strafvollzuges hinweist. Als ob das bischen Freiheitsentziehung
eine Strafe für diejenige Sorte von Menschen wäre, aus welchen sich die Schaar
der wegen Körperverletzung verurteilten zusammensetzt, als ob sie nicht durchaus
wirkungslos bliebe und der Natur der Sache nach auch bleiben müßte! Die Gesell¬
schaft und die öffentliche Sicherheit hat schwer darunter zu leiden, daß die Be¬
deutung der thatsächlichen Verhältnisse in der Strafrechtswissenschaft so lange nicht
zu ihrem Rechte gekommen ist, sonst würde man Wohl heute die Ansicht, daß eine
nach dem jetzigen System vollzogene Gefängnisstrafe von drei Monaten auf einen
heruntergekommenen Säufer eine Wirkung ausübe, allenfalls bei den „höhern
Töchtern," aber nicht bei den Kriminalisten vorfinden. Der Strafvollzug in
Deutschland leidet vor allem an dem Mangel an genügender Individualisirung.
Gegen den rohen Burschen, welcher Körperverletzungen verübt, muß die Strafe
w ganz andrer Weise vollstreckt werden als gegen den Dieb und den Betrüger.
Der Strafvollzug muß vor allem dafür sorgen, daß an den wegen Rohheits-
Grenzboten I. 1887. 61
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