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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Die Zunahme der Rohheit in Deutschland.

zu erklärendes Problem, wie es für ein Volk von der Kulturstufe des deutschen
möglich ist, unter einem so elenden Gesetze zu leben. Allein das Strafgesetz¬
buch hat so unsinnige Dinge nicht gewollt, nicht an ihm liegt die Schuld,
wenn auf Grund seiner Bestimmungen betrunkenen Übelthätern mildernde Um¬
stände bewilligt werden, sondern an der Handhabung seiner Vorschriften durch
die Gerichte. Brauchen wir uns zu wundern und darüber zu ärgern, daß die
Schwurgerichte mit dem System der mildernden Umstände einen empörenden
Unfug treiben, wenn von dem Berufsgerichte die Trunkenheit des Raufboldes
schlechthin als mildernder Umstand aufgefaßt wird? Haben wir ein Recht, uns
über die Verstündnislosigkeit der Laienrichter aufzuhalten, die nicht wissen, was
sie mit den mildernden Umständen anzufangen haben, wenn es bei den Berufs¬
gerichten in Ansehung der Aburteilung der Körperverletzungen nicht viel besser
steht? Giebt es doch eine Unsumme von Strafurteilen, in welchen die ständige
Formel wiederkehrt: "Was die Frage anlangt, ob mildernde Umstände dem
Beklagten zur Seite stehen, so ist dieselbe um deswillen zu bejahen, weil er sich
in betrunkenen Zustande befand." Bei diesem Zustande der Rechtspflege kann
es wahrlich nicht fehlen, daß, wie ein hervorragender preußischer Beamter, der
Geheimrat Jlling, sagt: "es nichts seltenes ist, wenn der Verletzte länger auf
seinem Schmerzenslager zubringen muß als der Verurteilte im Gefängnis."*)
Der Verfasser ist sicherlich kein Gegner des Systems der mildernden Umstände,
wenn er auch uicht zu denjenigen gehört, welche nach Art der französischen Kri¬
minalisten (Ortolan, Berenger) einen förmlichen Götzendienst mit demselben
treiben. Allein wenn dieses System in einer Weise mißbraucht werden kann,
die den Rechtsschutz geradezu hinfällig macht, dann wird doch an die Gesetzgebung
die Verpflichtung trete", sich die Frage ernstlich vorzulegen, ob eine Abänderung
dieses Systems nicht dringend geboten sei. Freilich, wenn alle Gerichte von
der Ansicht durchdrungen wären, die vor einiger Zeit der Vorsitzende eines
Berliner Schöffengerichtes aussprach, daß jemand, der wisse, daß er nach dem
Trinken wie ein Vieh werde, schärfer zu strafen sei, wenn er in der Trunken¬
heit eine Missethat begehe,**) bedürfte es einer solchen Erwägung nicht, dann
wäre auch kein Anlaß gegeben, schwere Anklagen gegen die Rechtspflege zu er¬
heben. Aber leider muß ausgesprochen werden, daß solche Urteile äußerst selten
sind, und ob mit der Zeit sich aus dem Nichterstande heraus die Überzeugung
Bahn brechen wird, daß diese unterschiedslose Beurteilung der Trunkenheit als
mildernden Umstandes geradezu eine Gesetzesverletzung ist, dürfte nach den bis¬
herigen Erfahrungen sehr zweifelhaft sein. Es ist ein Unglück, ein großes Un¬
glück, daß man in weiten Kreisen des Volkes so schlaff über die Trunkenheit
denkt; diese schlaffe Auffassung eines Lasters prägt sich auch in der Rechtspflege




*) Blätter für Gefängnislunde, Bd. XV, S, 84.
Mitteilungen des deutschen Vereins gegen den Mißbrauch geistiger Getränke, zweiter
Jahrgang, Ur. 12.
Die Zunahme der Rohheit in Deutschland.

zu erklärendes Problem, wie es für ein Volk von der Kulturstufe des deutschen
möglich ist, unter einem so elenden Gesetze zu leben. Allein das Strafgesetz¬
buch hat so unsinnige Dinge nicht gewollt, nicht an ihm liegt die Schuld,
wenn auf Grund seiner Bestimmungen betrunkenen Übelthätern mildernde Um¬
stände bewilligt werden, sondern an der Handhabung seiner Vorschriften durch
die Gerichte. Brauchen wir uns zu wundern und darüber zu ärgern, daß die
Schwurgerichte mit dem System der mildernden Umstände einen empörenden
Unfug treiben, wenn von dem Berufsgerichte die Trunkenheit des Raufboldes
schlechthin als mildernder Umstand aufgefaßt wird? Haben wir ein Recht, uns
über die Verstündnislosigkeit der Laienrichter aufzuhalten, die nicht wissen, was
sie mit den mildernden Umständen anzufangen haben, wenn es bei den Berufs¬
gerichten in Ansehung der Aburteilung der Körperverletzungen nicht viel besser
steht? Giebt es doch eine Unsumme von Strafurteilen, in welchen die ständige
Formel wiederkehrt: „Was die Frage anlangt, ob mildernde Umstände dem
Beklagten zur Seite stehen, so ist dieselbe um deswillen zu bejahen, weil er sich
in betrunkenen Zustande befand." Bei diesem Zustande der Rechtspflege kann
es wahrlich nicht fehlen, daß, wie ein hervorragender preußischer Beamter, der
Geheimrat Jlling, sagt: „es nichts seltenes ist, wenn der Verletzte länger auf
seinem Schmerzenslager zubringen muß als der Verurteilte im Gefängnis."*)
Der Verfasser ist sicherlich kein Gegner des Systems der mildernden Umstände,
wenn er auch uicht zu denjenigen gehört, welche nach Art der französischen Kri¬
minalisten (Ortolan, Berenger) einen förmlichen Götzendienst mit demselben
treiben. Allein wenn dieses System in einer Weise mißbraucht werden kann,
die den Rechtsschutz geradezu hinfällig macht, dann wird doch an die Gesetzgebung
die Verpflichtung trete», sich die Frage ernstlich vorzulegen, ob eine Abänderung
dieses Systems nicht dringend geboten sei. Freilich, wenn alle Gerichte von
der Ansicht durchdrungen wären, die vor einiger Zeit der Vorsitzende eines
Berliner Schöffengerichtes aussprach, daß jemand, der wisse, daß er nach dem
Trinken wie ein Vieh werde, schärfer zu strafen sei, wenn er in der Trunken¬
heit eine Missethat begehe,**) bedürfte es einer solchen Erwägung nicht, dann
wäre auch kein Anlaß gegeben, schwere Anklagen gegen die Rechtspflege zu er¬
heben. Aber leider muß ausgesprochen werden, daß solche Urteile äußerst selten
sind, und ob mit der Zeit sich aus dem Nichterstande heraus die Überzeugung
Bahn brechen wird, daß diese unterschiedslose Beurteilung der Trunkenheit als
mildernden Umstandes geradezu eine Gesetzesverletzung ist, dürfte nach den bis¬
herigen Erfahrungen sehr zweifelhaft sein. Es ist ein Unglück, ein großes Un¬
glück, daß man in weiten Kreisen des Volkes so schlaff über die Trunkenheit
denkt; diese schlaffe Auffassung eines Lasters prägt sich auch in der Rechtspflege




*) Blätter für Gefängnislunde, Bd. XV, S, 84.
Mitteilungen des deutschen Vereins gegen den Mißbrauch geistiger Getränke, zweiter
Jahrgang, Ur. 12.
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[0488] Die Zunahme der Rohheit in Deutschland. zu erklärendes Problem, wie es für ein Volk von der Kulturstufe des deutschen möglich ist, unter einem so elenden Gesetze zu leben. Allein das Strafgesetz¬ buch hat so unsinnige Dinge nicht gewollt, nicht an ihm liegt die Schuld, wenn auf Grund seiner Bestimmungen betrunkenen Übelthätern mildernde Um¬ stände bewilligt werden, sondern an der Handhabung seiner Vorschriften durch die Gerichte. Brauchen wir uns zu wundern und darüber zu ärgern, daß die Schwurgerichte mit dem System der mildernden Umstände einen empörenden Unfug treiben, wenn von dem Berufsgerichte die Trunkenheit des Raufboldes schlechthin als mildernder Umstand aufgefaßt wird? Haben wir ein Recht, uns über die Verstündnislosigkeit der Laienrichter aufzuhalten, die nicht wissen, was sie mit den mildernden Umständen anzufangen haben, wenn es bei den Berufs¬ gerichten in Ansehung der Aburteilung der Körperverletzungen nicht viel besser steht? Giebt es doch eine Unsumme von Strafurteilen, in welchen die ständige Formel wiederkehrt: „Was die Frage anlangt, ob mildernde Umstände dem Beklagten zur Seite stehen, so ist dieselbe um deswillen zu bejahen, weil er sich in betrunkenen Zustande befand." Bei diesem Zustande der Rechtspflege kann es wahrlich nicht fehlen, daß, wie ein hervorragender preußischer Beamter, der Geheimrat Jlling, sagt: „es nichts seltenes ist, wenn der Verletzte länger auf seinem Schmerzenslager zubringen muß als der Verurteilte im Gefängnis."*) Der Verfasser ist sicherlich kein Gegner des Systems der mildernden Umstände, wenn er auch uicht zu denjenigen gehört, welche nach Art der französischen Kri¬ minalisten (Ortolan, Berenger) einen förmlichen Götzendienst mit demselben treiben. Allein wenn dieses System in einer Weise mißbraucht werden kann, die den Rechtsschutz geradezu hinfällig macht, dann wird doch an die Gesetzgebung die Verpflichtung trete», sich die Frage ernstlich vorzulegen, ob eine Abänderung dieses Systems nicht dringend geboten sei. Freilich, wenn alle Gerichte von der Ansicht durchdrungen wären, die vor einiger Zeit der Vorsitzende eines Berliner Schöffengerichtes aussprach, daß jemand, der wisse, daß er nach dem Trinken wie ein Vieh werde, schärfer zu strafen sei, wenn er in der Trunken¬ heit eine Missethat begehe,**) bedürfte es einer solchen Erwägung nicht, dann wäre auch kein Anlaß gegeben, schwere Anklagen gegen die Rechtspflege zu er¬ heben. Aber leider muß ausgesprochen werden, daß solche Urteile äußerst selten sind, und ob mit der Zeit sich aus dem Nichterstande heraus die Überzeugung Bahn brechen wird, daß diese unterschiedslose Beurteilung der Trunkenheit als mildernden Umstandes geradezu eine Gesetzesverletzung ist, dürfte nach den bis¬ herigen Erfahrungen sehr zweifelhaft sein. Es ist ein Unglück, ein großes Un¬ glück, daß man in weiten Kreisen des Volkes so schlaff über die Trunkenheit denkt; diese schlaffe Auffassung eines Lasters prägt sich auch in der Rechtspflege *) Blätter für Gefängnislunde, Bd. XV, S, 84. Mitteilungen des deutschen Vereins gegen den Mißbrauch geistiger Getränke, zweiter Jahrgang, Ur. 12.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/488>, abgerufen am 23.12.2024.