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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Die Zunahme der Rohheit in Deutschland.

biete des öffentlichen Lebens, so auf diesem, Gefahr im Verzüge ist. Je länger
die Gesetzgebung wartet, gegen einen Zustand einzuschreiten, der ein Schandfleck
der deutschen Kultur ist, umso schwieriger wird die Heilung, umso durchgreifender
werden später die zur Anwendung gelangenden Mittel sein müssen. Es ist
nicht zu verkennen, daß man in weiten Kreisen Deutschlands einem Vorgehen
der Gesetzgebung in dieser Richtung nicht sehr günstig gegenübersteht. Es ist
begreiflich, daß der doktrinäre Manchesterkultus, dessen Ideal der § 23 der
Gewerbeordnung war, sich mit Abscheu von jedem Vorschlage abwendet, welcher
weitere Beschränkungen der Schcinkfreiheit herbeiführen will; die Manchester¬
doktrin ist ja einseitig genug, um ihren Prinzipien zuliebe das Volksleben
seinem Untergang entgegengehen zu lassen. Aber ein verwerflicher Mißbrauch der
Freiheit ist es, wenn man sich pathetisch und mit Entrüstung im Namen derselben
gegen die eben charakterisirten Bestrebungen verwahrt! Im Lande der radikalen
Demokratie und des Referendums, im Lande der Freiheit, die auf den Bergen
wohnt, denkt man in dieser Beziehung wesentlich anders als im Lager der deutschen
Manchestermänuer. Dort bedankt man sich für eine Freiheit, die in ihren Kon¬
sequenzen zu einer allgemeinen Unsicherheit und zu einer Bedrohung der Ge¬
sundheit friedlicher Bürger führt, dort findet man in der Demokratie und den
Ideen des Liberalismus kein Hindernis, es zu verhüten, daß ein wüstes
und verwegenes Rowdytum sich breit mache und des Schutzes Hohn spreche,
welchen der Staat seinen Unterthanen schuldig ist. Die Schweizer bewahrte
ihr gesunder Sinn vor einem solchen Verkennen der Pflichten und Aufgabe"
des Staates, wie es im deutschen Reiche unter den radikalen Anhängern des
I-iÜWW lÄirs nicht selten zu finden ist. So lange man bei uns nicht ebenso
durchgreifend die Schankgesetzgebung umgestaltet, wie in den skandinavischen
Reichen und Holland, so lange dürfen wir auf eine wesentliche Verminderung
der Körperverletzungen nicht hoffen.

Ein zweiter Hauptgrund der Zunahme dieser Vergehen ist die Art und
Weise, in welcher die deutsche Strafrechtspflege gegen sie vorgeht. Wenn die
Klagen, welche über die ungerechtfertigte Milde der deutschen Rechtspflege laut
werden, auf irgend einem Gebiete begründet sind, so ist es auf dem der Körper¬
verletzungen. Es ist unglaublich, welches Unwesen hier mit der Milde getrieben
wird. Nach 8 223 ^ des Strafgesetzbuches wird die sogenannte gefährliche
Körperverletzung mit Gefüugnis von zwei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft;
sind nach Ansicht des Richters mildernde Umstände vorhanden, so kann entweder
auf Gefängnisstrafe von einem Tage bis zu drei Jahren oder auf eine Geld¬
strafe bis zu tausend Mark erkannt werden. Man werfe nun einen Blick auf
die Ergebnisse der Strafrechtspflege im Jahre 1884, um einen Begriff von der
^Strenge" zu erhalten, die der deutsche Richter gegen die rohesten aller Ubel-
thüter zur Anwendung bringt. Eine Gefängnisstrafe von mehr als zwei Jahren
wurde gegen 0,96 Prozent aller Verurteilten ausgesprochen, Gefängnis von


Die Zunahme der Rohheit in Deutschland.

biete des öffentlichen Lebens, so auf diesem, Gefahr im Verzüge ist. Je länger
die Gesetzgebung wartet, gegen einen Zustand einzuschreiten, der ein Schandfleck
der deutschen Kultur ist, umso schwieriger wird die Heilung, umso durchgreifender
werden später die zur Anwendung gelangenden Mittel sein müssen. Es ist
nicht zu verkennen, daß man in weiten Kreisen Deutschlands einem Vorgehen
der Gesetzgebung in dieser Richtung nicht sehr günstig gegenübersteht. Es ist
begreiflich, daß der doktrinäre Manchesterkultus, dessen Ideal der § 23 der
Gewerbeordnung war, sich mit Abscheu von jedem Vorschlage abwendet, welcher
weitere Beschränkungen der Schcinkfreiheit herbeiführen will; die Manchester¬
doktrin ist ja einseitig genug, um ihren Prinzipien zuliebe das Volksleben
seinem Untergang entgegengehen zu lassen. Aber ein verwerflicher Mißbrauch der
Freiheit ist es, wenn man sich pathetisch und mit Entrüstung im Namen derselben
gegen die eben charakterisirten Bestrebungen verwahrt! Im Lande der radikalen
Demokratie und des Referendums, im Lande der Freiheit, die auf den Bergen
wohnt, denkt man in dieser Beziehung wesentlich anders als im Lager der deutschen
Manchestermänuer. Dort bedankt man sich für eine Freiheit, die in ihren Kon¬
sequenzen zu einer allgemeinen Unsicherheit und zu einer Bedrohung der Ge¬
sundheit friedlicher Bürger führt, dort findet man in der Demokratie und den
Ideen des Liberalismus kein Hindernis, es zu verhüten, daß ein wüstes
und verwegenes Rowdytum sich breit mache und des Schutzes Hohn spreche,
welchen der Staat seinen Unterthanen schuldig ist. Die Schweizer bewahrte
ihr gesunder Sinn vor einem solchen Verkennen der Pflichten und Aufgabe»
des Staates, wie es im deutschen Reiche unter den radikalen Anhängern des
I-iÜWW lÄirs nicht selten zu finden ist. So lange man bei uns nicht ebenso
durchgreifend die Schankgesetzgebung umgestaltet, wie in den skandinavischen
Reichen und Holland, so lange dürfen wir auf eine wesentliche Verminderung
der Körperverletzungen nicht hoffen.

Ein zweiter Hauptgrund der Zunahme dieser Vergehen ist die Art und
Weise, in welcher die deutsche Strafrechtspflege gegen sie vorgeht. Wenn die
Klagen, welche über die ungerechtfertigte Milde der deutschen Rechtspflege laut
werden, auf irgend einem Gebiete begründet sind, so ist es auf dem der Körper¬
verletzungen. Es ist unglaublich, welches Unwesen hier mit der Milde getrieben
wird. Nach 8 223 ^ des Strafgesetzbuches wird die sogenannte gefährliche
Körperverletzung mit Gefüugnis von zwei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft;
sind nach Ansicht des Richters mildernde Umstände vorhanden, so kann entweder
auf Gefängnisstrafe von einem Tage bis zu drei Jahren oder auf eine Geld¬
strafe bis zu tausend Mark erkannt werden. Man werfe nun einen Blick auf
die Ergebnisse der Strafrechtspflege im Jahre 1884, um einen Begriff von der
^Strenge" zu erhalten, die der deutsche Richter gegen die rohesten aller Ubel-
thüter zur Anwendung bringt. Eine Gefängnisstrafe von mehr als zwei Jahren
wurde gegen 0,96 Prozent aller Verurteilten ausgesprochen, Gefängnis von


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[0485] Die Zunahme der Rohheit in Deutschland. biete des öffentlichen Lebens, so auf diesem, Gefahr im Verzüge ist. Je länger die Gesetzgebung wartet, gegen einen Zustand einzuschreiten, der ein Schandfleck der deutschen Kultur ist, umso schwieriger wird die Heilung, umso durchgreifender werden später die zur Anwendung gelangenden Mittel sein müssen. Es ist nicht zu verkennen, daß man in weiten Kreisen Deutschlands einem Vorgehen der Gesetzgebung in dieser Richtung nicht sehr günstig gegenübersteht. Es ist begreiflich, daß der doktrinäre Manchesterkultus, dessen Ideal der § 23 der Gewerbeordnung war, sich mit Abscheu von jedem Vorschlage abwendet, welcher weitere Beschränkungen der Schcinkfreiheit herbeiführen will; die Manchester¬ doktrin ist ja einseitig genug, um ihren Prinzipien zuliebe das Volksleben seinem Untergang entgegengehen zu lassen. Aber ein verwerflicher Mißbrauch der Freiheit ist es, wenn man sich pathetisch und mit Entrüstung im Namen derselben gegen die eben charakterisirten Bestrebungen verwahrt! Im Lande der radikalen Demokratie und des Referendums, im Lande der Freiheit, die auf den Bergen wohnt, denkt man in dieser Beziehung wesentlich anders als im Lager der deutschen Manchestermänuer. Dort bedankt man sich für eine Freiheit, die in ihren Kon¬ sequenzen zu einer allgemeinen Unsicherheit und zu einer Bedrohung der Ge¬ sundheit friedlicher Bürger führt, dort findet man in der Demokratie und den Ideen des Liberalismus kein Hindernis, es zu verhüten, daß ein wüstes und verwegenes Rowdytum sich breit mache und des Schutzes Hohn spreche, welchen der Staat seinen Unterthanen schuldig ist. Die Schweizer bewahrte ihr gesunder Sinn vor einem solchen Verkennen der Pflichten und Aufgabe» des Staates, wie es im deutschen Reiche unter den radikalen Anhängern des I-iÜWW lÄirs nicht selten zu finden ist. So lange man bei uns nicht ebenso durchgreifend die Schankgesetzgebung umgestaltet, wie in den skandinavischen Reichen und Holland, so lange dürfen wir auf eine wesentliche Verminderung der Körperverletzungen nicht hoffen. Ein zweiter Hauptgrund der Zunahme dieser Vergehen ist die Art und Weise, in welcher die deutsche Strafrechtspflege gegen sie vorgeht. Wenn die Klagen, welche über die ungerechtfertigte Milde der deutschen Rechtspflege laut werden, auf irgend einem Gebiete begründet sind, so ist es auf dem der Körper¬ verletzungen. Es ist unglaublich, welches Unwesen hier mit der Milde getrieben wird. Nach 8 223 ^ des Strafgesetzbuches wird die sogenannte gefährliche Körperverletzung mit Gefüugnis von zwei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft; sind nach Ansicht des Richters mildernde Umstände vorhanden, so kann entweder auf Gefängnisstrafe von einem Tage bis zu drei Jahren oder auf eine Geld¬ strafe bis zu tausend Mark erkannt werden. Man werfe nun einen Blick auf die Ergebnisse der Strafrechtspflege im Jahre 1884, um einen Begriff von der ^Strenge" zu erhalten, die der deutsche Richter gegen die rohesten aller Ubel- thüter zur Anwendung bringt. Eine Gefängnisstrafe von mehr als zwei Jahren wurde gegen 0,96 Prozent aller Verurteilten ausgesprochen, Gefängnis von

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/485>, abgerufen am 23.12.2024.