Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Zunahme der Rohheit in Deutschland.

tadelfrei, sondern recht vieles nur sehr unvollkommen und sehr tadelnswürdig
finden kann.

Ein Hauptgrund des gegenwärtigen Notstandes -- denn ein solcher liegt
unzweifelhaft vor -- ist und bleibt das unmäßige Trinken, insbesondre der un¬
mäßige Genuß von Branntwein, gegen den die Gesetzgebung bis jetzt immer noch
uicht mit der Strenge und Rücksichtslosigkeit vorgegangen ist, welche doch so not¬
wendig ist. Mag man immerhin demjenigen den Vorwurf einer reaktionären Gesin¬
nung entgegen schleudern, welcher die unseligen, im Geiste des radikalen Manchester-
tums abgefaßten Vorschriften der Gewerbeordnung von 1869, die sich auf das
Schankrecht beziehen, mit der Zunahme der Körperverletzungen in ursäch¬
lichen Zusammenhang bringt, dieser Zusammenhang läßt sich trotzdem nicht be-
streiten. Seit diesem Gesetze, welches bezüglich des in ihm enthaltenen neuen
Schcmkrechts mit Fug und Recht als ein Unglücksgesetz bezeichnet werden darf,
hat die Vermehrung der Körperverletzungen in Deutschland begonnen, und bis
auf den heutigen Tag mit ungeschwächter Kraft angedauert. Das Gesetz vom
23. Juli 1879, betreffend die Abänderung einiger Bestimmungen der Gewerbe¬
ordnung, welches den Landesregierungen gestattete, die Erlaubnis zum Aus¬
schaut von Branntwein oder zum Kleinhandel mit Spiritus an den Nachweis
des Bedürfnisses zu knüpfen, war nicht entfernt imstande, dem unmäßigen
Schnapsgenuß entgegenzuwirken; dies hat sich darin gezeigt, daß die Körper¬
verletzungen auch nach seinem Erlaß sich im stärksten Maße vermehrt haben.
Leider hat sich die Reichsgesetzgebung bis jetzt nicht veranlaßt gesehen, durch
thatkräftiges Vorgehen dem übermäßigen Trunk einen Damm entgegenzusetzen
und damit eine Quelle oder, besser gesagt, die Hauptquelle der Körperverletzungen
zu verstopfen, wie dies in andern Ländern, welche vormals unter den schlimmen
Folgen des Alkoholismus ebenfalls zu leiden hatten, wie in Schweden und
Norwegen, in Holland, auch in einigen Staaten Amerikas, mit besten: Erfolge
geschehe" ist. An Anregungen zu kräftigem Vorgehen hat es wahrlich nicht
gefehlt. Der Verein gegen den Mißbrauch geistiger Getränke hat bereits drei¬
mal eine Petition an den Reichstag gerichtet, in der eine derartige Verschärfung
des bestehenden Schankrechts vorgeschlagen wird, daß von ihr der angedeutete
Erfolg Wohl mit Sicherheit erwartet werden könnte. Es wird darin ein vor¬
läufiges Gesetz zur Unterdrückung aller neuen Wirtschaftskouzessivnen verlangt,
demnächst die Bestimmung der höchsten in einer Gemeinde zulässigen Zahl von
Wirtschaften und Kleinhandlnugen, in welchen Branntwein verkauft wird, ferner
die besondre Besteuerung derselben, das Verbot des Ansschankes an Minder¬
jährige, Verbot des Borgens u. tgi. in. Dieses wiederholte Vorgehen des
Vereins hat bis jetzt keinen Erfolg zu verzeichnen, wenn auch die verbündeten
Regierungen im Jahre 1885 ihre Vereitwilligkeit erklärten, der Reform des
Schankrechts in dem von dem Vereine gewünschten Sinne näher zu treten.
Dieser Mißerfolg ist umsomehr zu bedauern, als, wenn ans irgend einem Ge-


Die Zunahme der Rohheit in Deutschland.

tadelfrei, sondern recht vieles nur sehr unvollkommen und sehr tadelnswürdig
finden kann.

Ein Hauptgrund des gegenwärtigen Notstandes — denn ein solcher liegt
unzweifelhaft vor — ist und bleibt das unmäßige Trinken, insbesondre der un¬
mäßige Genuß von Branntwein, gegen den die Gesetzgebung bis jetzt immer noch
uicht mit der Strenge und Rücksichtslosigkeit vorgegangen ist, welche doch so not¬
wendig ist. Mag man immerhin demjenigen den Vorwurf einer reaktionären Gesin¬
nung entgegen schleudern, welcher die unseligen, im Geiste des radikalen Manchester-
tums abgefaßten Vorschriften der Gewerbeordnung von 1869, die sich auf das
Schankrecht beziehen, mit der Zunahme der Körperverletzungen in ursäch¬
lichen Zusammenhang bringt, dieser Zusammenhang läßt sich trotzdem nicht be-
streiten. Seit diesem Gesetze, welches bezüglich des in ihm enthaltenen neuen
Schcmkrechts mit Fug und Recht als ein Unglücksgesetz bezeichnet werden darf,
hat die Vermehrung der Körperverletzungen in Deutschland begonnen, und bis
auf den heutigen Tag mit ungeschwächter Kraft angedauert. Das Gesetz vom
23. Juli 1879, betreffend die Abänderung einiger Bestimmungen der Gewerbe¬
ordnung, welches den Landesregierungen gestattete, die Erlaubnis zum Aus¬
schaut von Branntwein oder zum Kleinhandel mit Spiritus an den Nachweis
des Bedürfnisses zu knüpfen, war nicht entfernt imstande, dem unmäßigen
Schnapsgenuß entgegenzuwirken; dies hat sich darin gezeigt, daß die Körper¬
verletzungen auch nach seinem Erlaß sich im stärksten Maße vermehrt haben.
Leider hat sich die Reichsgesetzgebung bis jetzt nicht veranlaßt gesehen, durch
thatkräftiges Vorgehen dem übermäßigen Trunk einen Damm entgegenzusetzen
und damit eine Quelle oder, besser gesagt, die Hauptquelle der Körperverletzungen
zu verstopfen, wie dies in andern Ländern, welche vormals unter den schlimmen
Folgen des Alkoholismus ebenfalls zu leiden hatten, wie in Schweden und
Norwegen, in Holland, auch in einigen Staaten Amerikas, mit besten: Erfolge
geschehe» ist. An Anregungen zu kräftigem Vorgehen hat es wahrlich nicht
gefehlt. Der Verein gegen den Mißbrauch geistiger Getränke hat bereits drei¬
mal eine Petition an den Reichstag gerichtet, in der eine derartige Verschärfung
des bestehenden Schankrechts vorgeschlagen wird, daß von ihr der angedeutete
Erfolg Wohl mit Sicherheit erwartet werden könnte. Es wird darin ein vor¬
läufiges Gesetz zur Unterdrückung aller neuen Wirtschaftskouzessivnen verlangt,
demnächst die Bestimmung der höchsten in einer Gemeinde zulässigen Zahl von
Wirtschaften und Kleinhandlnugen, in welchen Branntwein verkauft wird, ferner
die besondre Besteuerung derselben, das Verbot des Ansschankes an Minder¬
jährige, Verbot des Borgens u. tgi. in. Dieses wiederholte Vorgehen des
Vereins hat bis jetzt keinen Erfolg zu verzeichnen, wenn auch die verbündeten
Regierungen im Jahre 1885 ihre Vereitwilligkeit erklärten, der Reform des
Schankrechts in dem von dem Vereine gewünschten Sinne näher zu treten.
Dieser Mißerfolg ist umsomehr zu bedauern, als, wenn ans irgend einem Ge-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0484" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/200589"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Zunahme der Rohheit in Deutschland.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1508" prev="#ID_1507"> tadelfrei, sondern recht vieles nur sehr unvollkommen und sehr tadelnswürdig<lb/>
finden kann.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1509" next="#ID_1510"> Ein Hauptgrund des gegenwärtigen Notstandes &#x2014; denn ein solcher liegt<lb/>
unzweifelhaft vor &#x2014; ist und bleibt das unmäßige Trinken, insbesondre der un¬<lb/>
mäßige Genuß von Branntwein, gegen den die Gesetzgebung bis jetzt immer noch<lb/>
uicht mit der Strenge und Rücksichtslosigkeit vorgegangen ist, welche doch so not¬<lb/>
wendig ist. Mag man immerhin demjenigen den Vorwurf einer reaktionären Gesin¬<lb/>
nung entgegen schleudern, welcher die unseligen, im Geiste des radikalen Manchester-<lb/>
tums abgefaßten Vorschriften der Gewerbeordnung von 1869, die sich auf das<lb/>
Schankrecht beziehen, mit der Zunahme der Körperverletzungen in ursäch¬<lb/>
lichen Zusammenhang bringt, dieser Zusammenhang läßt sich trotzdem nicht be-<lb/>
streiten. Seit diesem Gesetze, welches bezüglich des in ihm enthaltenen neuen<lb/>
Schcmkrechts mit Fug und Recht als ein Unglücksgesetz bezeichnet werden darf,<lb/>
hat die Vermehrung der Körperverletzungen in Deutschland begonnen, und bis<lb/>
auf den heutigen Tag mit ungeschwächter Kraft angedauert. Das Gesetz vom<lb/>
23. Juli 1879, betreffend die Abänderung einiger Bestimmungen der Gewerbe¬<lb/>
ordnung, welches den Landesregierungen gestattete, die Erlaubnis zum Aus¬<lb/>
schaut von Branntwein oder zum Kleinhandel mit Spiritus an den Nachweis<lb/>
des Bedürfnisses zu knüpfen, war nicht entfernt imstande, dem unmäßigen<lb/>
Schnapsgenuß entgegenzuwirken; dies hat sich darin gezeigt, daß die Körper¬<lb/>
verletzungen auch nach seinem Erlaß sich im stärksten Maße vermehrt haben.<lb/>
Leider hat sich die Reichsgesetzgebung bis jetzt nicht veranlaßt gesehen, durch<lb/>
thatkräftiges Vorgehen dem übermäßigen Trunk einen Damm entgegenzusetzen<lb/>
und damit eine Quelle oder, besser gesagt, die Hauptquelle der Körperverletzungen<lb/>
zu verstopfen, wie dies in andern Ländern, welche vormals unter den schlimmen<lb/>
Folgen des Alkoholismus ebenfalls zu leiden hatten, wie in Schweden und<lb/>
Norwegen, in Holland, auch in einigen Staaten Amerikas, mit besten: Erfolge<lb/>
geschehe» ist. An Anregungen zu kräftigem Vorgehen hat es wahrlich nicht<lb/>
gefehlt. Der Verein gegen den Mißbrauch geistiger Getränke hat bereits drei¬<lb/>
mal eine Petition an den Reichstag gerichtet, in der eine derartige Verschärfung<lb/>
des bestehenden Schankrechts vorgeschlagen wird, daß von ihr der angedeutete<lb/>
Erfolg Wohl mit Sicherheit erwartet werden könnte. Es wird darin ein vor¬<lb/>
läufiges Gesetz zur Unterdrückung aller neuen Wirtschaftskouzessivnen verlangt,<lb/>
demnächst die Bestimmung der höchsten in einer Gemeinde zulässigen Zahl von<lb/>
Wirtschaften und Kleinhandlnugen, in welchen Branntwein verkauft wird, ferner<lb/>
die besondre Besteuerung derselben, das Verbot des Ansschankes an Minder¬<lb/>
jährige, Verbot des Borgens u. tgi. in. Dieses wiederholte Vorgehen des<lb/>
Vereins hat bis jetzt keinen Erfolg zu verzeichnen, wenn auch die verbündeten<lb/>
Regierungen im Jahre 1885 ihre Vereitwilligkeit erklärten, der Reform des<lb/>
Schankrechts in dem von dem Vereine gewünschten Sinne näher zu treten.<lb/>
Dieser Mißerfolg ist umsomehr zu bedauern, als, wenn ans irgend einem Ge-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0484] Die Zunahme der Rohheit in Deutschland. tadelfrei, sondern recht vieles nur sehr unvollkommen und sehr tadelnswürdig finden kann. Ein Hauptgrund des gegenwärtigen Notstandes — denn ein solcher liegt unzweifelhaft vor — ist und bleibt das unmäßige Trinken, insbesondre der un¬ mäßige Genuß von Branntwein, gegen den die Gesetzgebung bis jetzt immer noch uicht mit der Strenge und Rücksichtslosigkeit vorgegangen ist, welche doch so not¬ wendig ist. Mag man immerhin demjenigen den Vorwurf einer reaktionären Gesin¬ nung entgegen schleudern, welcher die unseligen, im Geiste des radikalen Manchester- tums abgefaßten Vorschriften der Gewerbeordnung von 1869, die sich auf das Schankrecht beziehen, mit der Zunahme der Körperverletzungen in ursäch¬ lichen Zusammenhang bringt, dieser Zusammenhang läßt sich trotzdem nicht be- streiten. Seit diesem Gesetze, welches bezüglich des in ihm enthaltenen neuen Schcmkrechts mit Fug und Recht als ein Unglücksgesetz bezeichnet werden darf, hat die Vermehrung der Körperverletzungen in Deutschland begonnen, und bis auf den heutigen Tag mit ungeschwächter Kraft angedauert. Das Gesetz vom 23. Juli 1879, betreffend die Abänderung einiger Bestimmungen der Gewerbe¬ ordnung, welches den Landesregierungen gestattete, die Erlaubnis zum Aus¬ schaut von Branntwein oder zum Kleinhandel mit Spiritus an den Nachweis des Bedürfnisses zu knüpfen, war nicht entfernt imstande, dem unmäßigen Schnapsgenuß entgegenzuwirken; dies hat sich darin gezeigt, daß die Körper¬ verletzungen auch nach seinem Erlaß sich im stärksten Maße vermehrt haben. Leider hat sich die Reichsgesetzgebung bis jetzt nicht veranlaßt gesehen, durch thatkräftiges Vorgehen dem übermäßigen Trunk einen Damm entgegenzusetzen und damit eine Quelle oder, besser gesagt, die Hauptquelle der Körperverletzungen zu verstopfen, wie dies in andern Ländern, welche vormals unter den schlimmen Folgen des Alkoholismus ebenfalls zu leiden hatten, wie in Schweden und Norwegen, in Holland, auch in einigen Staaten Amerikas, mit besten: Erfolge geschehe» ist. An Anregungen zu kräftigem Vorgehen hat es wahrlich nicht gefehlt. Der Verein gegen den Mißbrauch geistiger Getränke hat bereits drei¬ mal eine Petition an den Reichstag gerichtet, in der eine derartige Verschärfung des bestehenden Schankrechts vorgeschlagen wird, daß von ihr der angedeutete Erfolg Wohl mit Sicherheit erwartet werden könnte. Es wird darin ein vor¬ läufiges Gesetz zur Unterdrückung aller neuen Wirtschaftskouzessivnen verlangt, demnächst die Bestimmung der höchsten in einer Gemeinde zulässigen Zahl von Wirtschaften und Kleinhandlnugen, in welchen Branntwein verkauft wird, ferner die besondre Besteuerung derselben, das Verbot des Ansschankes an Minder¬ jährige, Verbot des Borgens u. tgi. in. Dieses wiederholte Vorgehen des Vereins hat bis jetzt keinen Erfolg zu verzeichnen, wenn auch die verbündeten Regierungen im Jahre 1885 ihre Vereitwilligkeit erklärten, der Reform des Schankrechts in dem von dem Vereine gewünschten Sinne näher zu treten. Dieser Mißerfolg ist umsomehr zu bedauern, als, wenn ans irgend einem Ge-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/484
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/484>, abgerufen am 03.07.2024.