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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Toynbee-Hall,

sich durch, so gut es gehen will. Andre seinesgleichen lungern in den Docks
herum. Hier, wo die Schiffe kommen und gehen, findet sich vielleicht ein kleiner
Verdienst, der ein Mittagbrot einbringt.

Gefährlicher noch als die leiblichen Gefahren sind die sittlichen, denen solche
Kinder ausgesetzt sind. Bei wiederholten Erkundigungen erfuhr ich, daß vier
Pence ein ziemlich hoher Tagesverdienst ist. Dies genügt etwa zur Nahrung;
ein anständiges Obdach können sie damit nicht bezahlen und kriechen deshalb
unter, wo sie können. In was für Gesellschaft mögen sie sich da oft befinden!
Jeder Einfluß, der auf den menschlichen Geist bildend wirkt, bleibt ihnen fern.
Der allgemeinen Schulpflicht und den Lellool Loarcl Visitors gegenüber, die
über die Durchführung des Gesetzes zu wachen haben, sind solche Existenzen
ein wahrer Hohn. Sich unter einander zum Verwechseln ähnlich, verschwinden
sie oft von ihrem gewöhnlichen Schauplatz. Heute tauchen sie hier, morgen
dort auf, je nachdem sie einen Verdienst entdecken. Ja es mag unter ihnen
selbst solche geben, die überhaupt keinem Menschen als Individuen bekannt sind.

Hier bietet sich dem Menschenfreunde ein wichtiges Arbeitsfeld. Findet
doch in jenen Scharen herumirrender Kinder die Verbrecherwelt der Millionen¬
stadt ihren sichersten Nachwuchs. Von dieser Einsicht ist nun in jüngster Zeit in
London eine höchst segensreiche Bewegung ausgegangen, welche allenthalben so¬
genannte do^'s "zlnvL oder r-ig'g'vel solrools gründet. Entweder finden die Kinder
in ihnen eine dauernde Unterkunft, wie besonders in den Rettnngshünsern für
Knaben und Mädchen, welche Dr. Barnardo angelegt hat. Die Klubs haben
nur den Zweck, den Kindern, in diesem Falle besonders Knaben, angemessene
Gesellschaft zu bieten, in der sie den Abend zubringen können. Unter den Augen
eines freundlichen Geistlichen mag hier mancher zum erstenmale eine Spur des
Vertrauens empfinden, das dem Kinde gegenüber Eltern und Lehrern eigen
sein soll.

Mitarbeit auf diesem Gebiete, sei es als Leiter eines Klubs, sei es als
bloße Besucher, halten die Residenten von Toynbee-Hall für eine ihrer lohnendsten
Aufgaben, deren Erfüllung fast stets mit sichtbarem Erfolge verknüpft ist. Indem
sie ihre freien Abende unter diesen Kindern zubringen, ihnen Geschichten erzählen
oder vorlesen, ihnen das Leben soweit als möglich zu erheitern versuchen, mag
manchem ihrer Zöglinge zum eignen Erstaunen die Erkenntnis aufgehen, daß
es auch menschliche Handlungen giebt, die nicht ausschließlich auf Selbstsucht
beruhen. Unsre Freunde suchen den Sinn für Unterhaltung und Geselligkeit
in den Kindern zu erwecken. Denn auch hierin sind sie schlechter gestellt als
andre ihresgleichen. Nicht als ob es zum Kinderspiel kostbaren Aufwandes be¬
dürfte; aber auch spielen will gelernt sein, und dazu hat jenen verlassenen
Kindern bisher die Gelegenheit gefehlt. Ferner legt der Klub, wenn es seine
Mittel erlauben, ein Bibliothek an. Er sorgt auch für das spätere Fortkommen
seiner Angehörigen; man schickt sie in Schulen, sucht ihnen hier oder dort einen


Grenzboten I. 1837.
Toynbee-Hall,

sich durch, so gut es gehen will. Andre seinesgleichen lungern in den Docks
herum. Hier, wo die Schiffe kommen und gehen, findet sich vielleicht ein kleiner
Verdienst, der ein Mittagbrot einbringt.

Gefährlicher noch als die leiblichen Gefahren sind die sittlichen, denen solche
Kinder ausgesetzt sind. Bei wiederholten Erkundigungen erfuhr ich, daß vier
Pence ein ziemlich hoher Tagesverdienst ist. Dies genügt etwa zur Nahrung;
ein anständiges Obdach können sie damit nicht bezahlen und kriechen deshalb
unter, wo sie können. In was für Gesellschaft mögen sie sich da oft befinden!
Jeder Einfluß, der auf den menschlichen Geist bildend wirkt, bleibt ihnen fern.
Der allgemeinen Schulpflicht und den Lellool Loarcl Visitors gegenüber, die
über die Durchführung des Gesetzes zu wachen haben, sind solche Existenzen
ein wahrer Hohn. Sich unter einander zum Verwechseln ähnlich, verschwinden
sie oft von ihrem gewöhnlichen Schauplatz. Heute tauchen sie hier, morgen
dort auf, je nachdem sie einen Verdienst entdecken. Ja es mag unter ihnen
selbst solche geben, die überhaupt keinem Menschen als Individuen bekannt sind.

Hier bietet sich dem Menschenfreunde ein wichtiges Arbeitsfeld. Findet
doch in jenen Scharen herumirrender Kinder die Verbrecherwelt der Millionen¬
stadt ihren sichersten Nachwuchs. Von dieser Einsicht ist nun in jüngster Zeit in
London eine höchst segensreiche Bewegung ausgegangen, welche allenthalben so¬
genannte do^'s «zlnvL oder r-ig'g'vel solrools gründet. Entweder finden die Kinder
in ihnen eine dauernde Unterkunft, wie besonders in den Rettnngshünsern für
Knaben und Mädchen, welche Dr. Barnardo angelegt hat. Die Klubs haben
nur den Zweck, den Kindern, in diesem Falle besonders Knaben, angemessene
Gesellschaft zu bieten, in der sie den Abend zubringen können. Unter den Augen
eines freundlichen Geistlichen mag hier mancher zum erstenmale eine Spur des
Vertrauens empfinden, das dem Kinde gegenüber Eltern und Lehrern eigen
sein soll.

Mitarbeit auf diesem Gebiete, sei es als Leiter eines Klubs, sei es als
bloße Besucher, halten die Residenten von Toynbee-Hall für eine ihrer lohnendsten
Aufgaben, deren Erfüllung fast stets mit sichtbarem Erfolge verknüpft ist. Indem
sie ihre freien Abende unter diesen Kindern zubringen, ihnen Geschichten erzählen
oder vorlesen, ihnen das Leben soweit als möglich zu erheitern versuchen, mag
manchem ihrer Zöglinge zum eignen Erstaunen die Erkenntnis aufgehen, daß
es auch menschliche Handlungen giebt, die nicht ausschließlich auf Selbstsucht
beruhen. Unsre Freunde suchen den Sinn für Unterhaltung und Geselligkeit
in den Kindern zu erwecken. Denn auch hierin sind sie schlechter gestellt als
andre ihresgleichen. Nicht als ob es zum Kinderspiel kostbaren Aufwandes be¬
dürfte; aber auch spielen will gelernt sein, und dazu hat jenen verlassenen
Kindern bisher die Gelegenheit gefehlt. Ferner legt der Klub, wenn es seine
Mittel erlauben, ein Bibliothek an. Er sorgt auch für das spätere Fortkommen
seiner Angehörigen; man schickt sie in Schulen, sucht ihnen hier oder dort einen


Grenzboten I. 1837.
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[0481] Toynbee-Hall, sich durch, so gut es gehen will. Andre seinesgleichen lungern in den Docks herum. Hier, wo die Schiffe kommen und gehen, findet sich vielleicht ein kleiner Verdienst, der ein Mittagbrot einbringt. Gefährlicher noch als die leiblichen Gefahren sind die sittlichen, denen solche Kinder ausgesetzt sind. Bei wiederholten Erkundigungen erfuhr ich, daß vier Pence ein ziemlich hoher Tagesverdienst ist. Dies genügt etwa zur Nahrung; ein anständiges Obdach können sie damit nicht bezahlen und kriechen deshalb unter, wo sie können. In was für Gesellschaft mögen sie sich da oft befinden! Jeder Einfluß, der auf den menschlichen Geist bildend wirkt, bleibt ihnen fern. Der allgemeinen Schulpflicht und den Lellool Loarcl Visitors gegenüber, die über die Durchführung des Gesetzes zu wachen haben, sind solche Existenzen ein wahrer Hohn. Sich unter einander zum Verwechseln ähnlich, verschwinden sie oft von ihrem gewöhnlichen Schauplatz. Heute tauchen sie hier, morgen dort auf, je nachdem sie einen Verdienst entdecken. Ja es mag unter ihnen selbst solche geben, die überhaupt keinem Menschen als Individuen bekannt sind. Hier bietet sich dem Menschenfreunde ein wichtiges Arbeitsfeld. Findet doch in jenen Scharen herumirrender Kinder die Verbrecherwelt der Millionen¬ stadt ihren sichersten Nachwuchs. Von dieser Einsicht ist nun in jüngster Zeit in London eine höchst segensreiche Bewegung ausgegangen, welche allenthalben so¬ genannte do^'s «zlnvL oder r-ig'g'vel solrools gründet. Entweder finden die Kinder in ihnen eine dauernde Unterkunft, wie besonders in den Rettnngshünsern für Knaben und Mädchen, welche Dr. Barnardo angelegt hat. Die Klubs haben nur den Zweck, den Kindern, in diesem Falle besonders Knaben, angemessene Gesellschaft zu bieten, in der sie den Abend zubringen können. Unter den Augen eines freundlichen Geistlichen mag hier mancher zum erstenmale eine Spur des Vertrauens empfinden, das dem Kinde gegenüber Eltern und Lehrern eigen sein soll. Mitarbeit auf diesem Gebiete, sei es als Leiter eines Klubs, sei es als bloße Besucher, halten die Residenten von Toynbee-Hall für eine ihrer lohnendsten Aufgaben, deren Erfüllung fast stets mit sichtbarem Erfolge verknüpft ist. Indem sie ihre freien Abende unter diesen Kindern zubringen, ihnen Geschichten erzählen oder vorlesen, ihnen das Leben soweit als möglich zu erheitern versuchen, mag manchem ihrer Zöglinge zum eignen Erstaunen die Erkenntnis aufgehen, daß es auch menschliche Handlungen giebt, die nicht ausschließlich auf Selbstsucht beruhen. Unsre Freunde suchen den Sinn für Unterhaltung und Geselligkeit in den Kindern zu erwecken. Denn auch hierin sind sie schlechter gestellt als andre ihresgleichen. Nicht als ob es zum Kinderspiel kostbaren Aufwandes be¬ dürfte; aber auch spielen will gelernt sein, und dazu hat jenen verlassenen Kindern bisher die Gelegenheit gefehlt. Ferner legt der Klub, wenn es seine Mittel erlauben, ein Bibliothek an. Er sorgt auch für das spätere Fortkommen seiner Angehörigen; man schickt sie in Schulen, sucht ihnen hier oder dort einen Grenzboten I. 1837.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/481>, abgerufen am 23.12.2024.