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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Toynboe-Hall.

uns zutrat und auf das Bild vor uns -- eine sonnige Landschaft mit wogendem
Kornfeld -- deutend fragte: "Ist dies das Bild, das der Katalog als Korn¬
feld bezeichnet? Ich habe mir immer vorgestellt, ein Kornfeld müsse ganz anders
aussehen." Welcher Kontrast!

Die Thätigkeit Toynbee-Halts als einer Anstalt zu Unterricht und Er¬
ziehung geht aber noch über die Grenzen der Extension-Movements hinaus.
Besondre Rücksicht hat mau den künftigen Volksschnllehrcrn zugewandt, eine
Thatsache, die in den eigentümlichen und für uns ganz fremdartigen Verhält¬
nissen der Schule in England ihren Grund hat.

Während wir das Gebiet der Schule, insbesondre das der Volksschule,
vollständig dem Staate zuweisen, war in England bis in unsre Tage nach der
Weise des Mittelalters das gesamte Erziehungswesen der Privatthätigkeit über¬
lassen. Die allgemeine Schulpflicht, in Preußen seit mehr als einem Jahr¬
hundert bestehend, wurde in England erst vor kurzem eingeführt. Auch die
Ausbildung der Lehrer ist reine Privatsache. Lehrerseminare giebt es in Eng¬
land nicht, sondern die jungeu Leute müssen selber sehen, wo sie die nötigen
Kenntnisse am besten erwerben. Ihre Vorbildung mag daher oft recht lücken¬
haft fein, und das umsomehr, als ihre Kräfte schon während der Vorbereitungs-
zeit mit Berufspflichten überbürdet zu sein pflegen. Unter dein Vorwande, sie
praktisch auszubilden, in Wahrheit aber, um ihre Kräfte vorzeitig auszunutzen,
verwendet man sie bereits vor bestandener Prüfung und oft kaum erwachsen in
den Schulen als Hilfslehrer. Haben sie aber endlich eine feste Lehreranstellung
erlangt, so sind sie damit eines sichern Einkommens noch durchaus nicht gewiß.
Was uns unglaublich erscheinen mag, man bezahlt sie nach der Kopfzahl der
Schüler, welche die jährliche Prüfung bestehen. Daher lassen die Lehrer ge¬
wöhnlich die tüchtigsten Schüler, welche wahrscheinlich auch ohne sie die Prüfung
bestehen werden, beiseite liegen. Ihr Interesse weist sie dahin, nicht möglichst
gute, sondern möglichst viele mittelmäßige Schüler zu haben, und so läuft alles
auf ein Einblüuen der notdürftigsten Prüfnngskenntnisse in unbegabte Köpfe
hinaus.

Das sind Mißstände, gegen welche jene gesamte Richtung, die durch Toyubee-
Hall vertreten ist, aufs lebhafteste eintritt. Man hält eine gänzliche Reform
der Schulgesetzgebung für notwendig, und verlangt eine Umgestaltung der Volks¬
schule, vielfach nach deutschem Muster. Trotzdem haben aber auch hier die Re¬
sidenten von Toynbee-Hull nicht die Sache für hoffnungslos erklärt, sondern
Hand ans Werk gelegt, um wenigstens nach Kräften dem Übel entgegenzuwirken.
Fast jeder der Residenten versammelt einmal wöchentlich eine Anzahl jener
jungen Leute, die den Beruf des Vvlksschullehrers ergreifen wollen, zu einer
sogenannten "ülass um sich. Der Zweck dieser Vereinigungen ist gemeinsame
Lektüre, welche man entweder aus dem Gebiete einer Fachwissenschaft oder der
englischen Literatur wühlt. Zugleich unterhält man sich mit ihnen freundschaftlich


Toynboe-Hall.

uns zutrat und auf das Bild vor uns — eine sonnige Landschaft mit wogendem
Kornfeld — deutend fragte: „Ist dies das Bild, das der Katalog als Korn¬
feld bezeichnet? Ich habe mir immer vorgestellt, ein Kornfeld müsse ganz anders
aussehen." Welcher Kontrast!

Die Thätigkeit Toynbee-Halts als einer Anstalt zu Unterricht und Er¬
ziehung geht aber noch über die Grenzen der Extension-Movements hinaus.
Besondre Rücksicht hat mau den künftigen Volksschnllehrcrn zugewandt, eine
Thatsache, die in den eigentümlichen und für uns ganz fremdartigen Verhält¬
nissen der Schule in England ihren Grund hat.

Während wir das Gebiet der Schule, insbesondre das der Volksschule,
vollständig dem Staate zuweisen, war in England bis in unsre Tage nach der
Weise des Mittelalters das gesamte Erziehungswesen der Privatthätigkeit über¬
lassen. Die allgemeine Schulpflicht, in Preußen seit mehr als einem Jahr¬
hundert bestehend, wurde in England erst vor kurzem eingeführt. Auch die
Ausbildung der Lehrer ist reine Privatsache. Lehrerseminare giebt es in Eng¬
land nicht, sondern die jungeu Leute müssen selber sehen, wo sie die nötigen
Kenntnisse am besten erwerben. Ihre Vorbildung mag daher oft recht lücken¬
haft fein, und das umsomehr, als ihre Kräfte schon während der Vorbereitungs-
zeit mit Berufspflichten überbürdet zu sein pflegen. Unter dein Vorwande, sie
praktisch auszubilden, in Wahrheit aber, um ihre Kräfte vorzeitig auszunutzen,
verwendet man sie bereits vor bestandener Prüfung und oft kaum erwachsen in
den Schulen als Hilfslehrer. Haben sie aber endlich eine feste Lehreranstellung
erlangt, so sind sie damit eines sichern Einkommens noch durchaus nicht gewiß.
Was uns unglaublich erscheinen mag, man bezahlt sie nach der Kopfzahl der
Schüler, welche die jährliche Prüfung bestehen. Daher lassen die Lehrer ge¬
wöhnlich die tüchtigsten Schüler, welche wahrscheinlich auch ohne sie die Prüfung
bestehen werden, beiseite liegen. Ihr Interesse weist sie dahin, nicht möglichst
gute, sondern möglichst viele mittelmäßige Schüler zu haben, und so läuft alles
auf ein Einblüuen der notdürftigsten Prüfnngskenntnisse in unbegabte Köpfe
hinaus.

Das sind Mißstände, gegen welche jene gesamte Richtung, die durch Toyubee-
Hall vertreten ist, aufs lebhafteste eintritt. Man hält eine gänzliche Reform
der Schulgesetzgebung für notwendig, und verlangt eine Umgestaltung der Volks¬
schule, vielfach nach deutschem Muster. Trotzdem haben aber auch hier die Re¬
sidenten von Toynbee-Hull nicht die Sache für hoffnungslos erklärt, sondern
Hand ans Werk gelegt, um wenigstens nach Kräften dem Übel entgegenzuwirken.
Fast jeder der Residenten versammelt einmal wöchentlich eine Anzahl jener
jungen Leute, die den Beruf des Vvlksschullehrers ergreifen wollen, zu einer
sogenannten «ülass um sich. Der Zweck dieser Vereinigungen ist gemeinsame
Lektüre, welche man entweder aus dem Gebiete einer Fachwissenschaft oder der
englischen Literatur wühlt. Zugleich unterhält man sich mit ihnen freundschaftlich


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/479>, abgerufen am 23.12.2024.