Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Zugenderinnerungen.

Daß ich nicht vollkommen gesund sei, konnte den Eltern ungeachtet meines
Schweigens nicht lange verborgen bleiben. Eigentlich krank war ich nicht, konnte
mich also auch selbst nicht für krank halten. Der Vater, dem mein Aussehen
nicht gefallen und das stille Wesen, dem meine eingeborne Lebhaftigkeit Platz
machte, in Sorgen stürzen mochte, versuchte die Stärke meiner Nerven auf
eigentümliche Weise zu erproben. Er pflegte nämlich, ohne daß ich eine Ahnung
davon hatte, ganz plötzlich mit wuchtiger Hand vor mir ans den Tisch oder
auf irgend ein Möbel, das von so heftiger Berührung stark erdröhnte, nieder¬
zuschlagen. Natürlich fuhr ich dabei heftig zusammen, worauf der Vater kopf¬
schüttelnd zur Mutter ging und seine Meinung dahin abgab, daß ich wirklich
schwache Nerven zu haben scheine und dies eine recht ärgerliche Entdeckung sei.

Ein kindischer, unüberlegter Schabernack sollte die Sache zur endlichen Ent¬
scheidung bringen. Der Sohn eines benachbarten Bauern, dessen Vater das
Amt eines Kirchenvaters bekleidete und als solcher eine ebenso geachtete Stellung
in der Gemeinde einnahm als der Gerichtsmauu, war infolge eiues unglücklichen
Falles lahm geworden. Er hinkte entsetzlich, konnte sich nur sprungweise auf
Krücken fortbewegen und deshalb an unsern Spielen, die meistenteils schnelle
Bewegung erforderten, selten Teil nehmen. Wurde uns der Lahme unbequem,
so schlössen wir ihn auch ohne langes Besinnen aus und nötigten ihn so, unserm
Spiele unthätig zuzusehen. Das verdroß den sonst ganz gescheiten Jungen,
regte ihm die Galle auf und veranlaßte ihn, uns hinterm Rücken manchen
Possen zu spielen.

Eines Abends im Spätherbste sah der Lahme mich und den Sohn des
Gcrichtsmannes die Dorfgasse herunterkommen, die hart an dem Gartenzaune
seines väterlichen Hofes vorüberzog. Schnell holte er den großen Hund, der
als Wächter des Hauses im Hofe an der Kette lag. Das Tier war, wenn es
sich frei fühlte, durchaus gutartig und niemand gefährlich, es brach aber, wenn
es dazu angefeuert wurde, in lautes Gebell aus und hob sich dabei auf die
Hinterfüße. Zu diesem in der Dunkelheit sehr unüberlegten Kunststücke spornte
der uns grollende Knabe durch gellenden Pfiff den riesigen Hund an, der mit
wütendem Gebell den Zaun übersprang und mit glühenden Augen und er¬
hobenen Tatzen uns den Weg versperrte.

Wir erschraken beide über die Maßen, obwohl der Hund uns kein Leid
zufügte, vielmehr uns alsbald schweifwedelnd umkreiste, als wolle er uns um
Verzeihung bitten. Allein das Unglück war doch geschehen. Am ganzen Leibe
zitternd kam ich im Vaterhause an, fühlte mich sofort unwohl, verfiel noch
während der Nacht in starkes Fieber und lag schon am nächsten Morgen in
wilden Phantasien. Ein furchtbares Nervenfieber, dem sich allgemeines Nerven¬
leiden zugesellte, brachte der gewaltige Schreck in dein schon längst kränkelnden
Körper zum Ausbruch. Mein gesünderer Begleiter kam mit dem bloßen
Schrecken davon. (Fortsetzung folgt.)




Zugenderinnerungen.

Daß ich nicht vollkommen gesund sei, konnte den Eltern ungeachtet meines
Schweigens nicht lange verborgen bleiben. Eigentlich krank war ich nicht, konnte
mich also auch selbst nicht für krank halten. Der Vater, dem mein Aussehen
nicht gefallen und das stille Wesen, dem meine eingeborne Lebhaftigkeit Platz
machte, in Sorgen stürzen mochte, versuchte die Stärke meiner Nerven auf
eigentümliche Weise zu erproben. Er pflegte nämlich, ohne daß ich eine Ahnung
davon hatte, ganz plötzlich mit wuchtiger Hand vor mir ans den Tisch oder
auf irgend ein Möbel, das von so heftiger Berührung stark erdröhnte, nieder¬
zuschlagen. Natürlich fuhr ich dabei heftig zusammen, worauf der Vater kopf¬
schüttelnd zur Mutter ging und seine Meinung dahin abgab, daß ich wirklich
schwache Nerven zu haben scheine und dies eine recht ärgerliche Entdeckung sei.

Ein kindischer, unüberlegter Schabernack sollte die Sache zur endlichen Ent¬
scheidung bringen. Der Sohn eines benachbarten Bauern, dessen Vater das
Amt eines Kirchenvaters bekleidete und als solcher eine ebenso geachtete Stellung
in der Gemeinde einnahm als der Gerichtsmauu, war infolge eiues unglücklichen
Falles lahm geworden. Er hinkte entsetzlich, konnte sich nur sprungweise auf
Krücken fortbewegen und deshalb an unsern Spielen, die meistenteils schnelle
Bewegung erforderten, selten Teil nehmen. Wurde uns der Lahme unbequem,
so schlössen wir ihn auch ohne langes Besinnen aus und nötigten ihn so, unserm
Spiele unthätig zuzusehen. Das verdroß den sonst ganz gescheiten Jungen,
regte ihm die Galle auf und veranlaßte ihn, uns hinterm Rücken manchen
Possen zu spielen.

Eines Abends im Spätherbste sah der Lahme mich und den Sohn des
Gcrichtsmannes die Dorfgasse herunterkommen, die hart an dem Gartenzaune
seines väterlichen Hofes vorüberzog. Schnell holte er den großen Hund, der
als Wächter des Hauses im Hofe an der Kette lag. Das Tier war, wenn es
sich frei fühlte, durchaus gutartig und niemand gefährlich, es brach aber, wenn
es dazu angefeuert wurde, in lautes Gebell aus und hob sich dabei auf die
Hinterfüße. Zu diesem in der Dunkelheit sehr unüberlegten Kunststücke spornte
der uns grollende Knabe durch gellenden Pfiff den riesigen Hund an, der mit
wütendem Gebell den Zaun übersprang und mit glühenden Augen und er¬
hobenen Tatzen uns den Weg versperrte.

Wir erschraken beide über die Maßen, obwohl der Hund uns kein Leid
zufügte, vielmehr uns alsbald schweifwedelnd umkreiste, als wolle er uns um
Verzeihung bitten. Allein das Unglück war doch geschehen. Am ganzen Leibe
zitternd kam ich im Vaterhause an, fühlte mich sofort unwohl, verfiel noch
während der Nacht in starkes Fieber und lag schon am nächsten Morgen in
wilden Phantasien. Ein furchtbares Nervenfieber, dem sich allgemeines Nerven¬
leiden zugesellte, brachte der gewaltige Schreck in dein schon längst kränkelnden
Körper zum Ausbruch. Mein gesünderer Begleiter kam mit dem bloßen
Schrecken davon. (Fortsetzung folgt.)




<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0460" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/200565"/>
          <fw type="header" place="top"> Zugenderinnerungen.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1438"> Daß ich nicht vollkommen gesund sei, konnte den Eltern ungeachtet meines<lb/>
Schweigens nicht lange verborgen bleiben. Eigentlich krank war ich nicht, konnte<lb/>
mich also auch selbst nicht für krank halten. Der Vater, dem mein Aussehen<lb/>
nicht gefallen und das stille Wesen, dem meine eingeborne Lebhaftigkeit Platz<lb/>
machte, in Sorgen stürzen mochte, versuchte die Stärke meiner Nerven auf<lb/>
eigentümliche Weise zu erproben. Er pflegte nämlich, ohne daß ich eine Ahnung<lb/>
davon hatte, ganz plötzlich mit wuchtiger Hand vor mir ans den Tisch oder<lb/>
auf irgend ein Möbel, das von so heftiger Berührung stark erdröhnte, nieder¬<lb/>
zuschlagen. Natürlich fuhr ich dabei heftig zusammen, worauf der Vater kopf¬<lb/>
schüttelnd zur Mutter ging und seine Meinung dahin abgab, daß ich wirklich<lb/>
schwache Nerven zu haben scheine und dies eine recht ärgerliche Entdeckung sei.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1439"> Ein kindischer, unüberlegter Schabernack sollte die Sache zur endlichen Ent¬<lb/>
scheidung bringen. Der Sohn eines benachbarten Bauern, dessen Vater das<lb/>
Amt eines Kirchenvaters bekleidete und als solcher eine ebenso geachtete Stellung<lb/>
in der Gemeinde einnahm als der Gerichtsmauu, war infolge eiues unglücklichen<lb/>
Falles lahm geworden. Er hinkte entsetzlich, konnte sich nur sprungweise auf<lb/>
Krücken fortbewegen und deshalb an unsern Spielen, die meistenteils schnelle<lb/>
Bewegung erforderten, selten Teil nehmen. Wurde uns der Lahme unbequem,<lb/>
so schlössen wir ihn auch ohne langes Besinnen aus und nötigten ihn so, unserm<lb/>
Spiele unthätig zuzusehen. Das verdroß den sonst ganz gescheiten Jungen,<lb/>
regte ihm die Galle auf und veranlaßte ihn, uns hinterm Rücken manchen<lb/>
Possen zu spielen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1440"> Eines Abends im Spätherbste sah der Lahme mich und den Sohn des<lb/>
Gcrichtsmannes die Dorfgasse herunterkommen, die hart an dem Gartenzaune<lb/>
seines väterlichen Hofes vorüberzog. Schnell holte er den großen Hund, der<lb/>
als Wächter des Hauses im Hofe an der Kette lag. Das Tier war, wenn es<lb/>
sich frei fühlte, durchaus gutartig und niemand gefährlich, es brach aber, wenn<lb/>
es dazu angefeuert wurde, in lautes Gebell aus und hob sich dabei auf die<lb/>
Hinterfüße. Zu diesem in der Dunkelheit sehr unüberlegten Kunststücke spornte<lb/>
der uns grollende Knabe durch gellenden Pfiff den riesigen Hund an, der mit<lb/>
wütendem Gebell den Zaun übersprang und mit glühenden Augen und er¬<lb/>
hobenen Tatzen uns den Weg versperrte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1441"> Wir erschraken beide über die Maßen, obwohl der Hund uns kein Leid<lb/>
zufügte, vielmehr uns alsbald schweifwedelnd umkreiste, als wolle er uns um<lb/>
Verzeihung bitten. Allein das Unglück war doch geschehen. Am ganzen Leibe<lb/>
zitternd kam ich im Vaterhause an, fühlte mich sofort unwohl, verfiel noch<lb/>
während der Nacht in starkes Fieber und lag schon am nächsten Morgen in<lb/>
wilden Phantasien. Ein furchtbares Nervenfieber, dem sich allgemeines Nerven¬<lb/>
leiden zugesellte, brachte der gewaltige Schreck in dein schon längst kränkelnden<lb/>
Körper zum Ausbruch. Mein gesünderer Begleiter kam mit dem bloßen<lb/>
Schrecken davon. (Fortsetzung folgt.)</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0460] Zugenderinnerungen. Daß ich nicht vollkommen gesund sei, konnte den Eltern ungeachtet meines Schweigens nicht lange verborgen bleiben. Eigentlich krank war ich nicht, konnte mich also auch selbst nicht für krank halten. Der Vater, dem mein Aussehen nicht gefallen und das stille Wesen, dem meine eingeborne Lebhaftigkeit Platz machte, in Sorgen stürzen mochte, versuchte die Stärke meiner Nerven auf eigentümliche Weise zu erproben. Er pflegte nämlich, ohne daß ich eine Ahnung davon hatte, ganz plötzlich mit wuchtiger Hand vor mir ans den Tisch oder auf irgend ein Möbel, das von so heftiger Berührung stark erdröhnte, nieder¬ zuschlagen. Natürlich fuhr ich dabei heftig zusammen, worauf der Vater kopf¬ schüttelnd zur Mutter ging und seine Meinung dahin abgab, daß ich wirklich schwache Nerven zu haben scheine und dies eine recht ärgerliche Entdeckung sei. Ein kindischer, unüberlegter Schabernack sollte die Sache zur endlichen Ent¬ scheidung bringen. Der Sohn eines benachbarten Bauern, dessen Vater das Amt eines Kirchenvaters bekleidete und als solcher eine ebenso geachtete Stellung in der Gemeinde einnahm als der Gerichtsmauu, war infolge eiues unglücklichen Falles lahm geworden. Er hinkte entsetzlich, konnte sich nur sprungweise auf Krücken fortbewegen und deshalb an unsern Spielen, die meistenteils schnelle Bewegung erforderten, selten Teil nehmen. Wurde uns der Lahme unbequem, so schlössen wir ihn auch ohne langes Besinnen aus und nötigten ihn so, unserm Spiele unthätig zuzusehen. Das verdroß den sonst ganz gescheiten Jungen, regte ihm die Galle auf und veranlaßte ihn, uns hinterm Rücken manchen Possen zu spielen. Eines Abends im Spätherbste sah der Lahme mich und den Sohn des Gcrichtsmannes die Dorfgasse herunterkommen, die hart an dem Gartenzaune seines väterlichen Hofes vorüberzog. Schnell holte er den großen Hund, der als Wächter des Hauses im Hofe an der Kette lag. Das Tier war, wenn es sich frei fühlte, durchaus gutartig und niemand gefährlich, es brach aber, wenn es dazu angefeuert wurde, in lautes Gebell aus und hob sich dabei auf die Hinterfüße. Zu diesem in der Dunkelheit sehr unüberlegten Kunststücke spornte der uns grollende Knabe durch gellenden Pfiff den riesigen Hund an, der mit wütendem Gebell den Zaun übersprang und mit glühenden Augen und er¬ hobenen Tatzen uns den Weg versperrte. Wir erschraken beide über die Maßen, obwohl der Hund uns kein Leid zufügte, vielmehr uns alsbald schweifwedelnd umkreiste, als wolle er uns um Verzeihung bitten. Allein das Unglück war doch geschehen. Am ganzen Leibe zitternd kam ich im Vaterhause an, fühlte mich sofort unwohl, verfiel noch während der Nacht in starkes Fieber und lag schon am nächsten Morgen in wilden Phantasien. Ein furchtbares Nervenfieber, dem sich allgemeines Nerven¬ leiden zugesellte, brachte der gewaltige Schreck in dein schon längst kränkelnden Körper zum Ausbruch. Mein gesünderer Begleiter kam mit dem bloßen Schrecken davon. (Fortsetzung folgt.)

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/460
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/460>, abgerufen am 23.12.2024.