Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
nächste Seite >>
Toynbee-Hall.

Brotstudium ist unbekannt, und der Luxus einer Bildung rein um der Bildung
willen, der in Deutschland mit den Gymnasien abschließt, wird hier noch drei
weitere Universitätsjahrc fortgesetzt.

Wie gesagt, es hat sich in England in der Mitte unsers Jahrhunderts ein
großer Umschwung vollzogen. Es war kein jäher Bruch zwischen gestern und
heute; die alten Formen sind dieselben geblieben. Aber der Schwerpunkt des
Staates ist verrückt worden, und unwiderruflich ist "die Macht von dem vor¬
nehmen Lord auf Rotten-Noad*) zu dem barhäuptigen Mann auf dem Dache
des Omnibus herabgeglitten."

Dieser Demvkratisirung, wie sie Gneist an verschiednen Stellen seiner Werke
dargelegt hat, mußte ein vermehrtes Bedürfnis nach höherer Bildung in weiten
Kreisen entsprechen, und das umsomehr, als in England auch eine gleichmäßige
Ghmnasialbildung wie die unsre nicht vorhanden ist. Die berühmten ?ud1i<z-
Lolwols wie Eton, Winchester, Harrow und Westminster, mögen sie auch
sonst den Vergleich mit den deutschen Gymnasien wohl aushalten, und mag in den
Reihen ihrer Schüler Frische, Jugendlichkeit und Liebe zur Schule häufiger als
bei uns zu finden sein, darin stehen sie doch den deutschen Schulen nach, daß
auch sie vermöge eines gewissen aristokratischen Charakters nur einem weit
kleineren Teile der Nation Bildung vermitteln.

Wie verhielten sich nun die Universitäten diesem vermehrten Bedürfnis nach
Bildung gegenüber? Die Gefahr lag nahe, daß sie sich vornehm abschließen
winden, wodurch sie ihre bisherige Bedeutung im Leben der Nation gefährdet
hätten. Die neuen Mächte hätten sich dann die geistige Nahrung, deren sie
notwendig bedurften, auf andern Wegen verschafft. Die vielfach in den großen
Industriestädte" neugegründeten LvllczgöL siud Versuche in dieser Richtung. Daß
sich die Universitäten dem Bedürfnis der Zeit nicht verschlossen, ist zunächst das
Verdienst einer Anzahl einsichtiger und menschenfreundlicher Männer, welche die
ersten Anregungen zu dem University-Extension-Mvvement gaben, dessen erste
Anfänge etwa zwanzig Jahre zurückliegen. Erst seit den letzten zehn Jahren ist
man von der Agitation zum Handeln übergegangen und hat bereits innerhalb
dieser kurzen Zeit ein großartiges System von Wanderlehrern über ganz Eng¬
land ausgebreitet.*")

Die Organisation beruht auf dem Zusammenwirken der Universitäten als
"Zcntralkörper" und der Kommittces in den einzelnen Städten. Die Univer-




") Rotten-Rvad zunächst jeder Reitweg, dann besonders der im Hyde-Park, welcher das
Stelldichein der vornehmen Gesellschaft bildet. Ausspruch von Eduard Denison.
'
Eine ähnliche Bedeutung hat das VVorKinx mon's LoilvM, das seit 1854 in London
besteht und dem Tausende von Arbeitern eine höhere Lebensauffassung verdanken. Die Be¬
reitwilligkeit, mit der eine ganze Reihe der bedeutendsten Gelehrten an dieser Anstalt gelehrt
haben, beweist, wie gerade in diesen Kreisen sozialpolitische Bestrebungen immer mehr An-
Hänger finden.
Toynbee-Hall.

Brotstudium ist unbekannt, und der Luxus einer Bildung rein um der Bildung
willen, der in Deutschland mit den Gymnasien abschließt, wird hier noch drei
weitere Universitätsjahrc fortgesetzt.

Wie gesagt, es hat sich in England in der Mitte unsers Jahrhunderts ein
großer Umschwung vollzogen. Es war kein jäher Bruch zwischen gestern und
heute; die alten Formen sind dieselben geblieben. Aber der Schwerpunkt des
Staates ist verrückt worden, und unwiderruflich ist „die Macht von dem vor¬
nehmen Lord auf Rotten-Noad*) zu dem barhäuptigen Mann auf dem Dache
des Omnibus herabgeglitten."

Dieser Demvkratisirung, wie sie Gneist an verschiednen Stellen seiner Werke
dargelegt hat, mußte ein vermehrtes Bedürfnis nach höherer Bildung in weiten
Kreisen entsprechen, und das umsomehr, als in England auch eine gleichmäßige
Ghmnasialbildung wie die unsre nicht vorhanden ist. Die berühmten ?ud1i<z-
Lolwols wie Eton, Winchester, Harrow und Westminster, mögen sie auch
sonst den Vergleich mit den deutschen Gymnasien wohl aushalten, und mag in den
Reihen ihrer Schüler Frische, Jugendlichkeit und Liebe zur Schule häufiger als
bei uns zu finden sein, darin stehen sie doch den deutschen Schulen nach, daß
auch sie vermöge eines gewissen aristokratischen Charakters nur einem weit
kleineren Teile der Nation Bildung vermitteln.

Wie verhielten sich nun die Universitäten diesem vermehrten Bedürfnis nach
Bildung gegenüber? Die Gefahr lag nahe, daß sie sich vornehm abschließen
winden, wodurch sie ihre bisherige Bedeutung im Leben der Nation gefährdet
hätten. Die neuen Mächte hätten sich dann die geistige Nahrung, deren sie
notwendig bedurften, auf andern Wegen verschafft. Die vielfach in den großen
Industriestädte» neugegründeten LvllczgöL siud Versuche in dieser Richtung. Daß
sich die Universitäten dem Bedürfnis der Zeit nicht verschlossen, ist zunächst das
Verdienst einer Anzahl einsichtiger und menschenfreundlicher Männer, welche die
ersten Anregungen zu dem University-Extension-Mvvement gaben, dessen erste
Anfänge etwa zwanzig Jahre zurückliegen. Erst seit den letzten zehn Jahren ist
man von der Agitation zum Handeln übergegangen und hat bereits innerhalb
dieser kurzen Zeit ein großartiges System von Wanderlehrern über ganz Eng¬
land ausgebreitet.*")

Die Organisation beruht auf dem Zusammenwirken der Universitäten als
„Zcntralkörper" und der Kommittces in den einzelnen Städten. Die Univer-




») Rotten-Rvad zunächst jeder Reitweg, dann besonders der im Hyde-Park, welcher das
Stelldichein der vornehmen Gesellschaft bildet. Ausspruch von Eduard Denison.
'
Eine ähnliche Bedeutung hat das VVorKinx mon's LoilvM, das seit 1854 in London
besteht und dem Tausende von Arbeitern eine höhere Lebensauffassung verdanken. Die Be¬
reitwilligkeit, mit der eine ganze Reihe der bedeutendsten Gelehrten an dieser Anstalt gelehrt
haben, beweist, wie gerade in diesen Kreisen sozialpolitische Bestrebungen immer mehr An-
Hänger finden.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0418" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/200523"/>
            <fw type="header" place="top"> Toynbee-Hall.</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_1311" prev="#ID_1310"> Brotstudium ist unbekannt, und der Luxus einer Bildung rein um der Bildung<lb/>
willen, der in Deutschland mit den Gymnasien abschließt, wird hier noch drei<lb/>
weitere Universitätsjahrc fortgesetzt.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1312"> Wie gesagt, es hat sich in England in der Mitte unsers Jahrhunderts ein<lb/>
großer Umschwung vollzogen. Es war kein jäher Bruch zwischen gestern und<lb/>
heute; die alten Formen sind dieselben geblieben. Aber der Schwerpunkt des<lb/>
Staates ist verrückt worden, und unwiderruflich ist &#x201E;die Macht von dem vor¬<lb/>
nehmen Lord auf Rotten-Noad*) zu dem barhäuptigen Mann auf dem Dache<lb/>
des Omnibus herabgeglitten."</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1313"> Dieser Demvkratisirung, wie sie Gneist an verschiednen Stellen seiner Werke<lb/>
dargelegt hat, mußte ein vermehrtes Bedürfnis nach höherer Bildung in weiten<lb/>
Kreisen entsprechen, und das umsomehr, als in England auch eine gleichmäßige<lb/>
Ghmnasialbildung wie die unsre nicht vorhanden ist. Die berühmten ?ud1i&lt;z-<lb/>
Lolwols wie Eton, Winchester, Harrow und Westminster, mögen sie auch<lb/>
sonst den Vergleich mit den deutschen Gymnasien wohl aushalten, und mag in den<lb/>
Reihen ihrer Schüler Frische, Jugendlichkeit und Liebe zur Schule häufiger als<lb/>
bei uns zu finden sein, darin stehen sie doch den deutschen Schulen nach, daß<lb/>
auch sie vermöge eines gewissen aristokratischen Charakters nur einem weit<lb/>
kleineren Teile der Nation Bildung vermitteln.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1314"> Wie verhielten sich nun die Universitäten diesem vermehrten Bedürfnis nach<lb/>
Bildung gegenüber? Die Gefahr lag nahe, daß sie sich vornehm abschließen<lb/>
winden, wodurch sie ihre bisherige Bedeutung im Leben der Nation gefährdet<lb/>
hätten. Die neuen Mächte hätten sich dann die geistige Nahrung, deren sie<lb/>
notwendig bedurften, auf andern Wegen verschafft. Die vielfach in den großen<lb/>
Industriestädte» neugegründeten LvllczgöL siud Versuche in dieser Richtung. Daß<lb/>
sich die Universitäten dem Bedürfnis der Zeit nicht verschlossen, ist zunächst das<lb/>
Verdienst einer Anzahl einsichtiger und menschenfreundlicher Männer, welche die<lb/>
ersten Anregungen zu dem University-Extension-Mvvement gaben, dessen erste<lb/>
Anfänge etwa zwanzig Jahre zurückliegen. Erst seit den letzten zehn Jahren ist<lb/>
man von der Agitation zum Handeln übergegangen und hat bereits innerhalb<lb/>
dieser kurzen Zeit ein großartiges System von Wanderlehrern über ganz Eng¬<lb/>
land ausgebreitet.*")</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1315" next="#ID_1316"> Die Organisation beruht auf dem Zusammenwirken der Universitäten als<lb/>
&#x201E;Zcntralkörper" und der Kommittces in den einzelnen Städten.  Die Univer-</p><lb/>
            <note xml:id="FID_47" place="foot"> ») Rotten-Rvad zunächst jeder Reitweg, dann besonders der im Hyde-Park, welcher das<lb/>
Stelldichein der vornehmen Gesellschaft bildet.  Ausspruch von Eduard Denison.<lb/>
'</note><lb/>
            <note xml:id="FID_48" place="foot"> Eine ähnliche Bedeutung hat das VVorKinx mon's LoilvM, das seit 1854 in London<lb/>
besteht und dem Tausende von Arbeitern eine höhere Lebensauffassung verdanken. Die Be¬<lb/>
reitwilligkeit, mit der eine ganze Reihe der bedeutendsten Gelehrten an dieser Anstalt gelehrt<lb/>
haben, beweist, wie gerade in diesen Kreisen sozialpolitische Bestrebungen immer mehr An-<lb/>
Hänger finden.</note><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0418] Toynbee-Hall. Brotstudium ist unbekannt, und der Luxus einer Bildung rein um der Bildung willen, der in Deutschland mit den Gymnasien abschließt, wird hier noch drei weitere Universitätsjahrc fortgesetzt. Wie gesagt, es hat sich in England in der Mitte unsers Jahrhunderts ein großer Umschwung vollzogen. Es war kein jäher Bruch zwischen gestern und heute; die alten Formen sind dieselben geblieben. Aber der Schwerpunkt des Staates ist verrückt worden, und unwiderruflich ist „die Macht von dem vor¬ nehmen Lord auf Rotten-Noad*) zu dem barhäuptigen Mann auf dem Dache des Omnibus herabgeglitten." Dieser Demvkratisirung, wie sie Gneist an verschiednen Stellen seiner Werke dargelegt hat, mußte ein vermehrtes Bedürfnis nach höherer Bildung in weiten Kreisen entsprechen, und das umsomehr, als in England auch eine gleichmäßige Ghmnasialbildung wie die unsre nicht vorhanden ist. Die berühmten ?ud1i<z- Lolwols wie Eton, Winchester, Harrow und Westminster, mögen sie auch sonst den Vergleich mit den deutschen Gymnasien wohl aushalten, und mag in den Reihen ihrer Schüler Frische, Jugendlichkeit und Liebe zur Schule häufiger als bei uns zu finden sein, darin stehen sie doch den deutschen Schulen nach, daß auch sie vermöge eines gewissen aristokratischen Charakters nur einem weit kleineren Teile der Nation Bildung vermitteln. Wie verhielten sich nun die Universitäten diesem vermehrten Bedürfnis nach Bildung gegenüber? Die Gefahr lag nahe, daß sie sich vornehm abschließen winden, wodurch sie ihre bisherige Bedeutung im Leben der Nation gefährdet hätten. Die neuen Mächte hätten sich dann die geistige Nahrung, deren sie notwendig bedurften, auf andern Wegen verschafft. Die vielfach in den großen Industriestädte» neugegründeten LvllczgöL siud Versuche in dieser Richtung. Daß sich die Universitäten dem Bedürfnis der Zeit nicht verschlossen, ist zunächst das Verdienst einer Anzahl einsichtiger und menschenfreundlicher Männer, welche die ersten Anregungen zu dem University-Extension-Mvvement gaben, dessen erste Anfänge etwa zwanzig Jahre zurückliegen. Erst seit den letzten zehn Jahren ist man von der Agitation zum Handeln übergegangen und hat bereits innerhalb dieser kurzen Zeit ein großartiges System von Wanderlehrern über ganz Eng¬ land ausgebreitet.*") Die Organisation beruht auf dem Zusammenwirken der Universitäten als „Zcntralkörper" und der Kommittces in den einzelnen Städten. Die Univer- ») Rotten-Rvad zunächst jeder Reitweg, dann besonders der im Hyde-Park, welcher das Stelldichein der vornehmen Gesellschaft bildet. Ausspruch von Eduard Denison. ' Eine ähnliche Bedeutung hat das VVorKinx mon's LoilvM, das seit 1854 in London besteht und dem Tausende von Arbeitern eine höhere Lebensauffassung verdanken. Die Be¬ reitwilligkeit, mit der eine ganze Reihe der bedeutendsten Gelehrten an dieser Anstalt gelehrt haben, beweist, wie gerade in diesen Kreisen sozialpolitische Bestrebungen immer mehr An- Hänger finden.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/418
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/418>, abgerufen am 23.12.2024.