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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Parlamentarisches ans (Österreich,

daß auch im kommunistische" Staate der am meisten zungenfertige Redner die
Menge fiir sich haben werde -- vortrefflich. Nun muß man doch den Schluß
erwarten, daß mit den Kopfznhlwcchlen überhaupt aufzuräumen sei. Der große
Grundbesitz bildet Wahlkörper, die Handelskammern wählen eigne Vertreter,
man gehe weiter in dieser Richtung, bilde wirkliche Gewcrbeknmmern, Arbciter-
kammern, Bauernkammern, statte die Advokatcukammern und andre Vereinigungen
von Angehörigen eines bestimmten Bernfskreises mit dem Wahlrechte aus, aber
auch unter Verpflichtung, die Vertreter im eignen Kreise zu suchen: dann würde
das Abgeordnetenhaus in der That der Ausdruck der Ansichten und Wünsche
der Bevölkerung werden, soweit ein solcher Mikrokosmos überhaupt möglich ist,
dann würde man dem Ideal näher kommen, die Phrase zu verdrängen. Allein
davon ist keine Rede. Nichts soll sich ändern, als daß zu den 366 jetzigen
Mitgliedern noch neun aus den Arbeiterkammern treten, etwa ein Zehntel
der Zahl der großen Grundbesitzer, weniger als ein Vierzehneck oder
Fünfzehntel der ländlichen und der städtischen Abgeordneten, von denen die
letzteren durch eigne Vertreter der Handels- und Gewerbekammeru verstärkt
werden. Ob die Arbeiter selbst damit zufrieden sein werden, muß man ab¬
warten; die anarchistischen Elemente unter ihnen weisen bereits jeden parlamen¬
tarischem Kampf verächtlich ab, und ein solches Früchtel in Graz sprach dabei
von dem "wässerigen" Nochefort, wird also Wohl ein Anhänger der "Blutigen"
sein; andre scheinen die Abschlagszahlung annehmen zu wollen. Die deutsche
Partei kündigt Verbesserungsvorschläge an. Diese müßten aber gründlicher Natur
sein, denn so, wie er ist, muß der Gesetzentwurf als ein neuer Versuch angesehen
werden, uuter dem Scheine einer gewissen Gleichberechtigung das Übergewicht
der Bourgeoisie zu befestigen. In diesem Sinne ist seit einem Vierteljahr-
hundert fast ununterbrochen operirt worden. Die Abfassung der Wahlgesetze,
die Abgrenzung der Wahlbezirke ließ dieses Bestreben nie verkennen: wie weit
wir damit gekommen sind, lehren die Zustände der Gegenwart.

Die erste Verhandlung über die Arbeiterkammern schloß mit einem argen
Skandal. Herr v. Pierer hatte ohne genügende Veranlassung einen Ausfall
auf die Demokraten und die Antisemiten in seine Rede eingeflochten; die Herren
lassen keine noch so unpassende Gelegenheit vorübergehen, ohne ihren jüdischen
Freunden ein kleines Vergnügen zu bereiten. Als dann die Angegriffenen ant¬
worteten, allerdings weder geschickt noch fein, beschuldigte man sie, fremde Dinge
in die Debatte gezogen zu haben, und nachdem im Saale "parlamentarische"
Grobheiten hin- und hergcslogen waren, soll es in den Gängen zu sehr uu-
Parlamentarischen gekommen sein, welche angeblich vor dem Gerichte noch werden
breitgetreten werden. Ja, die bösen Regierungen thun alles erdenkliche, um
den Parlamentarismus in der Volksmeinung herabzusetzen -- hier wie in
Deutschland.




Grenzboten I. 1887.49
Parlamentarisches ans (Österreich,

daß auch im kommunistische» Staate der am meisten zungenfertige Redner die
Menge fiir sich haben werde — vortrefflich. Nun muß man doch den Schluß
erwarten, daß mit den Kopfznhlwcchlen überhaupt aufzuräumen sei. Der große
Grundbesitz bildet Wahlkörper, die Handelskammern wählen eigne Vertreter,
man gehe weiter in dieser Richtung, bilde wirkliche Gewcrbeknmmern, Arbciter-
kammern, Bauernkammern, statte die Advokatcukammern und andre Vereinigungen
von Angehörigen eines bestimmten Bernfskreises mit dem Wahlrechte aus, aber
auch unter Verpflichtung, die Vertreter im eignen Kreise zu suchen: dann würde
das Abgeordnetenhaus in der That der Ausdruck der Ansichten und Wünsche
der Bevölkerung werden, soweit ein solcher Mikrokosmos überhaupt möglich ist,
dann würde man dem Ideal näher kommen, die Phrase zu verdrängen. Allein
davon ist keine Rede. Nichts soll sich ändern, als daß zu den 366 jetzigen
Mitgliedern noch neun aus den Arbeiterkammern treten, etwa ein Zehntel
der Zahl der großen Grundbesitzer, weniger als ein Vierzehneck oder
Fünfzehntel der ländlichen und der städtischen Abgeordneten, von denen die
letzteren durch eigne Vertreter der Handels- und Gewerbekammeru verstärkt
werden. Ob die Arbeiter selbst damit zufrieden sein werden, muß man ab¬
warten; die anarchistischen Elemente unter ihnen weisen bereits jeden parlamen¬
tarischem Kampf verächtlich ab, und ein solches Früchtel in Graz sprach dabei
von dem „wässerigen" Nochefort, wird also Wohl ein Anhänger der „Blutigen"
sein; andre scheinen die Abschlagszahlung annehmen zu wollen. Die deutsche
Partei kündigt Verbesserungsvorschläge an. Diese müßten aber gründlicher Natur
sein, denn so, wie er ist, muß der Gesetzentwurf als ein neuer Versuch angesehen
werden, uuter dem Scheine einer gewissen Gleichberechtigung das Übergewicht
der Bourgeoisie zu befestigen. In diesem Sinne ist seit einem Vierteljahr-
hundert fast ununterbrochen operirt worden. Die Abfassung der Wahlgesetze,
die Abgrenzung der Wahlbezirke ließ dieses Bestreben nie verkennen: wie weit
wir damit gekommen sind, lehren die Zustände der Gegenwart.

Die erste Verhandlung über die Arbeiterkammern schloß mit einem argen
Skandal. Herr v. Pierer hatte ohne genügende Veranlassung einen Ausfall
auf die Demokraten und die Antisemiten in seine Rede eingeflochten; die Herren
lassen keine noch so unpassende Gelegenheit vorübergehen, ohne ihren jüdischen
Freunden ein kleines Vergnügen zu bereiten. Als dann die Angegriffenen ant¬
worteten, allerdings weder geschickt noch fein, beschuldigte man sie, fremde Dinge
in die Debatte gezogen zu haben, und nachdem im Saale „parlamentarische"
Grobheiten hin- und hergcslogen waren, soll es in den Gängen zu sehr uu-
Parlamentarischen gekommen sein, welche angeblich vor dem Gerichte noch werden
breitgetreten werden. Ja, die bösen Regierungen thun alles erdenkliche, um
den Parlamentarismus in der Volksmeinung herabzusetzen — hier wie in
Deutschland.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/393>, abgerufen am 23.12.2024.