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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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deshalb den Stil kennt, kennt mein eine allmächtige Ursache/ da sie immer und
immer in der nämlichen Richtung wirkt. Man erkennt daraus, ob der Geist
gemessen oder überstürzt, klar oder dunkel, systematisch oder abgerissen, und bis
zu welchem Grade er alles das ist. So sind denn die Wahl der Worte, die
Länge und Kürze der Perioden, die Art und Zahl der Metaphern wichtige
Zeichen, nach denen der Geist beurteilt werden kann. Die Wendung der Rede
erklärt die Art der Ideen, und der Schriftsteller bekundet den ganzen Menschen,"

Wir unserseits glauben nicht recht an die Gesetze einer Stilvnomie, ebenso¬
wenig wie an die Theorien der Physiognomik, doch wollen wir gerne gelten
lassen, daß Taine fest daran glaubt, weil er selber ein meisterhafter Stilist ist,
und daß allerdings diese Meisterschaft ein untrüglicher Prüfstein seiner Herr¬
schaft über die von ihm behandelten Gebiete und seiner Vielseitigkeit, seines
Talentes und seines klaren und scharfen Denkens ist. Bald ist er erhaben und
harmonisch, bald schlicht und einfach, bald erkennen wir ihn als den Künstler
mit der leicht erregbaren Empfindsamkeit, den gespannten Nerven, bald als den
witzigen, unschuldig boshaften Franzosen, rein wissenschaftlich "ut speknlativ als
den philosophischen Denker, nüchtern, zutreffend nud knapp als den wissenschaft¬
lichen Forscher.

Um nur ein Beispiel seine" Handhabung der Sprache -- soweit eine
Übersetzung davon eine" Begriff geben kann -- anzuführen, schlagen wir da
gleich die erste Seite seiner Aufzeichnungen über England ans: es ist ein kurzes
landschaftliches Bild, die Überfahrt bei Nacht über den Kanal, das Taines
Wesen und seine künstlerische Fähigkeit besser charakterisirt, als es ganze Bogen
kritischer Auseinandersetzungen vermöchten:

"Es ist elf Uhr; Boulogne tritt mehr und mehr zurück und schwindet am
Horizont. Die Fahrzeuge des Hafens, die dünnen Masten sind zuerst mit dem
weiten Dunkel verschmolzen; jetzt nehmen die Feuer der Leuchttürme ab und
bilden am Rande des Himmels bald nur "och ein Gemenge blasser Sterne.
Es ist eine seltsame und tiefe Empfindung; das Meer schweigt und über ihm
schwebt der unbewegliche Nebel der See. Alles ist verschwunden; nur am Horizont
wirft von Zeit zu Zeit das Drehfeuer eines Leuchttnrmes einen Reflex ans eine
vorüberwogende Welle. Mau meint, in das Reich der Stille und des Leeren zu
treten, in die farb- und formlose Welt der Dinge, welche nicht sind. Überall
Schatten, unermeßlich und unbestimmt. Das Schiff dringt hinein und verliert
sich. Vorhin ahnte man noch, weit, weit, in der Richtung des Hinterteils, einen
ungewissen Rand, das fernabgelegene Festland; jetzt herrscht rund um das Boot
herum nur noch wallende Finsternis. Und dennoch in derselben versunken,
schreitet es mit sicherem Instinkte vor und bricht sich durch das Unsichtbare
Bahn. Wie ein emsiges Insekt bewegt es unermüdlich seine großen Stahlfüße,
und wühlt um seinen Kiel herum phosphorcszirende Wellen auf. Sie leuchten
mit dem wechselnden Farbenglanze der Perlmutter. Das Ange folgt ihren


deshalb den Stil kennt, kennt mein eine allmächtige Ursache/ da sie immer und
immer in der nämlichen Richtung wirkt. Man erkennt daraus, ob der Geist
gemessen oder überstürzt, klar oder dunkel, systematisch oder abgerissen, und bis
zu welchem Grade er alles das ist. So sind denn die Wahl der Worte, die
Länge und Kürze der Perioden, die Art und Zahl der Metaphern wichtige
Zeichen, nach denen der Geist beurteilt werden kann. Die Wendung der Rede
erklärt die Art der Ideen, und der Schriftsteller bekundet den ganzen Menschen,"

Wir unserseits glauben nicht recht an die Gesetze einer Stilvnomie, ebenso¬
wenig wie an die Theorien der Physiognomik, doch wollen wir gerne gelten
lassen, daß Taine fest daran glaubt, weil er selber ein meisterhafter Stilist ist,
und daß allerdings diese Meisterschaft ein untrüglicher Prüfstein seiner Herr¬
schaft über die von ihm behandelten Gebiete und seiner Vielseitigkeit, seines
Talentes und seines klaren und scharfen Denkens ist. Bald ist er erhaben und
harmonisch, bald schlicht und einfach, bald erkennen wir ihn als den Künstler
mit der leicht erregbaren Empfindsamkeit, den gespannten Nerven, bald als den
witzigen, unschuldig boshaften Franzosen, rein wissenschaftlich »ut speknlativ als
den philosophischen Denker, nüchtern, zutreffend nud knapp als den wissenschaft¬
lichen Forscher.

Um nur ein Beispiel seine» Handhabung der Sprache — soweit eine
Übersetzung davon eine» Begriff geben kann — anzuführen, schlagen wir da
gleich die erste Seite seiner Aufzeichnungen über England ans: es ist ein kurzes
landschaftliches Bild, die Überfahrt bei Nacht über den Kanal, das Taines
Wesen und seine künstlerische Fähigkeit besser charakterisirt, als es ganze Bogen
kritischer Auseinandersetzungen vermöchten:

„Es ist elf Uhr; Boulogne tritt mehr und mehr zurück und schwindet am
Horizont. Die Fahrzeuge des Hafens, die dünnen Masten sind zuerst mit dem
weiten Dunkel verschmolzen; jetzt nehmen die Feuer der Leuchttürme ab und
bilden am Rande des Himmels bald nur »och ein Gemenge blasser Sterne.
Es ist eine seltsame und tiefe Empfindung; das Meer schweigt und über ihm
schwebt der unbewegliche Nebel der See. Alles ist verschwunden; nur am Horizont
wirft von Zeit zu Zeit das Drehfeuer eines Leuchttnrmes einen Reflex ans eine
vorüberwogende Welle. Mau meint, in das Reich der Stille und des Leeren zu
treten, in die farb- und formlose Welt der Dinge, welche nicht sind. Überall
Schatten, unermeßlich und unbestimmt. Das Schiff dringt hinein und verliert
sich. Vorhin ahnte man noch, weit, weit, in der Richtung des Hinterteils, einen
ungewissen Rand, das fernabgelegene Festland; jetzt herrscht rund um das Boot
herum nur noch wallende Finsternis. Und dennoch in derselben versunken,
schreitet es mit sicherem Instinkte vor und bricht sich durch das Unsichtbare
Bahn. Wie ein emsiges Insekt bewegt es unermüdlich seine großen Stahlfüße,
und wühlt um seinen Kiel herum phosphorcszirende Wellen auf. Sie leuchten
mit dem wechselnden Farbenglanze der Perlmutter. Das Ange folgt ihren


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/383>, abgerufen am 23.12.2024.