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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Zugenderinnornngen,

großen habe zur Zeit der Napoleonischen Kriege noch kaum eine Vorstellung
von Patriotismus gehabt. In Preußen mag es seit dem Unglückstage der
Schlacht bei Jena anders gewesen sein; Sachsen aber, das durch Napoleon I.
aus einem Kurstaat ein Königreich geworden war, das einen nicht zu unter¬
schätzenden Mcichteinflnß durch seine geographische Lage ausübte, das an
Bildung hinter keinem andern deutschen Staate zurückstand, manchen darin
übertraf, Sachsen hatte vor dem Zuge des Frcmzvsenkcnsers nach Rußland nicht
unmittelbar von den Schlachten des welterobcrnden Imperators zu leiden gehabt.
Gab es auch noch leine politische Freiheit im Sinne unsrer Tage, das Volk
vermißte sie nicht, weil dies unbekannte Ding innerhalb der Grenzen Deutsch¬
lands oder richtiger des aus den Fugen gegangenen heiligen römischen Reiches
deutscher Nation nirgends zu finden war.

Der Befreiungskrieg, an welchem Sachsen sich nur in sehr geringem Grade
und zwar erst nach der Leipziger Schlacht beteiligen konnte, ward in seinem
Ausgange für das Land selbst verhängnisvoll; die Teilung des Landes, welche
über die Hälfte desselben zu Preußen schlug, verletzte die Bevölkerung tiefer,
als der jetzt lebenden Generation vielleicht verständlich ist. Die Wunde, die
man dadurch dem sächsische" Volke schlug, schmerzte geraume Zeit tief und ist
erst später und zwar langsam genug vernarbt.

Des großen Verlustes, den Sachsen getroffen, ganz bewußt wurde sich
dessen Bevölkerung erst seit der Rückkehr seines gefangnen Königs in sein altes
Stammland, und der Einzug desselben in seine Hauptstadt Dresden war für,
alle Sachsen ein Ereignis, an das sich sehr gemischte Empfindungen knüpften.
Die Versinnlichung desselben durch eine Abbildung der Festlichkeit beim Empfange
des Königs vor dem Thore der Residenz sprach zu aller Herzen, und wenn
man wünschte, das Ereignis selbst dem Bewohner auch der ärmsten Hütte des
Landes zugänglich und verständlich zu machen, so war der "Königlich Sächsische
privilegirte Pirnaische Kalender" allerdings der geeignetste Platz, um dasselbe
durch Wort und Bild zu illustriren. Denn dieser Kalender kam in jedermanns
Hände und war für Kleinbürger und Bauer großenteils der damalige Urquell
seines Wissens, sofern es sich auf profane Dinge bezog.

Meinem um zwei Jahre ältern Bruder und mir gab die Unterschrift des
erwähnten Bildes viel zu denken. Da wir uns das darin enthaltene Rätsel
nicht selbst lösen konnten, so nahmen wir unsre Zuflucht zum Vater. Weshalb
war der König, unser König, welcher den Beinamen "der Gerechte" führte, in
Gefangenschaft geraten? Gerechte, d. h. gute, tugendhafte Menschen, welche
andern als Vorbilder dienen, setzt man nicht gefangen. Thut mein's dennoch,
so begeht man ein Unrecht, einen Frevel, eine Sünde. Das war der Gedanken¬
gang, aus dem wir keinen Ausgang fanden. Wer anders hätte uns in dieser
Lage aus der Not helfen können als der Varer? Er war ja ein gelehrter
Mann, Ngssistgr llbcWliuin iirtium, und obendrein noch Pastor, der allsonn-


Zugenderinnornngen,

großen habe zur Zeit der Napoleonischen Kriege noch kaum eine Vorstellung
von Patriotismus gehabt. In Preußen mag es seit dem Unglückstage der
Schlacht bei Jena anders gewesen sein; Sachsen aber, das durch Napoleon I.
aus einem Kurstaat ein Königreich geworden war, das einen nicht zu unter¬
schätzenden Mcichteinflnß durch seine geographische Lage ausübte, das an
Bildung hinter keinem andern deutschen Staate zurückstand, manchen darin
übertraf, Sachsen hatte vor dem Zuge des Frcmzvsenkcnsers nach Rußland nicht
unmittelbar von den Schlachten des welterobcrnden Imperators zu leiden gehabt.
Gab es auch noch leine politische Freiheit im Sinne unsrer Tage, das Volk
vermißte sie nicht, weil dies unbekannte Ding innerhalb der Grenzen Deutsch¬
lands oder richtiger des aus den Fugen gegangenen heiligen römischen Reiches
deutscher Nation nirgends zu finden war.

Der Befreiungskrieg, an welchem Sachsen sich nur in sehr geringem Grade
und zwar erst nach der Leipziger Schlacht beteiligen konnte, ward in seinem
Ausgange für das Land selbst verhängnisvoll; die Teilung des Landes, welche
über die Hälfte desselben zu Preußen schlug, verletzte die Bevölkerung tiefer,
als der jetzt lebenden Generation vielleicht verständlich ist. Die Wunde, die
man dadurch dem sächsische» Volke schlug, schmerzte geraume Zeit tief und ist
erst später und zwar langsam genug vernarbt.

Des großen Verlustes, den Sachsen getroffen, ganz bewußt wurde sich
dessen Bevölkerung erst seit der Rückkehr seines gefangnen Königs in sein altes
Stammland, und der Einzug desselben in seine Hauptstadt Dresden war für,
alle Sachsen ein Ereignis, an das sich sehr gemischte Empfindungen knüpften.
Die Versinnlichung desselben durch eine Abbildung der Festlichkeit beim Empfange
des Königs vor dem Thore der Residenz sprach zu aller Herzen, und wenn
man wünschte, das Ereignis selbst dem Bewohner auch der ärmsten Hütte des
Landes zugänglich und verständlich zu machen, so war der „Königlich Sächsische
privilegirte Pirnaische Kalender" allerdings der geeignetste Platz, um dasselbe
durch Wort und Bild zu illustriren. Denn dieser Kalender kam in jedermanns
Hände und war für Kleinbürger und Bauer großenteils der damalige Urquell
seines Wissens, sofern es sich auf profane Dinge bezog.

Meinem um zwei Jahre ältern Bruder und mir gab die Unterschrift des
erwähnten Bildes viel zu denken. Da wir uns das darin enthaltene Rätsel
nicht selbst lösen konnten, so nahmen wir unsre Zuflucht zum Vater. Weshalb
war der König, unser König, welcher den Beinamen „der Gerechte" führte, in
Gefangenschaft geraten? Gerechte, d. h. gute, tugendhafte Menschen, welche
andern als Vorbilder dienen, setzt man nicht gefangen. Thut mein's dennoch,
so begeht man ein Unrecht, einen Frevel, eine Sünde. Das war der Gedanken¬
gang, aus dem wir keinen Ausgang fanden. Wer anders hätte uns in dieser
Lage aus der Not helfen können als der Varer? Er war ja ein gelehrter
Mann, Ngssistgr llbcWliuin iirtium, und obendrein noch Pastor, der allsonn-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/340>, abgerufen am 23.12.2024.