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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Gespenster.

Helden schließlich noch die einzige Handlung abnehmen könnte, die Erbthcorie
ihren Menschen übrig läßt, nämlich sich auf anständige Weise ans der Welt zu
begeben. Aber da dies ganz natürliche Verhältnis -- die Frau Mama be¬
hauptet sogar, daß es da draußen im Lande umher viele Ehepaare (!) giebt,
die ebenso nahe verwandt sind --, da diese einfachste Lösung der Sache bei
einem ganz dummen, schwächlichen, sich selbst belügenden Pastor auf nieder¬
trächtigen Widerstand stößt, so bleibt der Mama nichts andres übrig, als dem
Sohne selbst den Liebesdienst zu leisten. Und damit es schließlich in diesem
Schmutz nicht an Gewürm fehle, so besorgen wir uns rasch aus dem englischen
Roman einen jener verlognen, christelnden Kleinbürger und statten ihn mit einem
Apparat von Lügen, Kniffen und Heucheleien aus, daß der schönfärberische Mo¬
liere mit seinem Tartüffe dagegen als Waisenknabe erscheint. So! Daraus
machen wir dann ein Drama, und da wir uns auf diese Kunst verstehen trotz
Dumas, Angler und Sardon, und da das "Familiendrama" im Gegensatz zum
historischen die Eigentümlichkeit hat, seinen Vorwurf als allgemeingiltig er¬
scheinen zu lassen, so müßte es mit sonderbaren Dingen zugehen, wenn wir die
erste und letzte Forderung der exakten Poesie -- nicht Furcht und Mitleid!
Pah! akademisches Gewäsch! -- sondern Angst, tötliche Angst zu erregen, nicht
glänzend erfüllen sollten.

Als Oswald. o das ist das "bedeutende" Drama! Zunächst, muß ich dir
sagen, habe ich den Eindruck bekommen, daß es ganz gut ist, sich ein wenig
darum zu kümmern, wenn die Familie einmal wieder in den "Dramatischen
Verein" geht. Aber dies und die übliche "Sensation" beiseite -- denn es
wird mir jetzt auf einmal klar, weshalb der alte Schwede plötzlich bei uns so
populär geworden ist, daß ein halb Dutzend Werke von ihm mit einem Schlage
aus dem Dunkel auftauchen und in allen Buchhandlungen bereit gehalten
werden --, also ohne darüber ein Wort zu verlieren, glaubst du, daß irgend
ein vernünftiger Mensch, der sich etwas abseits vom großen Haufen zu stellen
liebt, solche Dinge ernst nimmt? Daß der Bilduugspöbel noch immer auf diese
abgelegte encyklopädistisch-materialistische Weisheit anbeißt, besonders wenn sie
ihm in so "pikantem" Gewände geboten wird, ist schließlich nicht sehr zu ver¬
wundern. Dieses Publikum hat einen sehr guten Magen, wie alle Individuen,
die nicht viel denken. Überdies hat, scheint mir, jede Zeit ihre besondre Me¬
thode, sich auf eigne Faust gruseln zu machen. Aber wenn die guten Leute
dies Geschäft gehörig besorgt haben (allerdings ihre Frauen und Töchter könnten
sie bei dieser neuesten Methode zu Hause lassen), so gehen sie nicht um ein
Haar anders hinweg, als sie hingekommen sind. Sie werden ihre Buben nach
wie vor tüchtig beim Schöpf nehmen, wenn sie irgend welche gespenstische
Neigungen bei ihnen entdecken sollten, und so auch weiter dafür sorgen, daß sich
die Charaktere wie bisher tüchtig modifiziren und regeneriren. Und thun sie
das nicht, so wird es zuverlässig schon das Leben besorgen, das sich nicht viel


Greuzbvtcii I. 1887. 42
Gespenster.

Helden schließlich noch die einzige Handlung abnehmen könnte, die Erbthcorie
ihren Menschen übrig läßt, nämlich sich auf anständige Weise ans der Welt zu
begeben. Aber da dies ganz natürliche Verhältnis — die Frau Mama be¬
hauptet sogar, daß es da draußen im Lande umher viele Ehepaare (!) giebt,
die ebenso nahe verwandt sind —, da diese einfachste Lösung der Sache bei
einem ganz dummen, schwächlichen, sich selbst belügenden Pastor auf nieder¬
trächtigen Widerstand stößt, so bleibt der Mama nichts andres übrig, als dem
Sohne selbst den Liebesdienst zu leisten. Und damit es schließlich in diesem
Schmutz nicht an Gewürm fehle, so besorgen wir uns rasch aus dem englischen
Roman einen jener verlognen, christelnden Kleinbürger und statten ihn mit einem
Apparat von Lügen, Kniffen und Heucheleien aus, daß der schönfärberische Mo¬
liere mit seinem Tartüffe dagegen als Waisenknabe erscheint. So! Daraus
machen wir dann ein Drama, und da wir uns auf diese Kunst verstehen trotz
Dumas, Angler und Sardon, und da das „Familiendrama" im Gegensatz zum
historischen die Eigentümlichkeit hat, seinen Vorwurf als allgemeingiltig er¬
scheinen zu lassen, so müßte es mit sonderbaren Dingen zugehen, wenn wir die
erste und letzte Forderung der exakten Poesie — nicht Furcht und Mitleid!
Pah! akademisches Gewäsch! — sondern Angst, tötliche Angst zu erregen, nicht
glänzend erfüllen sollten.

Als Oswald. o das ist das „bedeutende" Drama! Zunächst, muß ich dir
sagen, habe ich den Eindruck bekommen, daß es ganz gut ist, sich ein wenig
darum zu kümmern, wenn die Familie einmal wieder in den „Dramatischen
Verein" geht. Aber dies und die übliche „Sensation" beiseite — denn es
wird mir jetzt auf einmal klar, weshalb der alte Schwede plötzlich bei uns so
populär geworden ist, daß ein halb Dutzend Werke von ihm mit einem Schlage
aus dem Dunkel auftauchen und in allen Buchhandlungen bereit gehalten
werden —, also ohne darüber ein Wort zu verlieren, glaubst du, daß irgend
ein vernünftiger Mensch, der sich etwas abseits vom großen Haufen zu stellen
liebt, solche Dinge ernst nimmt? Daß der Bilduugspöbel noch immer auf diese
abgelegte encyklopädistisch-materialistische Weisheit anbeißt, besonders wenn sie
ihm in so „pikantem" Gewände geboten wird, ist schließlich nicht sehr zu ver¬
wundern. Dieses Publikum hat einen sehr guten Magen, wie alle Individuen,
die nicht viel denken. Überdies hat, scheint mir, jede Zeit ihre besondre Me¬
thode, sich auf eigne Faust gruseln zu machen. Aber wenn die guten Leute
dies Geschäft gehörig besorgt haben (allerdings ihre Frauen und Töchter könnten
sie bei dieser neuesten Methode zu Hause lassen), so gehen sie nicht um ein
Haar anders hinweg, als sie hingekommen sind. Sie werden ihre Buben nach
wie vor tüchtig beim Schöpf nehmen, wenn sie irgend welche gespenstische
Neigungen bei ihnen entdecken sollten, und so auch weiter dafür sorgen, daß sich
die Charaktere wie bisher tüchtig modifiziren und regeneriren. Und thun sie
das nicht, so wird es zuverlässig schon das Leben besorgen, das sich nicht viel


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/337>, abgerufen am 03.07.2024.