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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Toynbee-Hall.

Schwachen, Kranken, den Familien, denen der Ernährer geraubt ist, nicht zu
dem kräftigen Manne, dem Hände zur Arbeit gegeben sind. Da heißt es: Hoip
tUvni de> Iwlp t,inzm,8v1vo8, eine Mahnung an Private wie an den Staat, der
leider bei uns seine Aufgabe hier noch sehr vernachlässigt. Leiblich, geistig und
sittlich die arbeitenden Klassen fähiger zu machen, darin sehen wir die Haupt¬
aufgabe der Gegenwart. Leiblich: in dieser Richtung können wir mit den be¬
schränkten Mitteln, die uns zu Gebote stehen, wenig thun. Wir können den
Leuten nicht Waldesluft in ihre Keller und Rvastbeaf in die Pfaune zaubern.
Unsre Thätigkeit ist in dieser Beziehung mehr negativ; wir wachen in unserm
Bezirk über die Ausführung der bestehenden Gesnndhcitsvorschriften. Desto
wichtiger ist unsre Aufgabe auf dem zweiten Gebiete; hier liegt die Haupt¬
wirksamkeit von Tvynbee-Hall, das vor allem eine Anstalt zu verschiednen Er¬
ziehungszwecken ist, wie Ihnen ein näherer Einblick in unsre Einrichtung zeigen
wird. Ebenso wichtig, dabei aber weit schwieriger sind Bemühungen in der
dritten Richtung, eine Bevölkerung wie die hier ansässige mich sittlich zu heben.
Nicht als ob ich damit sagen wollte, daß unser Arbeiter unsittlich oder weniger
sittlich sei als der andrer Länder. Aber es mangelt ihm an gewissen "veitern
sittlichen Gesichtspunkten, in denen ein Mann aus dem Mittelstande sozusagen
aufwächst. Nehmen Sie einen Arbeiter, der treu und gewissenhaft seine tägliche
Pflicht erfüllt. Lassen Sie die Löhne einmal ausnahmsweise hoch sein, lassen
Sie ihn nur soviel haben, um einen Ring zu kaufen und die Gebühren zu
bezahlen, dazu noch ein Mädchen finden, das ihn will, und derselbe Mann wird
sich ohne Bedenken verheiraten. Die Zahl der Kinder wächst von Jahr zu Jahr,
aber der Lohn wächst nicht, ja auf die fette" folgen magere Jahre, und mit
ihnen kommt der Hunger ins Haus. Wenn dann die Familie von Stufe zu
Stufe sinkt und endlich zu Grunde geht, wird der Mann sich dann selber an¬
klagen und sich bewußt sein, daß er durch seine Heirat nicht nur seiner Frau
und seinen Kindern, sondern auch seinem Staate ein schweres Unrecht angethan
hat? Das Bewußtsein seiner Pflichten gegen die Gesellschaft in dem ungebildeten
Manne zu erwecken, ist eine Aufgabe, deren unmittelbare Erfüllung unmöglich
ist; dagegen ist eine Thätigkeit, die mittelbar ans dieses Ziel zusteuert, zwar
schwierig, aber nicht hoffnungslos, schwierig besonders deshalb, weil sie nicht mit
Geld abzuthun ist, sondern persönliche Hingebung erfordert. Unzählige Sekten,
Missionare und kirchliche. Vereinigungen -- wie verschieden ihr Glaube auch
sein mag -- arbeiten unvermerkt an dieser Aufgabe, indem sie den Heiden im
Osten Gott zu lehren versuchen. Daneben gehen Bemühungen wie die unsern.
Sie sind stete Arbeit, langsames Fortschreiten, aber ohne glänzende Erfolge.
Indem wir unsre Nachbarn zusammenführen, suchen wir die Vereinzelung auf¬
zuheben, Gegensätze zu überbrücken und so in engem Kreise die Bedingungen
für ein gesundes gesellschaftliches Leben zu fördern. (Fortsetzung folgt.)




Toynbee-Hall.

Schwachen, Kranken, den Familien, denen der Ernährer geraubt ist, nicht zu
dem kräftigen Manne, dem Hände zur Arbeit gegeben sind. Da heißt es: Hoip
tUvni de> Iwlp t,inzm,8v1vo8, eine Mahnung an Private wie an den Staat, der
leider bei uns seine Aufgabe hier noch sehr vernachlässigt. Leiblich, geistig und
sittlich die arbeitenden Klassen fähiger zu machen, darin sehen wir die Haupt¬
aufgabe der Gegenwart. Leiblich: in dieser Richtung können wir mit den be¬
schränkten Mitteln, die uns zu Gebote stehen, wenig thun. Wir können den
Leuten nicht Waldesluft in ihre Keller und Rvastbeaf in die Pfaune zaubern.
Unsre Thätigkeit ist in dieser Beziehung mehr negativ; wir wachen in unserm
Bezirk über die Ausführung der bestehenden Gesnndhcitsvorschriften. Desto
wichtiger ist unsre Aufgabe auf dem zweiten Gebiete; hier liegt die Haupt¬
wirksamkeit von Tvynbee-Hall, das vor allem eine Anstalt zu verschiednen Er¬
ziehungszwecken ist, wie Ihnen ein näherer Einblick in unsre Einrichtung zeigen
wird. Ebenso wichtig, dabei aber weit schwieriger sind Bemühungen in der
dritten Richtung, eine Bevölkerung wie die hier ansässige mich sittlich zu heben.
Nicht als ob ich damit sagen wollte, daß unser Arbeiter unsittlich oder weniger
sittlich sei als der andrer Länder. Aber es mangelt ihm an gewissen »veitern
sittlichen Gesichtspunkten, in denen ein Mann aus dem Mittelstande sozusagen
aufwächst. Nehmen Sie einen Arbeiter, der treu und gewissenhaft seine tägliche
Pflicht erfüllt. Lassen Sie die Löhne einmal ausnahmsweise hoch sein, lassen
Sie ihn nur soviel haben, um einen Ring zu kaufen und die Gebühren zu
bezahlen, dazu noch ein Mädchen finden, das ihn will, und derselbe Mann wird
sich ohne Bedenken verheiraten. Die Zahl der Kinder wächst von Jahr zu Jahr,
aber der Lohn wächst nicht, ja auf die fette» folgen magere Jahre, und mit
ihnen kommt der Hunger ins Haus. Wenn dann die Familie von Stufe zu
Stufe sinkt und endlich zu Grunde geht, wird der Mann sich dann selber an¬
klagen und sich bewußt sein, daß er durch seine Heirat nicht nur seiner Frau
und seinen Kindern, sondern auch seinem Staate ein schweres Unrecht angethan
hat? Das Bewußtsein seiner Pflichten gegen die Gesellschaft in dem ungebildeten
Manne zu erwecken, ist eine Aufgabe, deren unmittelbare Erfüllung unmöglich
ist; dagegen ist eine Thätigkeit, die mittelbar ans dieses Ziel zusteuert, zwar
schwierig, aber nicht hoffnungslos, schwierig besonders deshalb, weil sie nicht mit
Geld abzuthun ist, sondern persönliche Hingebung erfordert. Unzählige Sekten,
Missionare und kirchliche. Vereinigungen — wie verschieden ihr Glaube auch
sein mag — arbeiten unvermerkt an dieser Aufgabe, indem sie den Heiden im
Osten Gott zu lehren versuchen. Daneben gehen Bemühungen wie die unsern.
Sie sind stete Arbeit, langsames Fortschreiten, aber ohne glänzende Erfolge.
Indem wir unsre Nachbarn zusammenführen, suchen wir die Vereinzelung auf¬
zuheben, Gegensätze zu überbrücken und so in engem Kreise die Bedingungen
für ein gesundes gesellschaftliches Leben zu fördern. (Fortsetzung folgt.)




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[0322] Toynbee-Hall. Schwachen, Kranken, den Familien, denen der Ernährer geraubt ist, nicht zu dem kräftigen Manne, dem Hände zur Arbeit gegeben sind. Da heißt es: Hoip tUvni de> Iwlp t,inzm,8v1vo8, eine Mahnung an Private wie an den Staat, der leider bei uns seine Aufgabe hier noch sehr vernachlässigt. Leiblich, geistig und sittlich die arbeitenden Klassen fähiger zu machen, darin sehen wir die Haupt¬ aufgabe der Gegenwart. Leiblich: in dieser Richtung können wir mit den be¬ schränkten Mitteln, die uns zu Gebote stehen, wenig thun. Wir können den Leuten nicht Waldesluft in ihre Keller und Rvastbeaf in die Pfaune zaubern. Unsre Thätigkeit ist in dieser Beziehung mehr negativ; wir wachen in unserm Bezirk über die Ausführung der bestehenden Gesnndhcitsvorschriften. Desto wichtiger ist unsre Aufgabe auf dem zweiten Gebiete; hier liegt die Haupt¬ wirksamkeit von Tvynbee-Hall, das vor allem eine Anstalt zu verschiednen Er¬ ziehungszwecken ist, wie Ihnen ein näherer Einblick in unsre Einrichtung zeigen wird. Ebenso wichtig, dabei aber weit schwieriger sind Bemühungen in der dritten Richtung, eine Bevölkerung wie die hier ansässige mich sittlich zu heben. Nicht als ob ich damit sagen wollte, daß unser Arbeiter unsittlich oder weniger sittlich sei als der andrer Länder. Aber es mangelt ihm an gewissen »veitern sittlichen Gesichtspunkten, in denen ein Mann aus dem Mittelstande sozusagen aufwächst. Nehmen Sie einen Arbeiter, der treu und gewissenhaft seine tägliche Pflicht erfüllt. Lassen Sie die Löhne einmal ausnahmsweise hoch sein, lassen Sie ihn nur soviel haben, um einen Ring zu kaufen und die Gebühren zu bezahlen, dazu noch ein Mädchen finden, das ihn will, und derselbe Mann wird sich ohne Bedenken verheiraten. Die Zahl der Kinder wächst von Jahr zu Jahr, aber der Lohn wächst nicht, ja auf die fette» folgen magere Jahre, und mit ihnen kommt der Hunger ins Haus. Wenn dann die Familie von Stufe zu Stufe sinkt und endlich zu Grunde geht, wird der Mann sich dann selber an¬ klagen und sich bewußt sein, daß er durch seine Heirat nicht nur seiner Frau und seinen Kindern, sondern auch seinem Staate ein schweres Unrecht angethan hat? Das Bewußtsein seiner Pflichten gegen die Gesellschaft in dem ungebildeten Manne zu erwecken, ist eine Aufgabe, deren unmittelbare Erfüllung unmöglich ist; dagegen ist eine Thätigkeit, die mittelbar ans dieses Ziel zusteuert, zwar schwierig, aber nicht hoffnungslos, schwierig besonders deshalb, weil sie nicht mit Geld abzuthun ist, sondern persönliche Hingebung erfordert. Unzählige Sekten, Missionare und kirchliche. Vereinigungen — wie verschieden ihr Glaube auch sein mag — arbeiten unvermerkt an dieser Aufgabe, indem sie den Heiden im Osten Gott zu lehren versuchen. Daneben gehen Bemühungen wie die unsern. Sie sind stete Arbeit, langsames Fortschreiten, aber ohne glänzende Erfolge. Indem wir unsre Nachbarn zusammenführen, suchen wir die Vereinzelung auf¬ zuheben, Gegensätze zu überbrücken und so in engem Kreise die Bedingungen für ein gesundes gesellschaftliches Leben zu fördern. (Fortsetzung folgt.)

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/322>, abgerufen am 03.07.2024.