Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.Toynbee-Hall. die Figur eines bleichen Mädchens, das mit Geige und Bogen den Beifall der Drüben ist mittlerweile der Speisesaal in eine Bibliothek verwandelt worden, Eine ganze Anzahl von Herren ans dem Westen mischt sich unter die Als Beweis hierfür und zugleich als Probe für den Ton der Gesellschaft, Toynbee-Hall. die Figur eines bleichen Mädchens, das mit Geige und Bogen den Beifall der Drüben ist mittlerweile der Speisesaal in eine Bibliothek verwandelt worden, Eine ganze Anzahl von Herren ans dem Westen mischt sich unter die Als Beweis hierfür und zugleich als Probe für den Ton der Gesellschaft, <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0320" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/200425"/> <fw type="header" place="top"> Toynbee-Hall.</fw><lb/> <p xml:id="ID_948" prev="#ID_947"> die Figur eines bleichen Mädchens, das mit Geige und Bogen den Beifall der<lb/> Gesellschaft erntete; ihr Spiel war nicht fehlerfrei, mochte jedoch weniger des<lb/> Talents als der Übung ermangeln.</p><lb/> <p xml:id="ID_949"> Drüben ist mittlerweile der Speisesaal in eine Bibliothek verwandelt worden,<lb/> denn ein Raum faßt die Menge der Geladenen nicht. Ans den Tischen sind<lb/> Mappen mit Abbildungen ausgelegt, vorzüglich Veröffentlichungen bekannter Ge¬<lb/> mäldegalerien, die sich besonders dann auziehuugslräftig erweisen, wenn sie<lb/> unter den anwesenden Herren einen Erklärer finden.</p><lb/> <p xml:id="ID_950"> Eine ganze Anzahl von Herren ans dem Westen mischt sich unter die<lb/> Gesellschaft, Männer, die zwar nicht in Toynbee-Hall wohnen, aber doch an<lb/> dem dort zu thuenden Werke beteiligt sind. Die sonst so scharfe Grenze zwischen<lb/> Gentleman und Nicht-Gentleman scheint verwischt; in der ganzen Gesellschaft<lb/> herrscht ein über Erwarten gesitteter Ton. Wenn auch gern ans die konventio¬<lb/> nellen Redensarten des Westens verzichtend, halten es die Mitglieder von<lb/> Toynbee-Hall doch für geboten, in ihrem Hause Sitte und Höflichkeit zu Pflegen,<lb/> nud das mit Recht; ist doch eine gewisse Achtung der Persönlichkeit des andern<lb/> die notwendige Vorbedingung sür das Gedeihen jedes geselligen Lebens. Gerade<lb/> dieses zu fördern, ist der Zweck solcher Vereinigungen in Toynbee-Hall. Hier<lb/> im Osten, wo der Mensch dem Menschen nur zu leicht als lustiger Mitbewerber<lb/> erscheint, fehlt zunächst jede Idee davon, daß gegenseitiger Verkehr und Ge¬<lb/> dankenaustausch zu einer Quelle geselligen Behagens werden kann. Diese Freude<lb/> ihren Nachbarn zu lehren — denn sie will gelernt sein —, zählen die Resi¬<lb/> denten von Toynbee-Hall unter ihre wichtigsten Aufgaben. Sie sehen darin ein<lb/> Mittel, dem Zerfall der Gesellschaft in Atome entgegenzuwirken, die Menschen<lb/> untereinander zu nähern und so die Bedingungen eines gesunden Genvssenschafts-<lb/> lebens herzustellen, während sonst das Individuum, rein ans sich gestellt, so<lb/> leicht im Egoismus untergeht. Das; es dem heutigen Abend gelungen ist,<lb/> dieses gesellige Wohlbefinden hervorzurufen, belehrt uns der Augenschein.<lb/> Manche jener einfachen Frauen, die um das flackernde Kaminfeuer zu-<lb/> sammensitzen, mag hier zum erstenmale das Behagen empfinden, das jedes rechte<lb/> Wohnzimmer hervorrufen soll. Allerdings dürfen wir dabei nicht vergessen,<lb/> daß das Gelingen des heutigen Abends wesentlich dem Umstände zuzuschreiben<lb/> ist, daß sich in den (üooxorÄwrs gewiß die besten und gescheitesten Elemente des<lb/> Bezirks zusammengefunden haben.</p><lb/> <p xml:id="ID_951" next="#ID_952"> Als Beweis hierfür und zugleich als Probe für den Ton der Gesellschaft,<lb/> gebe ich ein Gespräch mit einem ältern Arbeiter wieder, auf den mich als<lb/> auf einen verständigen Mann mein Freund besonders aufmerksam gemacht<lb/> hatte. Betrachtungen wie diese bieten an sich nichts neues, sind aber doch aus<lb/> solchem Munde höchst beachtenswert. Wir sprachen von der weitverbreiteten<lb/> Notlage, welche vergangenen Winter in London eine ausnehmende Größe<lb/> erreicht hatte. „Zu wenig Arbeit und zu viel Hände, die beschäftigt sein</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0320]
Toynbee-Hall.
die Figur eines bleichen Mädchens, das mit Geige und Bogen den Beifall der
Gesellschaft erntete; ihr Spiel war nicht fehlerfrei, mochte jedoch weniger des
Talents als der Übung ermangeln.
Drüben ist mittlerweile der Speisesaal in eine Bibliothek verwandelt worden,
denn ein Raum faßt die Menge der Geladenen nicht. Ans den Tischen sind
Mappen mit Abbildungen ausgelegt, vorzüglich Veröffentlichungen bekannter Ge¬
mäldegalerien, die sich besonders dann auziehuugslräftig erweisen, wenn sie
unter den anwesenden Herren einen Erklärer finden.
Eine ganze Anzahl von Herren ans dem Westen mischt sich unter die
Gesellschaft, Männer, die zwar nicht in Toynbee-Hall wohnen, aber doch an
dem dort zu thuenden Werke beteiligt sind. Die sonst so scharfe Grenze zwischen
Gentleman und Nicht-Gentleman scheint verwischt; in der ganzen Gesellschaft
herrscht ein über Erwarten gesitteter Ton. Wenn auch gern ans die konventio¬
nellen Redensarten des Westens verzichtend, halten es die Mitglieder von
Toynbee-Hall doch für geboten, in ihrem Hause Sitte und Höflichkeit zu Pflegen,
nud das mit Recht; ist doch eine gewisse Achtung der Persönlichkeit des andern
die notwendige Vorbedingung sür das Gedeihen jedes geselligen Lebens. Gerade
dieses zu fördern, ist der Zweck solcher Vereinigungen in Toynbee-Hall. Hier
im Osten, wo der Mensch dem Menschen nur zu leicht als lustiger Mitbewerber
erscheint, fehlt zunächst jede Idee davon, daß gegenseitiger Verkehr und Ge¬
dankenaustausch zu einer Quelle geselligen Behagens werden kann. Diese Freude
ihren Nachbarn zu lehren — denn sie will gelernt sein —, zählen die Resi¬
denten von Toynbee-Hall unter ihre wichtigsten Aufgaben. Sie sehen darin ein
Mittel, dem Zerfall der Gesellschaft in Atome entgegenzuwirken, die Menschen
untereinander zu nähern und so die Bedingungen eines gesunden Genvssenschafts-
lebens herzustellen, während sonst das Individuum, rein ans sich gestellt, so
leicht im Egoismus untergeht. Das; es dem heutigen Abend gelungen ist,
dieses gesellige Wohlbefinden hervorzurufen, belehrt uns der Augenschein.
Manche jener einfachen Frauen, die um das flackernde Kaminfeuer zu-
sammensitzen, mag hier zum erstenmale das Behagen empfinden, das jedes rechte
Wohnzimmer hervorrufen soll. Allerdings dürfen wir dabei nicht vergessen,
daß das Gelingen des heutigen Abends wesentlich dem Umstände zuzuschreiben
ist, daß sich in den (üooxorÄwrs gewiß die besten und gescheitesten Elemente des
Bezirks zusammengefunden haben.
Als Beweis hierfür und zugleich als Probe für den Ton der Gesellschaft,
gebe ich ein Gespräch mit einem ältern Arbeiter wieder, auf den mich als
auf einen verständigen Mann mein Freund besonders aufmerksam gemacht
hatte. Betrachtungen wie diese bieten an sich nichts neues, sind aber doch aus
solchem Munde höchst beachtenswert. Wir sprachen von der weitverbreiteten
Notlage, welche vergangenen Winter in London eine ausnehmende Größe
erreicht hatte. „Zu wenig Arbeit und zu viel Hände, die beschäftigt sein
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