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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Jugenderinnerungen.

Wetter ein paar tausend zugeweht hatte. Alle diese Menschen unter Dach und
Fach zu bringen, fehlte es an Gebäuden, auch wenn man alle verfügbaren
Scheunen mit zu Hilfe nahm. Die Väter der Stadt waren in nicht geringer
Verlegenheit. Zuletzt mußten sie sich entschließen, ein paar Kirchen zu öffnen. Von
diesen wurde die große, im Mittelpunkte der Stadt gelegene, seit der zerstörenden
Beschießung von 1757 noch nicht wieder aufgebaute Se. Johanniskirche von
den heidnischen Nomaden in einen Pferdestall verwandelt.

Diese Fremdlinge, zu denen sich später auch noch Kalmücken gesellten,
blieben wochenlang in der Stadt, verursachten derselben große Kosten, belästigten
aber die Bürger und Einwohner nicht durch rohes Auftreten und unbescheidne
Forderungen. Im Gegenteil, als echte Naturkinder und ohne alle Bedürfnisse
zivilisirter Menschen waren sie leicht zufrieden zu stellen. Es genirte sie gar¬
nicht, die Nacht auf bloßem Steinpflaster zuzubringen. Ich kann mich deutlich
erinnern, daß ich sie wiederholt des Morgens vom Fenster aus uoch in dieser
Lage beobachtete. Wurden sie dann munter, so pflegten gewöhnlich zwei Mann
einen dritten zwischen zwei Wagenrädern hin- und herzuziehen, um denselben
ans die einfachste Weise von gewissen Insekten zu befreien, an denen diese Kinder
der Steppe, wie allgemein behauptet wurde, sehr reich sein sollten.

Welche Verwendung diese versprengte Truppe auf dem Kriegstheater finden
sollte, war ihr selbst sicherlich unbekannt, nur aus dem Worte "Paris," das sich in
ihrem niemand verständlichen Kauderwelsch oft wiederholte, schlössen die Bürger,
daß ihnen wenigstens das Endziel ihres Zuges gen Westen bekannt sein müsse.

Aus spätern Erzählungen meiner Eltern und naher Verwandten weiß ich, daß
im allgemeinen der Verkehr mit diesen seltsamen Gästen weit leichter war als mit
allen andern Truppen, die während des Krieges das Weichbild der Stadt über¬
schritten hatten. Wären sie nicht so über alle Begriffe unreinlich gewesen, so würden
sie sogar durch ihre ans Kindische streifende Harmlosigkeit ein erheiterndes Ele¬
ment in das eintönig verlaufende Leben der ehrsamen Bürgerschaft gebracht haben.

Während ihres Aufenthaltes in Zittau führten die Baschkiren ein sehr
ungezwungenes Leben. Dienstliche Übungen schienen bei dieser an freies Umher¬
schweifen gewohnten Horde nicht üblich zu sein. Jeder Vertrieb sich die Zeit
nach Belieben, wobei es an wahrhaft kindischen Spielen nicht fehlte.

In der Johanniskirche sammelten sich die Fremdlinge in großen Scharen,
tummelten ans dem freien Platze zwischen Kirche und Gymnasium, dem früheren
Kirchhofe, ihre muntern, kleinen Pferde, übten sich im Lanzenwerfen, wobei sie
selten das bestimmte Ziel verfehlten, und erlaubten sich wohl mich einen Pfeil
dergestalt hoch in die Luft zu schießen, daß er auf einer vomusbezeichueteu
Stelle niederfallen mußte.

Die Johanniskirche besitzt zwei ans Sandsteinqnadern erbaute Türme von
bedeutender Höhe. Einer derselben war damals halb verfallen; er wurde erst
in den dreißiger Jahren zugleich mit dem Innern der Kirche wieder ausgebaut


Jugenderinnerungen.

Wetter ein paar tausend zugeweht hatte. Alle diese Menschen unter Dach und
Fach zu bringen, fehlte es an Gebäuden, auch wenn man alle verfügbaren
Scheunen mit zu Hilfe nahm. Die Väter der Stadt waren in nicht geringer
Verlegenheit. Zuletzt mußten sie sich entschließen, ein paar Kirchen zu öffnen. Von
diesen wurde die große, im Mittelpunkte der Stadt gelegene, seit der zerstörenden
Beschießung von 1757 noch nicht wieder aufgebaute Se. Johanniskirche von
den heidnischen Nomaden in einen Pferdestall verwandelt.

Diese Fremdlinge, zu denen sich später auch noch Kalmücken gesellten,
blieben wochenlang in der Stadt, verursachten derselben große Kosten, belästigten
aber die Bürger und Einwohner nicht durch rohes Auftreten und unbescheidne
Forderungen. Im Gegenteil, als echte Naturkinder und ohne alle Bedürfnisse
zivilisirter Menschen waren sie leicht zufrieden zu stellen. Es genirte sie gar¬
nicht, die Nacht auf bloßem Steinpflaster zuzubringen. Ich kann mich deutlich
erinnern, daß ich sie wiederholt des Morgens vom Fenster aus uoch in dieser
Lage beobachtete. Wurden sie dann munter, so pflegten gewöhnlich zwei Mann
einen dritten zwischen zwei Wagenrädern hin- und herzuziehen, um denselben
ans die einfachste Weise von gewissen Insekten zu befreien, an denen diese Kinder
der Steppe, wie allgemein behauptet wurde, sehr reich sein sollten.

Welche Verwendung diese versprengte Truppe auf dem Kriegstheater finden
sollte, war ihr selbst sicherlich unbekannt, nur aus dem Worte „Paris," das sich in
ihrem niemand verständlichen Kauderwelsch oft wiederholte, schlössen die Bürger,
daß ihnen wenigstens das Endziel ihres Zuges gen Westen bekannt sein müsse.

Aus spätern Erzählungen meiner Eltern und naher Verwandten weiß ich, daß
im allgemeinen der Verkehr mit diesen seltsamen Gästen weit leichter war als mit
allen andern Truppen, die während des Krieges das Weichbild der Stadt über¬
schritten hatten. Wären sie nicht so über alle Begriffe unreinlich gewesen, so würden
sie sogar durch ihre ans Kindische streifende Harmlosigkeit ein erheiterndes Ele¬
ment in das eintönig verlaufende Leben der ehrsamen Bürgerschaft gebracht haben.

Während ihres Aufenthaltes in Zittau führten die Baschkiren ein sehr
ungezwungenes Leben. Dienstliche Übungen schienen bei dieser an freies Umher¬
schweifen gewohnten Horde nicht üblich zu sein. Jeder Vertrieb sich die Zeit
nach Belieben, wobei es an wahrhaft kindischen Spielen nicht fehlte.

In der Johanniskirche sammelten sich die Fremdlinge in großen Scharen,
tummelten ans dem freien Platze zwischen Kirche und Gymnasium, dem früheren
Kirchhofe, ihre muntern, kleinen Pferde, übten sich im Lanzenwerfen, wobei sie
selten das bestimmte Ziel verfehlten, und erlaubten sich wohl mich einen Pfeil
dergestalt hoch in die Luft zu schießen, daß er auf einer vomusbezeichueteu
Stelle niederfallen mußte.

Die Johanniskirche besitzt zwei ans Sandsteinqnadern erbaute Türme von
bedeutender Höhe. Einer derselben war damals halb verfallen; er wurde erst
in den dreißiger Jahren zugleich mit dem Innern der Kirche wieder ausgebaut


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[0303] Jugenderinnerungen. Wetter ein paar tausend zugeweht hatte. Alle diese Menschen unter Dach und Fach zu bringen, fehlte es an Gebäuden, auch wenn man alle verfügbaren Scheunen mit zu Hilfe nahm. Die Väter der Stadt waren in nicht geringer Verlegenheit. Zuletzt mußten sie sich entschließen, ein paar Kirchen zu öffnen. Von diesen wurde die große, im Mittelpunkte der Stadt gelegene, seit der zerstörenden Beschießung von 1757 noch nicht wieder aufgebaute Se. Johanniskirche von den heidnischen Nomaden in einen Pferdestall verwandelt. Diese Fremdlinge, zu denen sich später auch noch Kalmücken gesellten, blieben wochenlang in der Stadt, verursachten derselben große Kosten, belästigten aber die Bürger und Einwohner nicht durch rohes Auftreten und unbescheidne Forderungen. Im Gegenteil, als echte Naturkinder und ohne alle Bedürfnisse zivilisirter Menschen waren sie leicht zufrieden zu stellen. Es genirte sie gar¬ nicht, die Nacht auf bloßem Steinpflaster zuzubringen. Ich kann mich deutlich erinnern, daß ich sie wiederholt des Morgens vom Fenster aus uoch in dieser Lage beobachtete. Wurden sie dann munter, so pflegten gewöhnlich zwei Mann einen dritten zwischen zwei Wagenrädern hin- und herzuziehen, um denselben ans die einfachste Weise von gewissen Insekten zu befreien, an denen diese Kinder der Steppe, wie allgemein behauptet wurde, sehr reich sein sollten. Welche Verwendung diese versprengte Truppe auf dem Kriegstheater finden sollte, war ihr selbst sicherlich unbekannt, nur aus dem Worte „Paris," das sich in ihrem niemand verständlichen Kauderwelsch oft wiederholte, schlössen die Bürger, daß ihnen wenigstens das Endziel ihres Zuges gen Westen bekannt sein müsse. Aus spätern Erzählungen meiner Eltern und naher Verwandten weiß ich, daß im allgemeinen der Verkehr mit diesen seltsamen Gästen weit leichter war als mit allen andern Truppen, die während des Krieges das Weichbild der Stadt über¬ schritten hatten. Wären sie nicht so über alle Begriffe unreinlich gewesen, so würden sie sogar durch ihre ans Kindische streifende Harmlosigkeit ein erheiterndes Ele¬ ment in das eintönig verlaufende Leben der ehrsamen Bürgerschaft gebracht haben. Während ihres Aufenthaltes in Zittau führten die Baschkiren ein sehr ungezwungenes Leben. Dienstliche Übungen schienen bei dieser an freies Umher¬ schweifen gewohnten Horde nicht üblich zu sein. Jeder Vertrieb sich die Zeit nach Belieben, wobei es an wahrhaft kindischen Spielen nicht fehlte. In der Johanniskirche sammelten sich die Fremdlinge in großen Scharen, tummelten ans dem freien Platze zwischen Kirche und Gymnasium, dem früheren Kirchhofe, ihre muntern, kleinen Pferde, übten sich im Lanzenwerfen, wobei sie selten das bestimmte Ziel verfehlten, und erlaubten sich wohl mich einen Pfeil dergestalt hoch in die Luft zu schießen, daß er auf einer vomusbezeichueteu Stelle niederfallen mußte. Die Johanniskirche besitzt zwei ans Sandsteinqnadern erbaute Türme von bedeutender Höhe. Einer derselben war damals halb verfallen; er wurde erst in den dreißiger Jahren zugleich mit dem Innern der Kirche wieder ausgebaut

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/303>, abgerufen am 03.07.2024.