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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Iugonderinnorungon.

erlaubt wurde, eine Fußbank zu besteigen und zu beobachten, was auf der
Neustadt vorging. In der That gab es hier des Neuen, Anziehenden und Ab¬
sonderlichem so viel zu sehen, daß die Phantasie eines noch nicht vierjährigen
Kindes wohl davon erfüllt werden konnte.

Kurz vor unserm Einzuge in Zitten hatten sich die ersten Nüssen in der Um¬
gegend gezeigt. Bald folgten ihnen, die Wohl nur als Kundschafter vorausgeschickt
waren, größere Abteilungen der Feinde des französischen Kaisers, der auch Zitten,
umgeben von den berühmtesten seiner Marschälle, einen kurzen Besuch abgestatct hatte.

Eines Nachts, gegen Ende Septembers, ging es beunruhigend lebhaft auf
den Straßen zu. Niemand im Hause fand Ruhe, selbst der alte Großvater
blieb in längerer Beratung mit meiner Mutter und deren Schwestern in seinem
Zimmer, das an das von uns bewohnte Zimmer stieß. Aus dem endlosen
Pferdegetrappel, dem Wagengerassel, dem Schreien und Rufen in Sprachklängen,
die nie zuvor jemand gehört hatte, war abzunehmen, daß neue Kriegsvölker
einrückten. Jedermann hütete sich, Licht in seiner Wohnung zu zeigen, weil allen
vor ungestümem Andrange der fremden Ankömmlinge graute. Nur in unserm
großen Schlafzimmer brannte hinter deckenden Schirme eine Nachtlampe, deren
flackernder Schein den Nokokogcmcilden auf den Tapeten -- wir bewohnten
das nur bei außerordentlichen Gelegenheiten benutzte Staatszimmer des Gro߬
vaters -- Leben und Bewegung verlieh. Mir gefielen diese garnicht übel gemalten
Figuren, die ich später noch oft bewundert habe, ihrer seltsamen Tracht und ihrer
kapriziösen Stellungen wegen sehr wohl. Jede Tapete stellte nämlich entweder ein
im Menucttschritt tanzendes Paar dar oder zeigte Männlein und Fräulein bei
kosenden Geflüster. Auch gab es ein paar Flötenspieler zu bewundern, die ganz
so wie die Tänzer gekleidet waren. Die Tracht dieser Wandfiguren war reich
und kostbar, die Gesichter der hochfrisirteu Damen von großer Zierlichkeit. Am
schönsten aber fand ich die Schnallenschuhe an den Füßen der Tanzenden, die
mir namentlich der rosenroten Stelzchen wegen höchst beneidenswert erschienen.

Als der Tag zu grauen begann, bot sich den Einwohnern der Stadt ein
ebenso neues als seltsames Schauspiel. Die ganze Neustadt bis zur Haupt¬
wache war bedeckt mit kleinen, zottigen Pferden und niedrigen, schlecht gebauten
Wägelchen, zwischen denen Hunderte in schmutzige Filzrvcke gekleidete Menschen
teils auf dem Straßenpflaster lagen, teils aus kurzen Pfeifen rauchend hin
und wieder gingen. Ein breiter Gurt von Juchtenleder hielt die schlotternden
Röcke dieser Fremdlinge über den Hüften lose zusammen. Die Fußbekleidung
war schlecht und primitiv, am meisten aber wurde ihre Kopfbedeckung angestaunt,
die aus einem zuckerhutfvrmigcn hohen Weißen oder vielmehr weiß gewesenen Filzhut
mit schmaler Krempe bestand. Über den Rücken hing jedem dieser nächtlichen Zuwcin-
derer ein großer Bogen nebst einem Köcher, gefüllt mit gefiederten Pfeilen. Eine
solche Ausrüstung wird noch heute ans der Zittauer Ratsbiblivthek aufbewahrt.

Es waren Baschkiren aus den Steppen Asiens, deren uns das Kriegs-


Iugonderinnorungon.

erlaubt wurde, eine Fußbank zu besteigen und zu beobachten, was auf der
Neustadt vorging. In der That gab es hier des Neuen, Anziehenden und Ab¬
sonderlichem so viel zu sehen, daß die Phantasie eines noch nicht vierjährigen
Kindes wohl davon erfüllt werden konnte.

Kurz vor unserm Einzuge in Zitten hatten sich die ersten Nüssen in der Um¬
gegend gezeigt. Bald folgten ihnen, die Wohl nur als Kundschafter vorausgeschickt
waren, größere Abteilungen der Feinde des französischen Kaisers, der auch Zitten,
umgeben von den berühmtesten seiner Marschälle, einen kurzen Besuch abgestatct hatte.

Eines Nachts, gegen Ende Septembers, ging es beunruhigend lebhaft auf
den Straßen zu. Niemand im Hause fand Ruhe, selbst der alte Großvater
blieb in längerer Beratung mit meiner Mutter und deren Schwestern in seinem
Zimmer, das an das von uns bewohnte Zimmer stieß. Aus dem endlosen
Pferdegetrappel, dem Wagengerassel, dem Schreien und Rufen in Sprachklängen,
die nie zuvor jemand gehört hatte, war abzunehmen, daß neue Kriegsvölker
einrückten. Jedermann hütete sich, Licht in seiner Wohnung zu zeigen, weil allen
vor ungestümem Andrange der fremden Ankömmlinge graute. Nur in unserm
großen Schlafzimmer brannte hinter deckenden Schirme eine Nachtlampe, deren
flackernder Schein den Nokokogcmcilden auf den Tapeten — wir bewohnten
das nur bei außerordentlichen Gelegenheiten benutzte Staatszimmer des Gro߬
vaters — Leben und Bewegung verlieh. Mir gefielen diese garnicht übel gemalten
Figuren, die ich später noch oft bewundert habe, ihrer seltsamen Tracht und ihrer
kapriziösen Stellungen wegen sehr wohl. Jede Tapete stellte nämlich entweder ein
im Menucttschritt tanzendes Paar dar oder zeigte Männlein und Fräulein bei
kosenden Geflüster. Auch gab es ein paar Flötenspieler zu bewundern, die ganz
so wie die Tänzer gekleidet waren. Die Tracht dieser Wandfiguren war reich
und kostbar, die Gesichter der hochfrisirteu Damen von großer Zierlichkeit. Am
schönsten aber fand ich die Schnallenschuhe an den Füßen der Tanzenden, die
mir namentlich der rosenroten Stelzchen wegen höchst beneidenswert erschienen.

Als der Tag zu grauen begann, bot sich den Einwohnern der Stadt ein
ebenso neues als seltsames Schauspiel. Die ganze Neustadt bis zur Haupt¬
wache war bedeckt mit kleinen, zottigen Pferden und niedrigen, schlecht gebauten
Wägelchen, zwischen denen Hunderte in schmutzige Filzrvcke gekleidete Menschen
teils auf dem Straßenpflaster lagen, teils aus kurzen Pfeifen rauchend hin
und wieder gingen. Ein breiter Gurt von Juchtenleder hielt die schlotternden
Röcke dieser Fremdlinge über den Hüften lose zusammen. Die Fußbekleidung
war schlecht und primitiv, am meisten aber wurde ihre Kopfbedeckung angestaunt,
die aus einem zuckerhutfvrmigcn hohen Weißen oder vielmehr weiß gewesenen Filzhut
mit schmaler Krempe bestand. Über den Rücken hing jedem dieser nächtlichen Zuwcin-
derer ein großer Bogen nebst einem Köcher, gefüllt mit gefiederten Pfeilen. Eine
solche Ausrüstung wird noch heute ans der Zittauer Ratsbiblivthek aufbewahrt.

Es waren Baschkiren aus den Steppen Asiens, deren uns das Kriegs-


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[0302] Iugonderinnorungon. erlaubt wurde, eine Fußbank zu besteigen und zu beobachten, was auf der Neustadt vorging. In der That gab es hier des Neuen, Anziehenden und Ab¬ sonderlichem so viel zu sehen, daß die Phantasie eines noch nicht vierjährigen Kindes wohl davon erfüllt werden konnte. Kurz vor unserm Einzuge in Zitten hatten sich die ersten Nüssen in der Um¬ gegend gezeigt. Bald folgten ihnen, die Wohl nur als Kundschafter vorausgeschickt waren, größere Abteilungen der Feinde des französischen Kaisers, der auch Zitten, umgeben von den berühmtesten seiner Marschälle, einen kurzen Besuch abgestatct hatte. Eines Nachts, gegen Ende Septembers, ging es beunruhigend lebhaft auf den Straßen zu. Niemand im Hause fand Ruhe, selbst der alte Großvater blieb in längerer Beratung mit meiner Mutter und deren Schwestern in seinem Zimmer, das an das von uns bewohnte Zimmer stieß. Aus dem endlosen Pferdegetrappel, dem Wagengerassel, dem Schreien und Rufen in Sprachklängen, die nie zuvor jemand gehört hatte, war abzunehmen, daß neue Kriegsvölker einrückten. Jedermann hütete sich, Licht in seiner Wohnung zu zeigen, weil allen vor ungestümem Andrange der fremden Ankömmlinge graute. Nur in unserm großen Schlafzimmer brannte hinter deckenden Schirme eine Nachtlampe, deren flackernder Schein den Nokokogcmcilden auf den Tapeten — wir bewohnten das nur bei außerordentlichen Gelegenheiten benutzte Staatszimmer des Gro߬ vaters — Leben und Bewegung verlieh. Mir gefielen diese garnicht übel gemalten Figuren, die ich später noch oft bewundert habe, ihrer seltsamen Tracht und ihrer kapriziösen Stellungen wegen sehr wohl. Jede Tapete stellte nämlich entweder ein im Menucttschritt tanzendes Paar dar oder zeigte Männlein und Fräulein bei kosenden Geflüster. Auch gab es ein paar Flötenspieler zu bewundern, die ganz so wie die Tänzer gekleidet waren. Die Tracht dieser Wandfiguren war reich und kostbar, die Gesichter der hochfrisirteu Damen von großer Zierlichkeit. Am schönsten aber fand ich die Schnallenschuhe an den Füßen der Tanzenden, die mir namentlich der rosenroten Stelzchen wegen höchst beneidenswert erschienen. Als der Tag zu grauen begann, bot sich den Einwohnern der Stadt ein ebenso neues als seltsames Schauspiel. Die ganze Neustadt bis zur Haupt¬ wache war bedeckt mit kleinen, zottigen Pferden und niedrigen, schlecht gebauten Wägelchen, zwischen denen Hunderte in schmutzige Filzrvcke gekleidete Menschen teils auf dem Straßenpflaster lagen, teils aus kurzen Pfeifen rauchend hin und wieder gingen. Ein breiter Gurt von Juchtenleder hielt die schlotternden Röcke dieser Fremdlinge über den Hüften lose zusammen. Die Fußbekleidung war schlecht und primitiv, am meisten aber wurde ihre Kopfbedeckung angestaunt, die aus einem zuckerhutfvrmigcn hohen Weißen oder vielmehr weiß gewesenen Filzhut mit schmaler Krempe bestand. Über den Rücken hing jedem dieser nächtlichen Zuwcin- derer ein großer Bogen nebst einem Köcher, gefüllt mit gefiederten Pfeilen. Eine solche Ausrüstung wird noch heute ans der Zittauer Ratsbiblivthek aufbewahrt. Es waren Baschkiren aus den Steppen Asiens, deren uns das Kriegs-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/302>, abgerufen am 22.07.2024.