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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Die Berliner Singakademie und die musikalische Volksbildung,

in einigen Stücken frei erhalten von dein allgemeinen Drange der Zeit, aber es ist
lächerlich, wenn er seiner Zeit zumutet, sich selbst aufzugeben und fortan nach
einem näher bestimmten alten Ideal zu bauen, zu dichten, zu musiziren, zu
denken und zu fühlen. Alles dies gewinnt erst wieder einen gewissen Sinn,
wenn es sich um Erziehung handelt.

Auch Grell selbst wußte diesen Unterschied sehr Wohl zu beachten. Er, der
in seinem spätern Leben fast nur für Gesang komponirte, hat sich früher auch
in der Instrumentalmusik hervorgethan, hat sogar Opernmusik geschrieben, und
weil er in alle Dinge seine Gründlichkeit hineintrug, wußte er auch den In¬
strumenten genau abzulauschen, worin sie einer wirklich reinen Intonation nahe
kommen. "Daher klingen seine Orchestersachen, und seine Opern, Shmphonicn
und ältern Kirchcnkantaten hat er zum Teil in höchst wirkungsvoller und glän¬
zender Weise iustrnmentirt. Mit welchem Geschick er noch in den letzten Jahren
die Instrumente zu behandeln wußte, das beweisen z. V. die bei N. Sulzer in
Bielefeld und Leipzig erschienenen Kompositionen für ein, zwei, drei und vier
Violoneellos." Wir sehen also, wie Grell außerhalb seiner pädagogischen
Pflichten dem heutigen Musikweseu garnicht fremd gegenüber stand. "Er hat
bis zuletzt stets Freude an dem guten Vortrag guter Instrumentalmusik gehabt,
er sagt, daß auch die Instrumentalmusik mit Schönheitssinn betrieben werden
könne." In noch mehr, er hat auch in seiner geliebten Singakademie den Um¬
ständen sich mitunter gebeugt, und hat auf Kompromisse eingehen müssen.
Jeden Winter mußte er Oratorien und andre Musik mit Orchester aufführen,
um durch die Beiträge des herbeiströmenden Publikums dem Institute der
Akademie das Bestehen zu sichern. Was er nicht gern that, das war uns Zu¬
hörern doch das segenvollstc. Es war doch etwas besondres, die Matthäus-
Passion in der Singakademie zu hören. Man merkte Wohl, daß dieser Chor
eben für ernste kirchliche Musik geübt, ich möchte sagen geweiht war. Es war
ein Eindruck wie von einem Priester, wenn Grell vor Beginn der Aufführung
daran erinnerte, in welcher Gesinnung der Meister Text und Musik gedacht
habe, und daß die Darstellung durch Töne nur dann die rechte sein werde,
wenn sie etwas von dieser Gesinnung an sich trage. Wie gesagt, uns war sein
Nachgeben, sein Kompromiß mit dem Jnstrumentalgeschmack sehr lieb, aber
Grell pflegte zu sagen, der Sommer mit seinen unbegleiteten Übungen müsse
das wieder einholen und gut machen, was durch die Orchcstersachcn im Winter
verdorben worden sei. Grell schreibt anch S. 111: "Ich für meinen Teil habe
nie einen größern musikalischen Wohllaut vernommen und bin nie mehr von
Musik ergriffen worden, als es durch die schönen, in meinem Herzen unvcr-
klungencn Morgcngesängc im Saale der Singakademie geschehen ist." Das
waren ^ v-rxvsllir-Übungen im kleinen Kreise, nnbegleitete, reinste Kirchenmusik,
allerdings von Grell eingeübt und von Sängern und Sängerinnen ausgeführt,
die etwas von heiliger Kunst ahnten.


Die Berliner Singakademie und die musikalische Volksbildung,

in einigen Stücken frei erhalten von dein allgemeinen Drange der Zeit, aber es ist
lächerlich, wenn er seiner Zeit zumutet, sich selbst aufzugeben und fortan nach
einem näher bestimmten alten Ideal zu bauen, zu dichten, zu musiziren, zu
denken und zu fühlen. Alles dies gewinnt erst wieder einen gewissen Sinn,
wenn es sich um Erziehung handelt.

Auch Grell selbst wußte diesen Unterschied sehr Wohl zu beachten. Er, der
in seinem spätern Leben fast nur für Gesang komponirte, hat sich früher auch
in der Instrumentalmusik hervorgethan, hat sogar Opernmusik geschrieben, und
weil er in alle Dinge seine Gründlichkeit hineintrug, wußte er auch den In¬
strumenten genau abzulauschen, worin sie einer wirklich reinen Intonation nahe
kommen. „Daher klingen seine Orchestersachen, und seine Opern, Shmphonicn
und ältern Kirchcnkantaten hat er zum Teil in höchst wirkungsvoller und glän¬
zender Weise iustrnmentirt. Mit welchem Geschick er noch in den letzten Jahren
die Instrumente zu behandeln wußte, das beweisen z. V. die bei N. Sulzer in
Bielefeld und Leipzig erschienenen Kompositionen für ein, zwei, drei und vier
Violoneellos." Wir sehen also, wie Grell außerhalb seiner pädagogischen
Pflichten dem heutigen Musikweseu garnicht fremd gegenüber stand. „Er hat
bis zuletzt stets Freude an dem guten Vortrag guter Instrumentalmusik gehabt,
er sagt, daß auch die Instrumentalmusik mit Schönheitssinn betrieben werden
könne." In noch mehr, er hat auch in seiner geliebten Singakademie den Um¬
ständen sich mitunter gebeugt, und hat auf Kompromisse eingehen müssen.
Jeden Winter mußte er Oratorien und andre Musik mit Orchester aufführen,
um durch die Beiträge des herbeiströmenden Publikums dem Institute der
Akademie das Bestehen zu sichern. Was er nicht gern that, das war uns Zu¬
hörern doch das segenvollstc. Es war doch etwas besondres, die Matthäus-
Passion in der Singakademie zu hören. Man merkte Wohl, daß dieser Chor
eben für ernste kirchliche Musik geübt, ich möchte sagen geweiht war. Es war
ein Eindruck wie von einem Priester, wenn Grell vor Beginn der Aufführung
daran erinnerte, in welcher Gesinnung der Meister Text und Musik gedacht
habe, und daß die Darstellung durch Töne nur dann die rechte sein werde,
wenn sie etwas von dieser Gesinnung an sich trage. Wie gesagt, uns war sein
Nachgeben, sein Kompromiß mit dem Jnstrumentalgeschmack sehr lieb, aber
Grell pflegte zu sagen, der Sommer mit seinen unbegleiteten Übungen müsse
das wieder einholen und gut machen, was durch die Orchcstersachcn im Winter
verdorben worden sei. Grell schreibt anch S. 111: „Ich für meinen Teil habe
nie einen größern musikalischen Wohllaut vernommen und bin nie mehr von
Musik ergriffen worden, als es durch die schönen, in meinem Herzen unvcr-
klungencn Morgcngesängc im Saale der Singakademie geschehen ist." Das
waren ^ v-rxvsllir-Übungen im kleinen Kreise, nnbegleitete, reinste Kirchenmusik,
allerdings von Grell eingeübt und von Sängern und Sängerinnen ausgeführt,
die etwas von heiliger Kunst ahnten.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/294>, abgerufen am 22.07.2024.