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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Denn Grell hatte eine so hervorragende Stellung in seinem Gebiete, daß an
den Staat gerichtete Anträge in Bezug auf staatliche Einwirkung auf die Musik¬
pflege und -Organisation nicht wohl ohne seine Mitwirkung erledigt werden
konnten. Eine Zeit lang wurde seine Stimme auch beachtet; nachher kamen
andre Männer und Richtungen oben ans, und wenn man Grell noch zuweilen
fragte, so geschah es mir, um alte Formen nicht zu verletzen. Ein interessantes
Beispiel der Art hätte Professor Bellermann, wenn er nicht bestimmte Aufträge
seines Lehrers vor sich gehabt hätte, aus dem Jahre 1864 vorlegen können,
wo die höhern Schulen Preußens auf dem Wege waren, für den Gesang-
unterricht und die schulmäßigen Gesaugmaterialien die so nötige amtliche An¬
weisung in Grells Sinne zu bekommen. Die Sache war im besten Zuge, im
Jahre 1867 sollte sie abgeschlossen werden. Da kam eine neue begutachtende
Stimme dahinter, daß die bisherigen Ratschläge sehr einseitig seien. Seit der
Zeit schweigt alles. Und doch -- es ist wahr --, das Wort "einseitig" trifft
in gewisser Beziehung die Bestrebungen Grells und muß sie treffen; aber nicht
als Tadel, sondern als Ruhm ist ihm diese Einseitigkeit anzurechnen, wenn man
mit ihm die musikalische Volksbildung im Sinne hat und die Singakademie als
Pflanzstätte edelster Musik ansieht, für das Volk in der höchsten Bedeutung
des Wortes. Das bitten wir im Auge zu behalten. Wir wollen gleich sehen,
wie das gemeint ist.

Jeder weiß, wie die Instrumentalmusik seit mehr als hundert Jahren um
sich gegriffen hat. Wenn nun einer im Ernste in die Masse hineinriefe, die
Instrumente verdürben die Musik, es müsse allein der Gesang erschallen, selbst
die Orgel müsse aus den Kirchen verschwinden, so können wir ziemlich genau
sagen, wie man diesen Ruf aufnehmen würde. Die meisten, auch bis hoch in
die Kreise der Gebildeten und der Musiker hinauf, würden diese Stimme als
die eines übergeschnappten Sonderlings behandeln, ähnlich dem Rufe eiues
solchen, der alle Krankheiten aus der modernen Impfung ableitet. Sie würden
tnumphirend auf Mozart und Beethoven, auf Mendelssohn und Wagner hin¬
weisen, und die "erdrückendste" Majorität wäre auf ihrer Seite. Eine nicht
ganz kleine Anzahl von Freunden der Singakademie und Anhängern Grells
würde sich indes bei jenem Rufe anders verhalten. Sie kennen den Ruf und
verstehen seine Begründung; sie pflichten ihm sogar vollkommen bei, wenn es
sich um die Ausbildung des Ideals aller Musik handelt. Aber sie sind weit
entfernt, von der Gegenwart zu hoffen oder zu erwarten, daß sie umkehre und
Buße thue, die Instrumente zerschlage, die Klaviervirtuosen ans dem Lande
treibe, die "Musikalische Komposition" nach A. Marx verbiete, und was solche
Übertreibungen mehr siud. Warum sie so thöricht nicht sind, liegt ans der
Hand. Niemand erhebt sich ungestraft über seine ganze Zeit. Er kann die
unendliche Summe der Entwicklungen, die wir mit diesem Ausdrucke zusammen¬
fassen, wohl hie und da zu verstehen suchen, kann auch Kritik üben und sich


Denn Grell hatte eine so hervorragende Stellung in seinem Gebiete, daß an
den Staat gerichtete Anträge in Bezug auf staatliche Einwirkung auf die Musik¬
pflege und -Organisation nicht wohl ohne seine Mitwirkung erledigt werden
konnten. Eine Zeit lang wurde seine Stimme auch beachtet; nachher kamen
andre Männer und Richtungen oben ans, und wenn man Grell noch zuweilen
fragte, so geschah es mir, um alte Formen nicht zu verletzen. Ein interessantes
Beispiel der Art hätte Professor Bellermann, wenn er nicht bestimmte Aufträge
seines Lehrers vor sich gehabt hätte, aus dem Jahre 1864 vorlegen können,
wo die höhern Schulen Preußens auf dem Wege waren, für den Gesang-
unterricht und die schulmäßigen Gesaugmaterialien die so nötige amtliche An¬
weisung in Grells Sinne zu bekommen. Die Sache war im besten Zuge, im
Jahre 1867 sollte sie abgeschlossen werden. Da kam eine neue begutachtende
Stimme dahinter, daß die bisherigen Ratschläge sehr einseitig seien. Seit der
Zeit schweigt alles. Und doch — es ist wahr —, das Wort „einseitig" trifft
in gewisser Beziehung die Bestrebungen Grells und muß sie treffen; aber nicht
als Tadel, sondern als Ruhm ist ihm diese Einseitigkeit anzurechnen, wenn man
mit ihm die musikalische Volksbildung im Sinne hat und die Singakademie als
Pflanzstätte edelster Musik ansieht, für das Volk in der höchsten Bedeutung
des Wortes. Das bitten wir im Auge zu behalten. Wir wollen gleich sehen,
wie das gemeint ist.

Jeder weiß, wie die Instrumentalmusik seit mehr als hundert Jahren um
sich gegriffen hat. Wenn nun einer im Ernste in die Masse hineinriefe, die
Instrumente verdürben die Musik, es müsse allein der Gesang erschallen, selbst
die Orgel müsse aus den Kirchen verschwinden, so können wir ziemlich genau
sagen, wie man diesen Ruf aufnehmen würde. Die meisten, auch bis hoch in
die Kreise der Gebildeten und der Musiker hinauf, würden diese Stimme als
die eines übergeschnappten Sonderlings behandeln, ähnlich dem Rufe eiues
solchen, der alle Krankheiten aus der modernen Impfung ableitet. Sie würden
tnumphirend auf Mozart und Beethoven, auf Mendelssohn und Wagner hin¬
weisen, und die „erdrückendste" Majorität wäre auf ihrer Seite. Eine nicht
ganz kleine Anzahl von Freunden der Singakademie und Anhängern Grells
würde sich indes bei jenem Rufe anders verhalten. Sie kennen den Ruf und
verstehen seine Begründung; sie pflichten ihm sogar vollkommen bei, wenn es
sich um die Ausbildung des Ideals aller Musik handelt. Aber sie sind weit
entfernt, von der Gegenwart zu hoffen oder zu erwarten, daß sie umkehre und
Buße thue, die Instrumente zerschlage, die Klaviervirtuosen ans dem Lande
treibe, die „Musikalische Komposition" nach A. Marx verbiete, und was solche
Übertreibungen mehr siud. Warum sie so thöricht nicht sind, liegt ans der
Hand. Niemand erhebt sich ungestraft über seine ganze Zeit. Er kann die
unendliche Summe der Entwicklungen, die wir mit diesem Ausdrucke zusammen¬
fassen, wohl hie und da zu verstehen suchen, kann auch Kritik üben und sich


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[0293] Denn Grell hatte eine so hervorragende Stellung in seinem Gebiete, daß an den Staat gerichtete Anträge in Bezug auf staatliche Einwirkung auf die Musik¬ pflege und -Organisation nicht wohl ohne seine Mitwirkung erledigt werden konnten. Eine Zeit lang wurde seine Stimme auch beachtet; nachher kamen andre Männer und Richtungen oben ans, und wenn man Grell noch zuweilen fragte, so geschah es mir, um alte Formen nicht zu verletzen. Ein interessantes Beispiel der Art hätte Professor Bellermann, wenn er nicht bestimmte Aufträge seines Lehrers vor sich gehabt hätte, aus dem Jahre 1864 vorlegen können, wo die höhern Schulen Preußens auf dem Wege waren, für den Gesang- unterricht und die schulmäßigen Gesaugmaterialien die so nötige amtliche An¬ weisung in Grells Sinne zu bekommen. Die Sache war im besten Zuge, im Jahre 1867 sollte sie abgeschlossen werden. Da kam eine neue begutachtende Stimme dahinter, daß die bisherigen Ratschläge sehr einseitig seien. Seit der Zeit schweigt alles. Und doch — es ist wahr —, das Wort „einseitig" trifft in gewisser Beziehung die Bestrebungen Grells und muß sie treffen; aber nicht als Tadel, sondern als Ruhm ist ihm diese Einseitigkeit anzurechnen, wenn man mit ihm die musikalische Volksbildung im Sinne hat und die Singakademie als Pflanzstätte edelster Musik ansieht, für das Volk in der höchsten Bedeutung des Wortes. Das bitten wir im Auge zu behalten. Wir wollen gleich sehen, wie das gemeint ist. Jeder weiß, wie die Instrumentalmusik seit mehr als hundert Jahren um sich gegriffen hat. Wenn nun einer im Ernste in die Masse hineinriefe, die Instrumente verdürben die Musik, es müsse allein der Gesang erschallen, selbst die Orgel müsse aus den Kirchen verschwinden, so können wir ziemlich genau sagen, wie man diesen Ruf aufnehmen würde. Die meisten, auch bis hoch in die Kreise der Gebildeten und der Musiker hinauf, würden diese Stimme als die eines übergeschnappten Sonderlings behandeln, ähnlich dem Rufe eiues solchen, der alle Krankheiten aus der modernen Impfung ableitet. Sie würden tnumphirend auf Mozart und Beethoven, auf Mendelssohn und Wagner hin¬ weisen, und die „erdrückendste" Majorität wäre auf ihrer Seite. Eine nicht ganz kleine Anzahl von Freunden der Singakademie und Anhängern Grells würde sich indes bei jenem Rufe anders verhalten. Sie kennen den Ruf und verstehen seine Begründung; sie pflichten ihm sogar vollkommen bei, wenn es sich um die Ausbildung des Ideals aller Musik handelt. Aber sie sind weit entfernt, von der Gegenwart zu hoffen oder zu erwarten, daß sie umkehre und Buße thue, die Instrumente zerschlage, die Klaviervirtuosen ans dem Lande treibe, die „Musikalische Komposition" nach A. Marx verbiete, und was solche Übertreibungen mehr siud. Warum sie so thöricht nicht sind, liegt ans der Hand. Niemand erhebt sich ungestraft über seine ganze Zeit. Er kann die unendliche Summe der Entwicklungen, die wir mit diesem Ausdrucke zusammen¬ fassen, wohl hie und da zu verstehen suchen, kann auch Kritik üben und sich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/293>, abgerufen am 22.07.2024.