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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Martin Salander.

spräche auf die Konkursmasse anzumelden; allein alle seine Schritte sind
erfolglos. Das ganze Vermögen, von dem Salander nur den geringen Teil
von zwanzigtausend Franken bciar mit sich geführt hatte, ist auf Nimmerwieder¬
sehen verloren.

Nachdem Martin seiner Fran in der schonungsvollsten Weise -- "Er gehörte
zu denen, welche dergleichen (Unglück) lieber verschweigen möchten, wie ein Ver¬
gehen, das ihnen selbst und nicht fremder Schlechtigkeit zur Last fällt" (S. 54) --
Mitteilung von seinem neuen Unglück gemacht hat, entschließt er sich nach
längerer Beratschlagung, wieder nach Brasilien zurückzukehren; und zwar allein,
ohne seine Familie. Denn er sagt: "Die neue Welt jenseits des Meeres ist
wohl schön und lustig für Menschen ausgelebter und ansgehoffter Länder. Alles
wird von vorn angefangen, die Leute sind sich gleichgiltig, nur das Abenteuer
des Werdens hält sie zusammen; denn sie haben keine Vergangenheit und keine
Gräber der Vorfahren. So lange ich aber das Ganze unsrer Volkscntwicklung
auf dem alten Boden haben kann, wo meine Sprache seit fünfzehnhundert
Jahren erschallt, will ich dazu gehören, wenn ich es irgend machen kann!" (S. 83).
Wie ganz anders und aus der Fülle der heutigen Anschauung heraus klingt
dieses Kellcrsche Bekenntnis verglichen mit den bekannten Goethischen Versen:
"Amerika, du hast es besser, als unser Kontinent, der alte!" So kehrt denn
Salander mit ungeschwächtem Mute uach Brasilien zurück; die frühern Er¬
fahrungen, nen angeknüpfte geschäftliche Beziehungen zu landsmännischen Hand-
luugshäusern kommen ihm zu Gute, und nach erneuter dreijähriger Arbeit hat er
sich soweit gebracht, daß er in Rio einem Stellvertreter die Führung der Geschäfte
überlassen kann, um endlich in Münsterburg bei den Seinen zu leben. Seine
Frau hat inzwischen auch mit bescheidnen Anfängen ein sich stetig erweiterndes
Geschäft betrieben, die Kinder sorgsam erzogen, sodaß nun diese Dinge ein für
allemal geordnet sind. So steht Martin Salander als ein Kaufmann von echtem
Schrot und Korn, für immer gesichert, in zunehmender Wohlhabenheit da, und
nun erst beginnt die eigentliche Handlung des Romans.

Als die beiden Töchter Sekel und Nelli -- der Sohn Arnold ging in¬
zwischen auf eine deutsche Universität und nach der Promotion zum Doktor juris
nach England -- herangewachsen waren, ereignete sich, wie Keller lächelnd erzählt,
"ein seltsames Phänomen verliebter Leidenschaft," dessengleichen noch in keinem
Lustspiel und keinem Romane erfunden wurde, denn die Wirklichkeit sei ja er¬
finderischer als jede Dichterphantasie. Sekel und Nelli verliebe" sich nämlich
beide in dieselbe Persönlichkeit, d. h. eigentlich in zwei junge Leute, aber die sind
Zwillinge und körperlich und auch geistig gar schwer von einander zu unter-
scheiden. Es sind Individuen von jenem billigen Kaliber, wo ihrer zwölf gerade ein
Dutzend machen. Diese Zwillinge sind die Brüder Jsidor und Julian Weidelich.
Es ist eine der geistreichsten Erfindungen des tiefsinnigen, Symbole liebenden
Kellerschen Humors, von dieser Menschensorte gleich zwei auf den Plan gebracht


Martin Salander.

spräche auf die Konkursmasse anzumelden; allein alle seine Schritte sind
erfolglos. Das ganze Vermögen, von dem Salander nur den geringen Teil
von zwanzigtausend Franken bciar mit sich geführt hatte, ist auf Nimmerwieder¬
sehen verloren.

Nachdem Martin seiner Fran in der schonungsvollsten Weise — „Er gehörte
zu denen, welche dergleichen (Unglück) lieber verschweigen möchten, wie ein Ver¬
gehen, das ihnen selbst und nicht fremder Schlechtigkeit zur Last fällt" (S. 54) —
Mitteilung von seinem neuen Unglück gemacht hat, entschließt er sich nach
längerer Beratschlagung, wieder nach Brasilien zurückzukehren; und zwar allein,
ohne seine Familie. Denn er sagt: „Die neue Welt jenseits des Meeres ist
wohl schön und lustig für Menschen ausgelebter und ansgehoffter Länder. Alles
wird von vorn angefangen, die Leute sind sich gleichgiltig, nur das Abenteuer
des Werdens hält sie zusammen; denn sie haben keine Vergangenheit und keine
Gräber der Vorfahren. So lange ich aber das Ganze unsrer Volkscntwicklung
auf dem alten Boden haben kann, wo meine Sprache seit fünfzehnhundert
Jahren erschallt, will ich dazu gehören, wenn ich es irgend machen kann!" (S. 83).
Wie ganz anders und aus der Fülle der heutigen Anschauung heraus klingt
dieses Kellcrsche Bekenntnis verglichen mit den bekannten Goethischen Versen:
„Amerika, du hast es besser, als unser Kontinent, der alte!" So kehrt denn
Salander mit ungeschwächtem Mute uach Brasilien zurück; die frühern Er¬
fahrungen, nen angeknüpfte geschäftliche Beziehungen zu landsmännischen Hand-
luugshäusern kommen ihm zu Gute, und nach erneuter dreijähriger Arbeit hat er
sich soweit gebracht, daß er in Rio einem Stellvertreter die Führung der Geschäfte
überlassen kann, um endlich in Münsterburg bei den Seinen zu leben. Seine
Frau hat inzwischen auch mit bescheidnen Anfängen ein sich stetig erweiterndes
Geschäft betrieben, die Kinder sorgsam erzogen, sodaß nun diese Dinge ein für
allemal geordnet sind. So steht Martin Salander als ein Kaufmann von echtem
Schrot und Korn, für immer gesichert, in zunehmender Wohlhabenheit da, und
nun erst beginnt die eigentliche Handlung des Romans.

Als die beiden Töchter Sekel und Nelli — der Sohn Arnold ging in¬
zwischen auf eine deutsche Universität und nach der Promotion zum Doktor juris
nach England — herangewachsen waren, ereignete sich, wie Keller lächelnd erzählt,
„ein seltsames Phänomen verliebter Leidenschaft," dessengleichen noch in keinem
Lustspiel und keinem Romane erfunden wurde, denn die Wirklichkeit sei ja er¬
finderischer als jede Dichterphantasie. Sekel und Nelli verliebe« sich nämlich
beide in dieselbe Persönlichkeit, d. h. eigentlich in zwei junge Leute, aber die sind
Zwillinge und körperlich und auch geistig gar schwer von einander zu unter-
scheiden. Es sind Individuen von jenem billigen Kaliber, wo ihrer zwölf gerade ein
Dutzend machen. Diese Zwillinge sind die Brüder Jsidor und Julian Weidelich.
Es ist eine der geistreichsten Erfindungen des tiefsinnigen, Symbole liebenden
Kellerschen Humors, von dieser Menschensorte gleich zwei auf den Plan gebracht


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[0284] Martin Salander. spräche auf die Konkursmasse anzumelden; allein alle seine Schritte sind erfolglos. Das ganze Vermögen, von dem Salander nur den geringen Teil von zwanzigtausend Franken bciar mit sich geführt hatte, ist auf Nimmerwieder¬ sehen verloren. Nachdem Martin seiner Fran in der schonungsvollsten Weise — „Er gehörte zu denen, welche dergleichen (Unglück) lieber verschweigen möchten, wie ein Ver¬ gehen, das ihnen selbst und nicht fremder Schlechtigkeit zur Last fällt" (S. 54) — Mitteilung von seinem neuen Unglück gemacht hat, entschließt er sich nach längerer Beratschlagung, wieder nach Brasilien zurückzukehren; und zwar allein, ohne seine Familie. Denn er sagt: „Die neue Welt jenseits des Meeres ist wohl schön und lustig für Menschen ausgelebter und ansgehoffter Länder. Alles wird von vorn angefangen, die Leute sind sich gleichgiltig, nur das Abenteuer des Werdens hält sie zusammen; denn sie haben keine Vergangenheit und keine Gräber der Vorfahren. So lange ich aber das Ganze unsrer Volkscntwicklung auf dem alten Boden haben kann, wo meine Sprache seit fünfzehnhundert Jahren erschallt, will ich dazu gehören, wenn ich es irgend machen kann!" (S. 83). Wie ganz anders und aus der Fülle der heutigen Anschauung heraus klingt dieses Kellcrsche Bekenntnis verglichen mit den bekannten Goethischen Versen: „Amerika, du hast es besser, als unser Kontinent, der alte!" So kehrt denn Salander mit ungeschwächtem Mute uach Brasilien zurück; die frühern Er¬ fahrungen, nen angeknüpfte geschäftliche Beziehungen zu landsmännischen Hand- luugshäusern kommen ihm zu Gute, und nach erneuter dreijähriger Arbeit hat er sich soweit gebracht, daß er in Rio einem Stellvertreter die Führung der Geschäfte überlassen kann, um endlich in Münsterburg bei den Seinen zu leben. Seine Frau hat inzwischen auch mit bescheidnen Anfängen ein sich stetig erweiterndes Geschäft betrieben, die Kinder sorgsam erzogen, sodaß nun diese Dinge ein für allemal geordnet sind. So steht Martin Salander als ein Kaufmann von echtem Schrot und Korn, für immer gesichert, in zunehmender Wohlhabenheit da, und nun erst beginnt die eigentliche Handlung des Romans. Als die beiden Töchter Sekel und Nelli — der Sohn Arnold ging in¬ zwischen auf eine deutsche Universität und nach der Promotion zum Doktor juris nach England — herangewachsen waren, ereignete sich, wie Keller lächelnd erzählt, „ein seltsames Phänomen verliebter Leidenschaft," dessengleichen noch in keinem Lustspiel und keinem Romane erfunden wurde, denn die Wirklichkeit sei ja er¬ finderischer als jede Dichterphantasie. Sekel und Nelli verliebe« sich nämlich beide in dieselbe Persönlichkeit, d. h. eigentlich in zwei junge Leute, aber die sind Zwillinge und körperlich und auch geistig gar schwer von einander zu unter- scheiden. Es sind Individuen von jenem billigen Kaliber, wo ihrer zwölf gerade ein Dutzend machen. Diese Zwillinge sind die Brüder Jsidor und Julian Weidelich. Es ist eine der geistreichsten Erfindungen des tiefsinnigen, Symbole liebenden Kellerschen Humors, von dieser Menschensorte gleich zwei auf den Plan gebracht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/284>, abgerufen am 23.12.2024.