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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Martin Salander.

ist der Weg von, subjektiven Bildungsrvman, in welchem der Held nach des
Dichters persönlicher Eigenart geschaffen ist, zum sozialen Roman, der auch den
Helden ans der Mitte des Volkes wählt und ihm nicht das geringste von der
Persönlichkeit des Autors andichtet. Im "Grünen Heinrich" die Bildungs¬
geschichte des aufwärts strebenden, mit sich selbst unfertigen Dichters, im
"Martin Salander" die Schilderung des Volkes, das der Dichter mit patrio¬
tischer Treue liebt, das er aber mit der reifsten Weisheit des Genius über¬
schaut. Der "Grüne Heinrich" ist ein sentimentaler, der "Martin Salander"
ein satirischer Roman; dort wogt der Kampf um Ideen, hier um materielle
Interessen, Darum ist das letzte Werk des Dichters umso schweizerischer, als
es zu dem schweizerischen Lokal, zu den schweizerischen Menschen auch spezifisch
schweizerische Vorgänge behandelt. Aber doch thäte man sehr Unrecht, wenn
man dem Werke, wie es geschehen ist, nur eine lokale Bedeutung zugestehen
wollte; der Dichter selbst scheint dagegen schon protestirt zu haben, als er der
idealen Gestalt seines Buches, dem Arnold Salander, der wohl Kellers eignen
positiven Standpunkt vertritt, die Bemerkung in den Mund legte: (MW nous
vonrurv vllM los MtrvL. Und so ist es in der That.

Der sogenannte wirtschaftliche Aufschwung, welcher vor mehr als einem
Jahrzehnt der Reihe nach alle europäische" Staaten beglückte, um überall nach
einem grandiosen Börsen- und Bankenkrach, wie seinerzeit der Teufel des Volks¬
buches und Gestank, wieder zu verschwinden, hatte auch die Schweiz heimgesucht.
Auch hier dieselben Erscheinungen: Aufschwung des Baugewerbes, Massenbau
von Eisenbahnen, Gründung von Bau- und Hypothekenbanken, vermehrte Ge¬
nußsucht des Volkes in lärmenden Vergnügungen, in dem Streben über Stand und
Vermögen hinaus, bis die ganze papierne Herrlichkeit ein jammervolles Ende
nahm. Diese Ereignisse bilden den Vorwurf des Kellerschcn Romans. Die
Handlung desselben erstreckt sich über einen Zeitraum von etwa fünfundzwanzig
Jahren. Sie giebt uns nicht bloß ein Bild, sondern auch eine Entstehungs¬
geschichte des Aufschwunges, und sie schildert nicht bloß die Schwindler, sondern
auch die gesunden Elemente des Volkes in zahlreichen Abstufungen, sodaß wir
sehen können, an welchen Mächten es lag, daß das Unwetter, ohne allzu große"
Schaden anzurichten, vorbeijagcn konnte, und auf welchen kräftigen Schultern
uoch immer die Zukunft des Volkes ruht, an dessen gedeihlicher Zukunft der
Dichter im übrigen keinen Augenblick zweifelt. Nur "wie wenn der Geist eines
alten hysterischen Weibsbildes in unserm Ländchen herumführe, wie der Böse
im Buche Hiob" (S. 409), kommen ihm alle diese Ereignisse vor, die er auch
demgemäß und dem zuweilen grimmigen Humor des gesunden Mannes über¬
schaut. Dieser positive Geist des Werkes, welcher sich keineswegs mit der
Geißelung der Schlechten begnügt, macht einen Teil seiner Größe ans; mit
fröhlichem Mute legt man es aus der Hand. Ja, so wenig Lust hat Keller
an der Satire als solcher, daß er die Hände von der Berührung mit den un-


Martin Salander.

ist der Weg von, subjektiven Bildungsrvman, in welchem der Held nach des
Dichters persönlicher Eigenart geschaffen ist, zum sozialen Roman, der auch den
Helden ans der Mitte des Volkes wählt und ihm nicht das geringste von der
Persönlichkeit des Autors andichtet. Im „Grünen Heinrich" die Bildungs¬
geschichte des aufwärts strebenden, mit sich selbst unfertigen Dichters, im
„Martin Salander" die Schilderung des Volkes, das der Dichter mit patrio¬
tischer Treue liebt, das er aber mit der reifsten Weisheit des Genius über¬
schaut. Der „Grüne Heinrich" ist ein sentimentaler, der „Martin Salander"
ein satirischer Roman; dort wogt der Kampf um Ideen, hier um materielle
Interessen, Darum ist das letzte Werk des Dichters umso schweizerischer, als
es zu dem schweizerischen Lokal, zu den schweizerischen Menschen auch spezifisch
schweizerische Vorgänge behandelt. Aber doch thäte man sehr Unrecht, wenn
man dem Werke, wie es geschehen ist, nur eine lokale Bedeutung zugestehen
wollte; der Dichter selbst scheint dagegen schon protestirt zu haben, als er der
idealen Gestalt seines Buches, dem Arnold Salander, der wohl Kellers eignen
positiven Standpunkt vertritt, die Bemerkung in den Mund legte: (MW nous
vonrurv vllM los MtrvL. Und so ist es in der That.

Der sogenannte wirtschaftliche Aufschwung, welcher vor mehr als einem
Jahrzehnt der Reihe nach alle europäische» Staaten beglückte, um überall nach
einem grandiosen Börsen- und Bankenkrach, wie seinerzeit der Teufel des Volks¬
buches und Gestank, wieder zu verschwinden, hatte auch die Schweiz heimgesucht.
Auch hier dieselben Erscheinungen: Aufschwung des Baugewerbes, Massenbau
von Eisenbahnen, Gründung von Bau- und Hypothekenbanken, vermehrte Ge¬
nußsucht des Volkes in lärmenden Vergnügungen, in dem Streben über Stand und
Vermögen hinaus, bis die ganze papierne Herrlichkeit ein jammervolles Ende
nahm. Diese Ereignisse bilden den Vorwurf des Kellerschcn Romans. Die
Handlung desselben erstreckt sich über einen Zeitraum von etwa fünfundzwanzig
Jahren. Sie giebt uns nicht bloß ein Bild, sondern auch eine Entstehungs¬
geschichte des Aufschwunges, und sie schildert nicht bloß die Schwindler, sondern
auch die gesunden Elemente des Volkes in zahlreichen Abstufungen, sodaß wir
sehen können, an welchen Mächten es lag, daß das Unwetter, ohne allzu große»
Schaden anzurichten, vorbeijagcn konnte, und auf welchen kräftigen Schultern
uoch immer die Zukunft des Volkes ruht, an dessen gedeihlicher Zukunft der
Dichter im übrigen keinen Augenblick zweifelt. Nur „wie wenn der Geist eines
alten hysterischen Weibsbildes in unserm Ländchen herumführe, wie der Böse
im Buche Hiob" (S. 409), kommen ihm alle diese Ereignisse vor, die er auch
demgemäß und dem zuweilen grimmigen Humor des gesunden Mannes über¬
schaut. Dieser positive Geist des Werkes, welcher sich keineswegs mit der
Geißelung der Schlechten begnügt, macht einen Teil seiner Größe ans; mit
fröhlichem Mute legt man es aus der Hand. Ja, so wenig Lust hat Keller
an der Satire als solcher, daß er die Hände von der Berührung mit den un-


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[0282] Martin Salander. ist der Weg von, subjektiven Bildungsrvman, in welchem der Held nach des Dichters persönlicher Eigenart geschaffen ist, zum sozialen Roman, der auch den Helden ans der Mitte des Volkes wählt und ihm nicht das geringste von der Persönlichkeit des Autors andichtet. Im „Grünen Heinrich" die Bildungs¬ geschichte des aufwärts strebenden, mit sich selbst unfertigen Dichters, im „Martin Salander" die Schilderung des Volkes, das der Dichter mit patrio¬ tischer Treue liebt, das er aber mit der reifsten Weisheit des Genius über¬ schaut. Der „Grüne Heinrich" ist ein sentimentaler, der „Martin Salander" ein satirischer Roman; dort wogt der Kampf um Ideen, hier um materielle Interessen, Darum ist das letzte Werk des Dichters umso schweizerischer, als es zu dem schweizerischen Lokal, zu den schweizerischen Menschen auch spezifisch schweizerische Vorgänge behandelt. Aber doch thäte man sehr Unrecht, wenn man dem Werke, wie es geschehen ist, nur eine lokale Bedeutung zugestehen wollte; der Dichter selbst scheint dagegen schon protestirt zu haben, als er der idealen Gestalt seines Buches, dem Arnold Salander, der wohl Kellers eignen positiven Standpunkt vertritt, die Bemerkung in den Mund legte: (MW nous vonrurv vllM los MtrvL. Und so ist es in der That. Der sogenannte wirtschaftliche Aufschwung, welcher vor mehr als einem Jahrzehnt der Reihe nach alle europäische» Staaten beglückte, um überall nach einem grandiosen Börsen- und Bankenkrach, wie seinerzeit der Teufel des Volks¬ buches und Gestank, wieder zu verschwinden, hatte auch die Schweiz heimgesucht. Auch hier dieselben Erscheinungen: Aufschwung des Baugewerbes, Massenbau von Eisenbahnen, Gründung von Bau- und Hypothekenbanken, vermehrte Ge¬ nußsucht des Volkes in lärmenden Vergnügungen, in dem Streben über Stand und Vermögen hinaus, bis die ganze papierne Herrlichkeit ein jammervolles Ende nahm. Diese Ereignisse bilden den Vorwurf des Kellerschcn Romans. Die Handlung desselben erstreckt sich über einen Zeitraum von etwa fünfundzwanzig Jahren. Sie giebt uns nicht bloß ein Bild, sondern auch eine Entstehungs¬ geschichte des Aufschwunges, und sie schildert nicht bloß die Schwindler, sondern auch die gesunden Elemente des Volkes in zahlreichen Abstufungen, sodaß wir sehen können, an welchen Mächten es lag, daß das Unwetter, ohne allzu große» Schaden anzurichten, vorbeijagcn konnte, und auf welchen kräftigen Schultern uoch immer die Zukunft des Volkes ruht, an dessen gedeihlicher Zukunft der Dichter im übrigen keinen Augenblick zweifelt. Nur „wie wenn der Geist eines alten hysterischen Weibsbildes in unserm Ländchen herumführe, wie der Böse im Buche Hiob" (S. 409), kommen ihm alle diese Ereignisse vor, die er auch demgemäß und dem zuweilen grimmigen Humor des gesunden Mannes über¬ schaut. Dieser positive Geist des Werkes, welcher sich keineswegs mit der Geißelung der Schlechten begnügt, macht einen Teil seiner Größe ans; mit fröhlichem Mute legt man es aus der Hand. Ja, so wenig Lust hat Keller an der Satire als solcher, daß er die Hände von der Berührung mit den un-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/282>, abgerufen am 22.07.2024.