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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Martin Salander.

hatte er seine Hauptwerke schon geschrieben. Die Menge aber strebt nach dem
Neuen, und unter diesem liebenswürdige" Drucke schrieb Keller wieder sehr
langsam sein herrliches "Sinngedicht," gab er eine Sammlung seiner Gedichte
heraus, schrieb er endlich seinen neuesten Roman "Martin Salander." Schon
die Ankündigung des letzteren erregte die lebhafte Spannung aller literarisch
Gebildeten, und als er in monatlichen Fortsetzungen (die überdies nicht einmal
streng eingehalten wurden) erschien, da wurde jedes neue Stück der Dichtung
gleich emsig gelesen und tiefsinnig kritisirt. Noch bevor sie ganz veröffentlicht
war, hatte sich schon eine Meinung über die Dichtung gebildet, und es erging
ihr ähnlich wie einem Gemälde von Rembrandt, das man allzunahe, ohne Über¬
sicht des Ganzen, in seineu einzelnen Teilen betrachtet -- man war enttäuscht.
Wenn aber irgend ein dichterisches Werk durch die bruchstückartige Veröffent¬
lichung geschädigt werden mußte, so war es der "Martin Salander," über den
man nur urteilen kann, wenn man ihn ganz und zweimal gelesen hat. Denn
erst da übersieht man, wie merkwürdig einheitlich und groß diese Dichtung kon-
zipirt ist, von der man nach dem Lesen der einzelnen Bruchstücke gleich bereit
war zu sagen, sie sei wieder ein Novelleueyklus, es seien wieder Episoden, aber
kein ganzer Roman. Erst nach dem zweiten Lesen wird man hinter die Ge¬
heimnisse dieses merkwürdig gedrungenen Stiles kommen, der sich mit Anden¬
tungen begnügt, wo andre Romanschreiber, etwa Spielhagen, Bände schreiben;
dann erst wird man die Höhe des Standpunktes erfassen, von dem aus hier
der Dichter ein Bild der politischen und moralischen Zustände seiner Heimat
geliefert hat; dann wird man die Fülle von dichterischen Motiven in seiner
kleinen Welt bewundern, wie hier kein Wort zu Boden fällt und auch die
kleinsten Ueberzüge zu symbolisch-Poetischer Wirkung kunstvoll ausgenutzt werdeu;
dann die außerordentliche Kraft in der Charakteristik erfassen, wie jeder Mensch
in diesem Romane aus der Tiefe seines eignen Wesens spricht; dann die hohe
dichterische Weisheit erkennen, die schon in der Wahl und Gruppirung dieser
sich gegenseitig durch die Wirkung des Kontrastes beleuchtenden Gestalten ver¬
borgen liegt.

Man hat bisher in aller Poesie Gottfried Kellers die merkwürdige
Verschmelzung national-deutscher und schweizerischer Charakterzüge beobachten
können; Otto Brechen hat von dieser Wahrnehmung aus seinen trefflichen Essay
über den Dichter glücklich eingeleitet. Deutsch ist in Keller die literarische
Bildung, sein Ausgang von Jean Paul, mit dem er in den Jugendwerken
das Schwelgen im Gefühl gemein hat, seine Auffassung der Volkspoesie, als
dem mystische" Quell aller poetischen Empfindung im Sinne der Romantiker,
deutsch der phantastische Zug in Kellers Dichtung. Schweizerisch ist in ihr das
Lokal, das praktische Lebensideal, die nüchterne Beobachtung, der trockene Humor,
der Realismus der Kunst. Und je älter der Dichter wurde, umso enger schloß
er sich an seine Heimat an; vom "Grünen Heinrich" bis zum "Martin Salander"


Grenzboten I. 1887.
Martin Salander.

hatte er seine Hauptwerke schon geschrieben. Die Menge aber strebt nach dem
Neuen, und unter diesem liebenswürdige» Drucke schrieb Keller wieder sehr
langsam sein herrliches „Sinngedicht," gab er eine Sammlung seiner Gedichte
heraus, schrieb er endlich seinen neuesten Roman „Martin Salander." Schon
die Ankündigung des letzteren erregte die lebhafte Spannung aller literarisch
Gebildeten, und als er in monatlichen Fortsetzungen (die überdies nicht einmal
streng eingehalten wurden) erschien, da wurde jedes neue Stück der Dichtung
gleich emsig gelesen und tiefsinnig kritisirt. Noch bevor sie ganz veröffentlicht
war, hatte sich schon eine Meinung über die Dichtung gebildet, und es erging
ihr ähnlich wie einem Gemälde von Rembrandt, das man allzunahe, ohne Über¬
sicht des Ganzen, in seineu einzelnen Teilen betrachtet — man war enttäuscht.
Wenn aber irgend ein dichterisches Werk durch die bruchstückartige Veröffent¬
lichung geschädigt werden mußte, so war es der „Martin Salander," über den
man nur urteilen kann, wenn man ihn ganz und zweimal gelesen hat. Denn
erst da übersieht man, wie merkwürdig einheitlich und groß diese Dichtung kon-
zipirt ist, von der man nach dem Lesen der einzelnen Bruchstücke gleich bereit
war zu sagen, sie sei wieder ein Novelleueyklus, es seien wieder Episoden, aber
kein ganzer Roman. Erst nach dem zweiten Lesen wird man hinter die Ge¬
heimnisse dieses merkwürdig gedrungenen Stiles kommen, der sich mit Anden¬
tungen begnügt, wo andre Romanschreiber, etwa Spielhagen, Bände schreiben;
dann erst wird man die Höhe des Standpunktes erfassen, von dem aus hier
der Dichter ein Bild der politischen und moralischen Zustände seiner Heimat
geliefert hat; dann wird man die Fülle von dichterischen Motiven in seiner
kleinen Welt bewundern, wie hier kein Wort zu Boden fällt und auch die
kleinsten Ueberzüge zu symbolisch-Poetischer Wirkung kunstvoll ausgenutzt werdeu;
dann die außerordentliche Kraft in der Charakteristik erfassen, wie jeder Mensch
in diesem Romane aus der Tiefe seines eignen Wesens spricht; dann die hohe
dichterische Weisheit erkennen, die schon in der Wahl und Gruppirung dieser
sich gegenseitig durch die Wirkung des Kontrastes beleuchtenden Gestalten ver¬
borgen liegt.

Man hat bisher in aller Poesie Gottfried Kellers die merkwürdige
Verschmelzung national-deutscher und schweizerischer Charakterzüge beobachten
können; Otto Brechen hat von dieser Wahrnehmung aus seinen trefflichen Essay
über den Dichter glücklich eingeleitet. Deutsch ist in Keller die literarische
Bildung, sein Ausgang von Jean Paul, mit dem er in den Jugendwerken
das Schwelgen im Gefühl gemein hat, seine Auffassung der Volkspoesie, als
dem mystische» Quell aller poetischen Empfindung im Sinne der Romantiker,
deutsch der phantastische Zug in Kellers Dichtung. Schweizerisch ist in ihr das
Lokal, das praktische Lebensideal, die nüchterne Beobachtung, der trockene Humor,
der Realismus der Kunst. Und je älter der Dichter wurde, umso enger schloß
er sich an seine Heimat an; vom „Grünen Heinrich" bis zum „Martin Salander"


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[0281] Martin Salander. hatte er seine Hauptwerke schon geschrieben. Die Menge aber strebt nach dem Neuen, und unter diesem liebenswürdige» Drucke schrieb Keller wieder sehr langsam sein herrliches „Sinngedicht," gab er eine Sammlung seiner Gedichte heraus, schrieb er endlich seinen neuesten Roman „Martin Salander." Schon die Ankündigung des letzteren erregte die lebhafte Spannung aller literarisch Gebildeten, und als er in monatlichen Fortsetzungen (die überdies nicht einmal streng eingehalten wurden) erschien, da wurde jedes neue Stück der Dichtung gleich emsig gelesen und tiefsinnig kritisirt. Noch bevor sie ganz veröffentlicht war, hatte sich schon eine Meinung über die Dichtung gebildet, und es erging ihr ähnlich wie einem Gemälde von Rembrandt, das man allzunahe, ohne Über¬ sicht des Ganzen, in seineu einzelnen Teilen betrachtet — man war enttäuscht. Wenn aber irgend ein dichterisches Werk durch die bruchstückartige Veröffent¬ lichung geschädigt werden mußte, so war es der „Martin Salander," über den man nur urteilen kann, wenn man ihn ganz und zweimal gelesen hat. Denn erst da übersieht man, wie merkwürdig einheitlich und groß diese Dichtung kon- zipirt ist, von der man nach dem Lesen der einzelnen Bruchstücke gleich bereit war zu sagen, sie sei wieder ein Novelleueyklus, es seien wieder Episoden, aber kein ganzer Roman. Erst nach dem zweiten Lesen wird man hinter die Ge¬ heimnisse dieses merkwürdig gedrungenen Stiles kommen, der sich mit Anden¬ tungen begnügt, wo andre Romanschreiber, etwa Spielhagen, Bände schreiben; dann erst wird man die Höhe des Standpunktes erfassen, von dem aus hier der Dichter ein Bild der politischen und moralischen Zustände seiner Heimat geliefert hat; dann wird man die Fülle von dichterischen Motiven in seiner kleinen Welt bewundern, wie hier kein Wort zu Boden fällt und auch die kleinsten Ueberzüge zu symbolisch-Poetischer Wirkung kunstvoll ausgenutzt werdeu; dann die außerordentliche Kraft in der Charakteristik erfassen, wie jeder Mensch in diesem Romane aus der Tiefe seines eignen Wesens spricht; dann die hohe dichterische Weisheit erkennen, die schon in der Wahl und Gruppirung dieser sich gegenseitig durch die Wirkung des Kontrastes beleuchtenden Gestalten ver¬ borgen liegt. Man hat bisher in aller Poesie Gottfried Kellers die merkwürdige Verschmelzung national-deutscher und schweizerischer Charakterzüge beobachten können; Otto Brechen hat von dieser Wahrnehmung aus seinen trefflichen Essay über den Dichter glücklich eingeleitet. Deutsch ist in Keller die literarische Bildung, sein Ausgang von Jean Paul, mit dem er in den Jugendwerken das Schwelgen im Gefühl gemein hat, seine Auffassung der Volkspoesie, als dem mystische» Quell aller poetischen Empfindung im Sinne der Romantiker, deutsch der phantastische Zug in Kellers Dichtung. Schweizerisch ist in ihr das Lokal, das praktische Lebensideal, die nüchterne Beobachtung, der trockene Humor, der Realismus der Kunst. Und je älter der Dichter wurde, umso enger schloß er sich an seine Heimat an; vom „Grünen Heinrich" bis zum „Martin Salander" Grenzboten I. 1887.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/281>, abgerufen am 22.07.2024.