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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Jahres 1811, und an sein Erblicken knüpft sich meine erste Jugenderinnerung.
Ich hatte damals mein zweites Lebensjahr noch nicht vollendet.

Ein zweites, nicht weniger lebhaftes Erinnerungsbild, das in den Spätherbst
von 1812 fällt, hat sich meinem Gedächtnis ebenso tief eingegraben und knüpft
sich ebenfalls an eine Naturerscheinung. Es war Abend; mein um zwei Jahre
älterer Bruder und ich saßen in Gesellschaft der Kindermagd, die über uns zu
wachen hatte und an der wir sehr hingen, an einem einfachen Tische, der eine
Schüssel dampfender Kartoffeln in der Schaale -- im Volksmnnde damals noch
Erdbirncn genannt -- trug. Plötzlich erfüllte rote Glut das ganze Zimmer
und zeigte uns die nahe Kirche von Flammen umspielt, aber nur auf Augen¬
blicke. Dann verschwand die Erscheinung, die uns Kinder zitternd in die
schützenden Arme der erschrockenen Pflegerin jagte, uuter prasselndem Donner, der
das ganze Haus erheben machte.

Festere Umrisse nehmen die Erinnerungsbilder meiner frühesten Kindheit im
Sommer und Herbst des nächsten Jahres an. Da sehe ich mich jetzt noch ganz
deutlich an der Seite des Vaters und des Kirchschnlmeistcrs nach dem äußersten
Ende unsers Obstgartens wandern, dort, wo sich der Garten in offenes Feld
verwandelte, auf die Erde legen und mit fest an den Boden gedrücktem Ohre
lauschen. Ob ich in jener Lage selbst etwas gehört habe, weiß ich nicht, Wohl
aber erinnere ich mich sehr wohl, daß noch verschiedne Nachbarn sich uns zu¬
gesellten, denselben Versuch machten, und daß alle einstimmig ein an der Erde
sich bemerkbar machendes Gerünsch für fernen, Kanonendonner erklärten. Jeden¬
falls beruhte das vernommene dumpfe Rollen nicht ans bloßer Sinnentäuschung,
denn wie man später in Erfahrung brachte, war an jenein Tage die blutige
Schlacht bei Bautzen geschlagen worden, von dem mein Geburtsort in gerader
Linie etwa fünf deutsche Meilen entfernt liegt.

Bis zu diesem geschichtlich bedeutsamen Tage war unser ruhiges Fcunilien-


seits von dem großstädtischen Treiben und dein Welthandel Hamburgs, wo er sich seit dein
Herbste 1852 niedergelassen hatte, oder von dem Stillleben der friesischen Inseln und den
großen Schicksalen Schleswig-Holsteins, der Heimat seiner trefflichen Frau, angezogen fühlte.
Als es dann einsam um ihn geworden war, seine Kinder weit hinaus in die Ferne gezogen
waren, seine Frau ihm durch den Tod entrissen war, kehrte er im Herbste t330 in sein
Geburtsland nach Zittnu znriick und hat hier unter der treuen Pflege einer Schwester in¬
mitten eines großen Verwandtenkreises seine letzten Jahre verlebt, bis er am 24. Mui 1886
nbgerufeu wurde und seine letzte Ruhestätte neben seinen Eltern ans dein Friedhofe seines
Heimatsdorfes fand. Obwohl im Alter von Krankheit oft geplagt, verfolgte er doch mit Bor¬
liebe den Plan, seine Selbstbiographie zu schreiben; doch nahm ihm der Tod die Feder ans
der Hand, als er eben erst ihren ersten Teil vollendet hatte. Was die folgenden Blätter
geben, ist also nnr ein kleines Brnchstiick des beabsichtigten Werkes. Trotzdem schien es wegen
der liebevollen Vertiefung in die innere Entwicklung einer jungen Seele und der lebendigen,
treuen Schilderung der Umgebung in der stillen Zeit nach den Befreiungskriegen der Ver¬
öffentlichung nicht unwert. Otto Kämmet.

Jahres 1811, und an sein Erblicken knüpft sich meine erste Jugenderinnerung.
Ich hatte damals mein zweites Lebensjahr noch nicht vollendet.

Ein zweites, nicht weniger lebhaftes Erinnerungsbild, das in den Spätherbst
von 1812 fällt, hat sich meinem Gedächtnis ebenso tief eingegraben und knüpft
sich ebenfalls an eine Naturerscheinung. Es war Abend; mein um zwei Jahre
älterer Bruder und ich saßen in Gesellschaft der Kindermagd, die über uns zu
wachen hatte und an der wir sehr hingen, an einem einfachen Tische, der eine
Schüssel dampfender Kartoffeln in der Schaale — im Volksmnnde damals noch
Erdbirncn genannt — trug. Plötzlich erfüllte rote Glut das ganze Zimmer
und zeigte uns die nahe Kirche von Flammen umspielt, aber nur auf Augen¬
blicke. Dann verschwand die Erscheinung, die uns Kinder zitternd in die
schützenden Arme der erschrockenen Pflegerin jagte, uuter prasselndem Donner, der
das ganze Haus erheben machte.

Festere Umrisse nehmen die Erinnerungsbilder meiner frühesten Kindheit im
Sommer und Herbst des nächsten Jahres an. Da sehe ich mich jetzt noch ganz
deutlich an der Seite des Vaters und des Kirchschnlmeistcrs nach dem äußersten
Ende unsers Obstgartens wandern, dort, wo sich der Garten in offenes Feld
verwandelte, auf die Erde legen und mit fest an den Boden gedrücktem Ohre
lauschen. Ob ich in jener Lage selbst etwas gehört habe, weiß ich nicht, Wohl
aber erinnere ich mich sehr wohl, daß noch verschiedne Nachbarn sich uns zu¬
gesellten, denselben Versuch machten, und daß alle einstimmig ein an der Erde
sich bemerkbar machendes Gerünsch für fernen, Kanonendonner erklärten. Jeden¬
falls beruhte das vernommene dumpfe Rollen nicht ans bloßer Sinnentäuschung,
denn wie man später in Erfahrung brachte, war an jenein Tage die blutige
Schlacht bei Bautzen geschlagen worden, von dem mein Geburtsort in gerader
Linie etwa fünf deutsche Meilen entfernt liegt.

Bis zu diesem geschichtlich bedeutsamen Tage war unser ruhiges Fcunilien-


seits von dem großstädtischen Treiben und dein Welthandel Hamburgs, wo er sich seit dein
Herbste 1852 niedergelassen hatte, oder von dem Stillleben der friesischen Inseln und den
großen Schicksalen Schleswig-Holsteins, der Heimat seiner trefflichen Frau, angezogen fühlte.
Als es dann einsam um ihn geworden war, seine Kinder weit hinaus in die Ferne gezogen
waren, seine Frau ihm durch den Tod entrissen war, kehrte er im Herbste t330 in sein
Geburtsland nach Zittnu znriick und hat hier unter der treuen Pflege einer Schwester in¬
mitten eines großen Verwandtenkreises seine letzten Jahre verlebt, bis er am 24. Mui 1886
nbgerufeu wurde und seine letzte Ruhestätte neben seinen Eltern ans dein Friedhofe seines
Heimatsdorfes fand. Obwohl im Alter von Krankheit oft geplagt, verfolgte er doch mit Bor¬
liebe den Plan, seine Selbstbiographie zu schreiben; doch nahm ihm der Tod die Feder ans
der Hand, als er eben erst ihren ersten Teil vollendet hatte. Was die folgenden Blätter
geben, ist also nnr ein kleines Brnchstiick des beabsichtigten Werkes. Trotzdem schien es wegen
der liebevollen Vertiefung in die innere Entwicklung einer jungen Seele und der lebendigen,
treuen Schilderung der Umgebung in der stillen Zeit nach den Befreiungskriegen der Ver¬
öffentlichung nicht unwert. Otto Kämmet.
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[0243] Jahres 1811, und an sein Erblicken knüpft sich meine erste Jugenderinnerung. Ich hatte damals mein zweites Lebensjahr noch nicht vollendet. Ein zweites, nicht weniger lebhaftes Erinnerungsbild, das in den Spätherbst von 1812 fällt, hat sich meinem Gedächtnis ebenso tief eingegraben und knüpft sich ebenfalls an eine Naturerscheinung. Es war Abend; mein um zwei Jahre älterer Bruder und ich saßen in Gesellschaft der Kindermagd, die über uns zu wachen hatte und an der wir sehr hingen, an einem einfachen Tische, der eine Schüssel dampfender Kartoffeln in der Schaale — im Volksmnnde damals noch Erdbirncn genannt — trug. Plötzlich erfüllte rote Glut das ganze Zimmer und zeigte uns die nahe Kirche von Flammen umspielt, aber nur auf Augen¬ blicke. Dann verschwand die Erscheinung, die uns Kinder zitternd in die schützenden Arme der erschrockenen Pflegerin jagte, uuter prasselndem Donner, der das ganze Haus erheben machte. Festere Umrisse nehmen die Erinnerungsbilder meiner frühesten Kindheit im Sommer und Herbst des nächsten Jahres an. Da sehe ich mich jetzt noch ganz deutlich an der Seite des Vaters und des Kirchschnlmeistcrs nach dem äußersten Ende unsers Obstgartens wandern, dort, wo sich der Garten in offenes Feld verwandelte, auf die Erde legen und mit fest an den Boden gedrücktem Ohre lauschen. Ob ich in jener Lage selbst etwas gehört habe, weiß ich nicht, Wohl aber erinnere ich mich sehr wohl, daß noch verschiedne Nachbarn sich uns zu¬ gesellten, denselben Versuch machten, und daß alle einstimmig ein an der Erde sich bemerkbar machendes Gerünsch für fernen, Kanonendonner erklärten. Jeden¬ falls beruhte das vernommene dumpfe Rollen nicht ans bloßer Sinnentäuschung, denn wie man später in Erfahrung brachte, war an jenein Tage die blutige Schlacht bei Bautzen geschlagen worden, von dem mein Geburtsort in gerader Linie etwa fünf deutsche Meilen entfernt liegt. Bis zu diesem geschichtlich bedeutsamen Tage war unser ruhiges Fcunilien- seits von dem großstädtischen Treiben und dein Welthandel Hamburgs, wo er sich seit dein Herbste 1852 niedergelassen hatte, oder von dem Stillleben der friesischen Inseln und den großen Schicksalen Schleswig-Holsteins, der Heimat seiner trefflichen Frau, angezogen fühlte. Als es dann einsam um ihn geworden war, seine Kinder weit hinaus in die Ferne gezogen waren, seine Frau ihm durch den Tod entrissen war, kehrte er im Herbste t330 in sein Geburtsland nach Zittnu znriick und hat hier unter der treuen Pflege einer Schwester in¬ mitten eines großen Verwandtenkreises seine letzten Jahre verlebt, bis er am 24. Mui 1886 nbgerufeu wurde und seine letzte Ruhestätte neben seinen Eltern ans dein Friedhofe seines Heimatsdorfes fand. Obwohl im Alter von Krankheit oft geplagt, verfolgte er doch mit Bor¬ liebe den Plan, seine Selbstbiographie zu schreiben; doch nahm ihm der Tod die Feder ans der Hand, als er eben erst ihren ersten Teil vollendet hatte. Was die folgenden Blätter geben, ist also nnr ein kleines Brnchstiick des beabsichtigten Werkes. Trotzdem schien es wegen der liebevollen Vertiefung in die innere Entwicklung einer jungen Seele und der lebendigen, treuen Schilderung der Umgebung in der stillen Zeit nach den Befreiungskriegen der Ver¬ öffentlichung nicht unwert. Otto Kämmet.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/243>, abgerufen am 23.12.2024.