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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Gymiuisialuntcrricht und Fachbildung,

Zweifel überwindend, mich dennoch zur Veröffentlichung dieses Aufsatzes ent¬
schließen konnte, so muß ich zu meiner Rechtfertigung zwei Gründe anführen.
Erstens bin ich in den mir zugänglich gewesenen Schriften nirgends dem von
mir vertretenen Vorschlage begegnet, die Schulzeit abzukürzen, die Prima zu
streichen und ihr Unterrichtspensum der Universität zu überweisen. Alle aus
fachmännischer Kreisen stammenden Vorschläge behandeln nur eine Spaltung,
nicht eine Verminderung des Lehrstoffes. In vielen wird sogar eine Erweiterung
desselben empfohlen; wo die Überbürdung anerkannt wird -- und dies ist auf
Seiten der Schulmänner nur selten der Fall --, sucht man ihr wohl durch Ab¬
änderung der Lehrmethode, niemals aber durch Verminderung der Schulstunden
zu begegnen. Immer bilden der neunjährige Kursus, die Abgangsprüfung mit
seinen ausschlaggebenden Berechtigungen, die wöchentliche Stundenzahl von zwei-
unddreißig Lektionen die festen Punkte, zwischen denen die Reformversuche umher-
tasten. Ohne ein Preisgeben dieser festen Punkte aber, ohne einen neuen Aufbau
des Lehrplans und ohne Unterordnung des Wünschenswerten unter das Er¬
reichbare wird jede Schulreform ergebnislos bleiben. Und nach dieser Richtung
hin einen Fingerzeig zu geben, ist der eine Beweggrund der vorstehenden Be¬
sprechung gewesen.

Den zweiten Grund schöpfe ich aus einer andern Betrachtung. Es ist
mir aufgefallen, daß die öffentliche Besprechung der Schulfrage in Broschüren
und Zeitschriften fast ausschließlich von Mitgliedern des Lehrerstandes oder
doch von Fachmännern geführt wird, welche ihr Beruf naturgemäß auf das
Unterrichtswesen hinweist. So rückhaltlos ich die Kompetenz dieser Männer
auf allen den Gebieten anerkenne, wo sich ein Urteil mir durch fachmännische
Vorbildung und Erfahrung in der Praxis gewinnen läßt, so bin ich doch der
Meinung, daß ihre Anschauungen für die großen Gesichtspunkte, nach denen
das staatliche Erziehungswesen in seinen Grundzügen zu organisiren ist, nicht
unbedingt vnd unter allen Umständen maßgebend seien. Ich glaube vielmehr,
daß sehr häufig der Blick durch das fachmännische Interesse getrübt wird, und
daß auch Nichtschulmänncr nach Maßgabe ihrer eignen Erfahrungen und Be¬
obachtungen berechtigt sind, sich über das Schulwesen und die etwa vorhandenen
Mißstände gutachtlich zu äußern. Ans der Jugend erwächst das Geschlecht,
mit dessen Leistungen das Staatswesen zu rechnen hat, und jeder Beruf hat
ein Interesse daran, diesen Nachwuchs sich so entwickeln zu sehen, daß seine
Mitarbeiterschnft nutzbringend, die Freudigkeit zur Arbeit vorhanden sei, und
in der Vorbereitung dazu auf die gleichmäßige Kräftigung von Verstand und
Charakter bedacht genommen werde. Schließlich ist doch nicht die Jugend der
Schule wegen, sondern die Schule der Jugend wegen da. Die Schulmänner
sind im ganzen nicht geneigt, Eltern, Vormündern und Freunden der Jugend
ein Urteil über das öffentliche Unterrichtswesen einzuräumen. Und doch sind
sie so sehr auf deren Mitwirkung in der häuslichen Erziehung angewiesen. Der


Gymiuisialuntcrricht und Fachbildung,

Zweifel überwindend, mich dennoch zur Veröffentlichung dieses Aufsatzes ent¬
schließen konnte, so muß ich zu meiner Rechtfertigung zwei Gründe anführen.
Erstens bin ich in den mir zugänglich gewesenen Schriften nirgends dem von
mir vertretenen Vorschlage begegnet, die Schulzeit abzukürzen, die Prima zu
streichen und ihr Unterrichtspensum der Universität zu überweisen. Alle aus
fachmännischer Kreisen stammenden Vorschläge behandeln nur eine Spaltung,
nicht eine Verminderung des Lehrstoffes. In vielen wird sogar eine Erweiterung
desselben empfohlen; wo die Überbürdung anerkannt wird — und dies ist auf
Seiten der Schulmänner nur selten der Fall —, sucht man ihr wohl durch Ab¬
änderung der Lehrmethode, niemals aber durch Verminderung der Schulstunden
zu begegnen. Immer bilden der neunjährige Kursus, die Abgangsprüfung mit
seinen ausschlaggebenden Berechtigungen, die wöchentliche Stundenzahl von zwei-
unddreißig Lektionen die festen Punkte, zwischen denen die Reformversuche umher-
tasten. Ohne ein Preisgeben dieser festen Punkte aber, ohne einen neuen Aufbau
des Lehrplans und ohne Unterordnung des Wünschenswerten unter das Er¬
reichbare wird jede Schulreform ergebnislos bleiben. Und nach dieser Richtung
hin einen Fingerzeig zu geben, ist der eine Beweggrund der vorstehenden Be¬
sprechung gewesen.

Den zweiten Grund schöpfe ich aus einer andern Betrachtung. Es ist
mir aufgefallen, daß die öffentliche Besprechung der Schulfrage in Broschüren
und Zeitschriften fast ausschließlich von Mitgliedern des Lehrerstandes oder
doch von Fachmännern geführt wird, welche ihr Beruf naturgemäß auf das
Unterrichtswesen hinweist. So rückhaltlos ich die Kompetenz dieser Männer
auf allen den Gebieten anerkenne, wo sich ein Urteil mir durch fachmännische
Vorbildung und Erfahrung in der Praxis gewinnen läßt, so bin ich doch der
Meinung, daß ihre Anschauungen für die großen Gesichtspunkte, nach denen
das staatliche Erziehungswesen in seinen Grundzügen zu organisiren ist, nicht
unbedingt vnd unter allen Umständen maßgebend seien. Ich glaube vielmehr,
daß sehr häufig der Blick durch das fachmännische Interesse getrübt wird, und
daß auch Nichtschulmänncr nach Maßgabe ihrer eignen Erfahrungen und Be¬
obachtungen berechtigt sind, sich über das Schulwesen und die etwa vorhandenen
Mißstände gutachtlich zu äußern. Ans der Jugend erwächst das Geschlecht,
mit dessen Leistungen das Staatswesen zu rechnen hat, und jeder Beruf hat
ein Interesse daran, diesen Nachwuchs sich so entwickeln zu sehen, daß seine
Mitarbeiterschnft nutzbringend, die Freudigkeit zur Arbeit vorhanden sei, und
in der Vorbereitung dazu auf die gleichmäßige Kräftigung von Verstand und
Charakter bedacht genommen werde. Schließlich ist doch nicht die Jugend der
Schule wegen, sondern die Schule der Jugend wegen da. Die Schulmänner
sind im ganzen nicht geneigt, Eltern, Vormündern und Freunden der Jugend
ein Urteil über das öffentliche Unterrichtswesen einzuräumen. Und doch sind
sie so sehr auf deren Mitwirkung in der häuslichen Erziehung angewiesen. Der


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[0230] Gymiuisialuntcrricht und Fachbildung, Zweifel überwindend, mich dennoch zur Veröffentlichung dieses Aufsatzes ent¬ schließen konnte, so muß ich zu meiner Rechtfertigung zwei Gründe anführen. Erstens bin ich in den mir zugänglich gewesenen Schriften nirgends dem von mir vertretenen Vorschlage begegnet, die Schulzeit abzukürzen, die Prima zu streichen und ihr Unterrichtspensum der Universität zu überweisen. Alle aus fachmännischer Kreisen stammenden Vorschläge behandeln nur eine Spaltung, nicht eine Verminderung des Lehrstoffes. In vielen wird sogar eine Erweiterung desselben empfohlen; wo die Überbürdung anerkannt wird — und dies ist auf Seiten der Schulmänner nur selten der Fall —, sucht man ihr wohl durch Ab¬ änderung der Lehrmethode, niemals aber durch Verminderung der Schulstunden zu begegnen. Immer bilden der neunjährige Kursus, die Abgangsprüfung mit seinen ausschlaggebenden Berechtigungen, die wöchentliche Stundenzahl von zwei- unddreißig Lektionen die festen Punkte, zwischen denen die Reformversuche umher- tasten. Ohne ein Preisgeben dieser festen Punkte aber, ohne einen neuen Aufbau des Lehrplans und ohne Unterordnung des Wünschenswerten unter das Er¬ reichbare wird jede Schulreform ergebnislos bleiben. Und nach dieser Richtung hin einen Fingerzeig zu geben, ist der eine Beweggrund der vorstehenden Be¬ sprechung gewesen. Den zweiten Grund schöpfe ich aus einer andern Betrachtung. Es ist mir aufgefallen, daß die öffentliche Besprechung der Schulfrage in Broschüren und Zeitschriften fast ausschließlich von Mitgliedern des Lehrerstandes oder doch von Fachmännern geführt wird, welche ihr Beruf naturgemäß auf das Unterrichtswesen hinweist. So rückhaltlos ich die Kompetenz dieser Männer auf allen den Gebieten anerkenne, wo sich ein Urteil mir durch fachmännische Vorbildung und Erfahrung in der Praxis gewinnen läßt, so bin ich doch der Meinung, daß ihre Anschauungen für die großen Gesichtspunkte, nach denen das staatliche Erziehungswesen in seinen Grundzügen zu organisiren ist, nicht unbedingt vnd unter allen Umständen maßgebend seien. Ich glaube vielmehr, daß sehr häufig der Blick durch das fachmännische Interesse getrübt wird, und daß auch Nichtschulmänncr nach Maßgabe ihrer eignen Erfahrungen und Be¬ obachtungen berechtigt sind, sich über das Schulwesen und die etwa vorhandenen Mißstände gutachtlich zu äußern. Ans der Jugend erwächst das Geschlecht, mit dessen Leistungen das Staatswesen zu rechnen hat, und jeder Beruf hat ein Interesse daran, diesen Nachwuchs sich so entwickeln zu sehen, daß seine Mitarbeiterschnft nutzbringend, die Freudigkeit zur Arbeit vorhanden sei, und in der Vorbereitung dazu auf die gleichmäßige Kräftigung von Verstand und Charakter bedacht genommen werde. Schließlich ist doch nicht die Jugend der Schule wegen, sondern die Schule der Jugend wegen da. Die Schulmänner sind im ganzen nicht geneigt, Eltern, Vormündern und Freunden der Jugend ein Urteil über das öffentliche Unterrichtswesen einzuräumen. Und doch sind sie so sehr auf deren Mitwirkung in der häuslichen Erziehung angewiesen. Der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/230>, abgerufen am 03.07.2024.