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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Gymncisialunterricht und Fachbildung.

Entwicklung von selbst verstrimmen, wenn der Studienplan nach den obigen
Vorschlägen abgeändert und das Ziel näher gesteckt wird. Ganz aufhören
werden dieselben freilich nie. Keim Lehrplan ist imstande, die beschränkteren
und unbegabteren Schüler mit derselben Leichtigkeit ans Ziel zu führen, wie
die befähigten Köpfe. Man könnte es nur als ein Glück betrachten, wenn
manche Eltern ihre Söhne anstatt dein Gymnasium lieber den Bürger- und
technischen Fachschulen übergäben. Eitelkeit und Selbsttäuschung wirken dabei
häufig mit, und die Erkenntnis, daß der Knabe für einen gelehrten Beruf nicht
die nötigen Fähigkeiten besitzt, tritt gewöhnlich erst dann ein, wenn nach jahre¬
langem, mühevollem Ringen die Kräfte in der Tertia oder Sekunda völlig er¬
lahmen. Der Abgeordnete Scyffcndt (Krefeld) hat in einer 1885 abgehaltenen
Versammlung des liberalen Schulvereins für Rheinland und Westfalen nach¬
gewiesen, daß 1882 die Quarten der preußischen Gymnasien von 12 300, die
beiden Jahrgänge der Prima von je 4400 Schülern besucht wurden. Dieses
Zahlenverhältnis dürfte sich inzwischen nicht wesentlich verändert haben. Es
gelangt demnach in Preußen durchschnittlich nur der dritte Teil der Quartaner
in die Prima. Die andern werden ans dem Wege dahin abgestoßen. Die
Berechtigung für den einjährigen Dienst hält zwar viele bis zur 1IL fest, aber
bei weitem nicht alle. Hätte die Schule die Macht, die Aufnahme derjenigen
Knaben, die uur die Unterklassen besuchen Wollen, zu verhindern, so wäre das
ein großer Gewinn für alle Teile. Da aber nun einmal diesem Zudrang nicht
zu steuern ist, so wird man gut thun, der Überfüllung durch Parallelklassen
oder durch Vermehrung von Progymnasien zu begegnen, ans welchen der Ver¬
such, wie weit die Befähigung reicht, weniger peinlich empfunden wird als auf
dem Gymnasium.

Ich will hier meine Untersuchung abbrechen. Daß sie nicht erschöpfend ist,
daß noch manche dunkle Punkte unsers Schulwesens unbeleuchtet geblieben sind,
ist mir wohl bewußt. Allein als Laie halte ich mich zu einer Kritik der tech¬
nischen Einzelheiten nicht für berufen. Wieviel Zeitstuudeu in den einzelnen
Klassen dieser" oder jenem Lehrstoff zuzuweisen, wieviel griechische Skripta und
wieviel lateinische Extemporalien anzufertigen, welche Schriftsteller zu wählen
seien -- alles das überlasse ich dem bewährteren fachmännischer Urteil. Daß
die gegenwärtige Lehrmethode der Verbesserung sähig ist, daß in deu untern
Klassen dem Anschauungsunterricht ein weiteres Feld eingeräumt werde, daß
das Gedächtnis des Schülers weniger beschwert, sein selbständiges Denken mehr
angeregt werde, dafür haben sich schon in den Kreisen der Schnlmünner selbst
Stimmen genug erhoben. Vor mir liegt ein Stoß von Broschüren, welche die
Schulreform behandeln. Sorgfältig ausgearbeitete Stundenpläne für die neue
Einheitsschule sind in Menge vorhanden. In dem Maß, wie dieser Stoß auf
meinem Schreibtische anwuchs, regte sich in mir immer stärker das Bedenken,
die Anzahl dieser Aufsätze durch einen neuen zu vermehren. Wenn ich, diese


Gymncisialunterricht und Fachbildung.

Entwicklung von selbst verstrimmen, wenn der Studienplan nach den obigen
Vorschlägen abgeändert und das Ziel näher gesteckt wird. Ganz aufhören
werden dieselben freilich nie. Keim Lehrplan ist imstande, die beschränkteren
und unbegabteren Schüler mit derselben Leichtigkeit ans Ziel zu führen, wie
die befähigten Köpfe. Man könnte es nur als ein Glück betrachten, wenn
manche Eltern ihre Söhne anstatt dein Gymnasium lieber den Bürger- und
technischen Fachschulen übergäben. Eitelkeit und Selbsttäuschung wirken dabei
häufig mit, und die Erkenntnis, daß der Knabe für einen gelehrten Beruf nicht
die nötigen Fähigkeiten besitzt, tritt gewöhnlich erst dann ein, wenn nach jahre¬
langem, mühevollem Ringen die Kräfte in der Tertia oder Sekunda völlig er¬
lahmen. Der Abgeordnete Scyffcndt (Krefeld) hat in einer 1885 abgehaltenen
Versammlung des liberalen Schulvereins für Rheinland und Westfalen nach¬
gewiesen, daß 1882 die Quarten der preußischen Gymnasien von 12 300, die
beiden Jahrgänge der Prima von je 4400 Schülern besucht wurden. Dieses
Zahlenverhältnis dürfte sich inzwischen nicht wesentlich verändert haben. Es
gelangt demnach in Preußen durchschnittlich nur der dritte Teil der Quartaner
in die Prima. Die andern werden ans dem Wege dahin abgestoßen. Die
Berechtigung für den einjährigen Dienst hält zwar viele bis zur 1IL fest, aber
bei weitem nicht alle. Hätte die Schule die Macht, die Aufnahme derjenigen
Knaben, die uur die Unterklassen besuchen Wollen, zu verhindern, so wäre das
ein großer Gewinn für alle Teile. Da aber nun einmal diesem Zudrang nicht
zu steuern ist, so wird man gut thun, der Überfüllung durch Parallelklassen
oder durch Vermehrung von Progymnasien zu begegnen, ans welchen der Ver¬
such, wie weit die Befähigung reicht, weniger peinlich empfunden wird als auf
dem Gymnasium.

Ich will hier meine Untersuchung abbrechen. Daß sie nicht erschöpfend ist,
daß noch manche dunkle Punkte unsers Schulwesens unbeleuchtet geblieben sind,
ist mir wohl bewußt. Allein als Laie halte ich mich zu einer Kritik der tech¬
nischen Einzelheiten nicht für berufen. Wieviel Zeitstuudeu in den einzelnen
Klassen dieser» oder jenem Lehrstoff zuzuweisen, wieviel griechische Skripta und
wieviel lateinische Extemporalien anzufertigen, welche Schriftsteller zu wählen
seien — alles das überlasse ich dem bewährteren fachmännischer Urteil. Daß
die gegenwärtige Lehrmethode der Verbesserung sähig ist, daß in deu untern
Klassen dem Anschauungsunterricht ein weiteres Feld eingeräumt werde, daß
das Gedächtnis des Schülers weniger beschwert, sein selbständiges Denken mehr
angeregt werde, dafür haben sich schon in den Kreisen der Schnlmünner selbst
Stimmen genug erhoben. Vor mir liegt ein Stoß von Broschüren, welche die
Schulreform behandeln. Sorgfältig ausgearbeitete Stundenpläne für die neue
Einheitsschule sind in Menge vorhanden. In dem Maß, wie dieser Stoß auf
meinem Schreibtische anwuchs, regte sich in mir immer stärker das Bedenken,
die Anzahl dieser Aufsätze durch einen neuen zu vermehren. Wenn ich, diese


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[0229] Gymncisialunterricht und Fachbildung. Entwicklung von selbst verstrimmen, wenn der Studienplan nach den obigen Vorschlägen abgeändert und das Ziel näher gesteckt wird. Ganz aufhören werden dieselben freilich nie. Keim Lehrplan ist imstande, die beschränkteren und unbegabteren Schüler mit derselben Leichtigkeit ans Ziel zu führen, wie die befähigten Köpfe. Man könnte es nur als ein Glück betrachten, wenn manche Eltern ihre Söhne anstatt dein Gymnasium lieber den Bürger- und technischen Fachschulen übergäben. Eitelkeit und Selbsttäuschung wirken dabei häufig mit, und die Erkenntnis, daß der Knabe für einen gelehrten Beruf nicht die nötigen Fähigkeiten besitzt, tritt gewöhnlich erst dann ein, wenn nach jahre¬ langem, mühevollem Ringen die Kräfte in der Tertia oder Sekunda völlig er¬ lahmen. Der Abgeordnete Scyffcndt (Krefeld) hat in einer 1885 abgehaltenen Versammlung des liberalen Schulvereins für Rheinland und Westfalen nach¬ gewiesen, daß 1882 die Quarten der preußischen Gymnasien von 12 300, die beiden Jahrgänge der Prima von je 4400 Schülern besucht wurden. Dieses Zahlenverhältnis dürfte sich inzwischen nicht wesentlich verändert haben. Es gelangt demnach in Preußen durchschnittlich nur der dritte Teil der Quartaner in die Prima. Die andern werden ans dem Wege dahin abgestoßen. Die Berechtigung für den einjährigen Dienst hält zwar viele bis zur 1IL fest, aber bei weitem nicht alle. Hätte die Schule die Macht, die Aufnahme derjenigen Knaben, die uur die Unterklassen besuchen Wollen, zu verhindern, so wäre das ein großer Gewinn für alle Teile. Da aber nun einmal diesem Zudrang nicht zu steuern ist, so wird man gut thun, der Überfüllung durch Parallelklassen oder durch Vermehrung von Progymnasien zu begegnen, ans welchen der Ver¬ such, wie weit die Befähigung reicht, weniger peinlich empfunden wird als auf dem Gymnasium. Ich will hier meine Untersuchung abbrechen. Daß sie nicht erschöpfend ist, daß noch manche dunkle Punkte unsers Schulwesens unbeleuchtet geblieben sind, ist mir wohl bewußt. Allein als Laie halte ich mich zu einer Kritik der tech¬ nischen Einzelheiten nicht für berufen. Wieviel Zeitstuudeu in den einzelnen Klassen dieser» oder jenem Lehrstoff zuzuweisen, wieviel griechische Skripta und wieviel lateinische Extemporalien anzufertigen, welche Schriftsteller zu wählen seien — alles das überlasse ich dem bewährteren fachmännischer Urteil. Daß die gegenwärtige Lehrmethode der Verbesserung sähig ist, daß in deu untern Klassen dem Anschauungsunterricht ein weiteres Feld eingeräumt werde, daß das Gedächtnis des Schülers weniger beschwert, sein selbständiges Denken mehr angeregt werde, dafür haben sich schon in den Kreisen der Schnlmünner selbst Stimmen genug erhoben. Vor mir liegt ein Stoß von Broschüren, welche die Schulreform behandeln. Sorgfältig ausgearbeitete Stundenpläne für die neue Einheitsschule sind in Menge vorhanden. In dem Maß, wie dieser Stoß auf meinem Schreibtische anwuchs, regte sich in mir immer stärker das Bedenken, die Anzahl dieser Aufsätze durch einen neuen zu vermehren. Wenn ich, diese

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/229>, abgerufen am 23.12.2024.