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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Gymnasialunterricht und Fachbildung.

sich ein Widerstand der betreffenden Behörden gegen die Mehrbelastung der
Gemeinden allenfalls noch rechtfertigen. Da sie aber nur die Einrichtung von
vier bis fünf Klassenzimmern und ebensoviele Lehrergehalte in sich schließt, so
ist nicht einzusehen, wie dieser Mehranfwmib ein begründetes Hindernis in der
Abstellung allbekannter und von Lehrern, Eltern und Schülern gleichmäßig
empfundener Mißstände abgeben kann. Die schon bestehende Verteilung der
jünger" Schüler in Ostern- und Michaelisklassen genügt nicht. Bei einem über¬
mäßigen Andrang, wie z. B. in Berlin, würde es sich wahrscheinlich empfehlen,
dnrch entsprechend erweiterte Proghmnnsien die Gymnasien zu entlasten, die Be-
schränkung der Anfnnhmezahl für die untern Klaffen würde so zu bemessen sein
-- die Feststellung dieser Zahl will ich dem fachmännische" Urteil überlassen --,
daß auch die Lehrmethode eine durchgreifende Änderung erfahren und die in der
Schule zugebrachte Zeit in ergiebigster Weise ausgenutzt werden könnte. Es ist
klar, daß ein Lehrer mit zwanzig oder fünfundzwanzig Schülern, deren Auf¬
merksamkeit er leicht nachprüfen kann, ein weit größeres Arbeitspensum zu
bewältigen imstande ist, als mit der doppelten Anzahl. Es würde daher, ohne
daß damit eine Ermüdung auf beiden Seiten stattfindet, vielmehr in einer weit
anregender" Form der Lehrstoff, den der neue Bildungsplan vorschreibt, so
verarbeitet werde" können, daß der einzelne Schüler ein volleres Verständnis
gewinnt und die Hausarbeit nicht mehr, wie jetzt, die Freistunden beengt. Ich
glaube, daß auf diese Weise der siebzehnjährige Abiturient des neuen Gymnasiums
den Lehrstoff nicht nur besser verdaut habe", in seinem Urteil gereifter sein würde,
sondern daß auch durch die engere Fühlung des Lehrers mit dem Schüler eine
Einwirkung auf die Charakterbildung gewonnen und endlich den Erfordernissen
körperlicher Übung wieder ihr altes Recht gewährt werden könnte. In letzterer
Hinsicht richten sich die Blicke unwillkürlich nach England, wo das Erziehungs-
wesen der "körperlichen Ausbildung" ein so weites Feld einräumt. Aneignung
einer möglichst großen Masse von sogenannten "Kenntnissen" ist dort eine
untergeordnete Forderung. Das Wichtigste ist Bildung für das praktische
Leben, ohne daß dabei die idealen Ziele der Wissenschaft ans dem Auge ver¬
loren würden.

Ein feiner Beobachter englischer Zustände, Freiherr von Ompteda, sagt
darüber in seinen "Neuen Bildern nus dem Leben in England": "Der Knabe in
Eton verlebt einen großen Teil seines Tages im Freien: auf den Spielplätze",
auf dein Wasser, auf Wegen und Stegen. Alle kleinlichen Einschränkungen
werden vermieden. Man sucht auf jede Weise eine ungehinderte Entwicklung
der individuellen Kraft zu befördern. Dadurch erhalten Körper, Geist, Verstand
und Einbildungskraft ein festes, gesundes, ruhiges Gleichgewicht. Niemals hat
ein Tag mehr als vier Schulstunden, mehrere male in der Woche nur zwei.
Mit sechs bis sieben Stunden geistiger Arbeit wird selbst ein fleißiger Schüler
allen Ansprüchen genügen. Welch unermeßlicher Vorzug gegen unsre deutsche"


Gymnasialunterricht und Fachbildung.

sich ein Widerstand der betreffenden Behörden gegen die Mehrbelastung der
Gemeinden allenfalls noch rechtfertigen. Da sie aber nur die Einrichtung von
vier bis fünf Klassenzimmern und ebensoviele Lehrergehalte in sich schließt, so
ist nicht einzusehen, wie dieser Mehranfwmib ein begründetes Hindernis in der
Abstellung allbekannter und von Lehrern, Eltern und Schülern gleichmäßig
empfundener Mißstände abgeben kann. Die schon bestehende Verteilung der
jünger» Schüler in Ostern- und Michaelisklassen genügt nicht. Bei einem über¬
mäßigen Andrang, wie z. B. in Berlin, würde es sich wahrscheinlich empfehlen,
dnrch entsprechend erweiterte Proghmnnsien die Gymnasien zu entlasten, die Be-
schränkung der Anfnnhmezahl für die untern Klaffen würde so zu bemessen sein
— die Feststellung dieser Zahl will ich dem fachmännische» Urteil überlassen —,
daß auch die Lehrmethode eine durchgreifende Änderung erfahren und die in der
Schule zugebrachte Zeit in ergiebigster Weise ausgenutzt werden könnte. Es ist
klar, daß ein Lehrer mit zwanzig oder fünfundzwanzig Schülern, deren Auf¬
merksamkeit er leicht nachprüfen kann, ein weit größeres Arbeitspensum zu
bewältigen imstande ist, als mit der doppelten Anzahl. Es würde daher, ohne
daß damit eine Ermüdung auf beiden Seiten stattfindet, vielmehr in einer weit
anregender» Form der Lehrstoff, den der neue Bildungsplan vorschreibt, so
verarbeitet werde» können, daß der einzelne Schüler ein volleres Verständnis
gewinnt und die Hausarbeit nicht mehr, wie jetzt, die Freistunden beengt. Ich
glaube, daß auf diese Weise der siebzehnjährige Abiturient des neuen Gymnasiums
den Lehrstoff nicht nur besser verdaut habe», in seinem Urteil gereifter sein würde,
sondern daß auch durch die engere Fühlung des Lehrers mit dem Schüler eine
Einwirkung auf die Charakterbildung gewonnen und endlich den Erfordernissen
körperlicher Übung wieder ihr altes Recht gewährt werden könnte. In letzterer
Hinsicht richten sich die Blicke unwillkürlich nach England, wo das Erziehungs-
wesen der „körperlichen Ausbildung" ein so weites Feld einräumt. Aneignung
einer möglichst großen Masse von sogenannten „Kenntnissen" ist dort eine
untergeordnete Forderung. Das Wichtigste ist Bildung für das praktische
Leben, ohne daß dabei die idealen Ziele der Wissenschaft ans dem Auge ver¬
loren würden.

Ein feiner Beobachter englischer Zustände, Freiherr von Ompteda, sagt
darüber in seinen „Neuen Bildern nus dem Leben in England": „Der Knabe in
Eton verlebt einen großen Teil seines Tages im Freien: auf den Spielplätze»,
auf dein Wasser, auf Wegen und Stegen. Alle kleinlichen Einschränkungen
werden vermieden. Man sucht auf jede Weise eine ungehinderte Entwicklung
der individuellen Kraft zu befördern. Dadurch erhalten Körper, Geist, Verstand
und Einbildungskraft ein festes, gesundes, ruhiges Gleichgewicht. Niemals hat
ein Tag mehr als vier Schulstunden, mehrere male in der Woche nur zwei.
Mit sechs bis sieben Stunden geistiger Arbeit wird selbst ein fleißiger Schüler
allen Ansprüchen genügen. Welch unermeßlicher Vorzug gegen unsre deutsche»


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[0224] Gymnasialunterricht und Fachbildung. sich ein Widerstand der betreffenden Behörden gegen die Mehrbelastung der Gemeinden allenfalls noch rechtfertigen. Da sie aber nur die Einrichtung von vier bis fünf Klassenzimmern und ebensoviele Lehrergehalte in sich schließt, so ist nicht einzusehen, wie dieser Mehranfwmib ein begründetes Hindernis in der Abstellung allbekannter und von Lehrern, Eltern und Schülern gleichmäßig empfundener Mißstände abgeben kann. Die schon bestehende Verteilung der jünger» Schüler in Ostern- und Michaelisklassen genügt nicht. Bei einem über¬ mäßigen Andrang, wie z. B. in Berlin, würde es sich wahrscheinlich empfehlen, dnrch entsprechend erweiterte Proghmnnsien die Gymnasien zu entlasten, die Be- schränkung der Anfnnhmezahl für die untern Klaffen würde so zu bemessen sein — die Feststellung dieser Zahl will ich dem fachmännische» Urteil überlassen —, daß auch die Lehrmethode eine durchgreifende Änderung erfahren und die in der Schule zugebrachte Zeit in ergiebigster Weise ausgenutzt werden könnte. Es ist klar, daß ein Lehrer mit zwanzig oder fünfundzwanzig Schülern, deren Auf¬ merksamkeit er leicht nachprüfen kann, ein weit größeres Arbeitspensum zu bewältigen imstande ist, als mit der doppelten Anzahl. Es würde daher, ohne daß damit eine Ermüdung auf beiden Seiten stattfindet, vielmehr in einer weit anregender» Form der Lehrstoff, den der neue Bildungsplan vorschreibt, so verarbeitet werde» können, daß der einzelne Schüler ein volleres Verständnis gewinnt und die Hausarbeit nicht mehr, wie jetzt, die Freistunden beengt. Ich glaube, daß auf diese Weise der siebzehnjährige Abiturient des neuen Gymnasiums den Lehrstoff nicht nur besser verdaut habe», in seinem Urteil gereifter sein würde, sondern daß auch durch die engere Fühlung des Lehrers mit dem Schüler eine Einwirkung auf die Charakterbildung gewonnen und endlich den Erfordernissen körperlicher Übung wieder ihr altes Recht gewährt werden könnte. In letzterer Hinsicht richten sich die Blicke unwillkürlich nach England, wo das Erziehungs- wesen der „körperlichen Ausbildung" ein so weites Feld einräumt. Aneignung einer möglichst großen Masse von sogenannten „Kenntnissen" ist dort eine untergeordnete Forderung. Das Wichtigste ist Bildung für das praktische Leben, ohne daß dabei die idealen Ziele der Wissenschaft ans dem Auge ver¬ loren würden. Ein feiner Beobachter englischer Zustände, Freiherr von Ompteda, sagt darüber in seinen „Neuen Bildern nus dem Leben in England": „Der Knabe in Eton verlebt einen großen Teil seines Tages im Freien: auf den Spielplätze», auf dein Wasser, auf Wegen und Stegen. Alle kleinlichen Einschränkungen werden vermieden. Man sucht auf jede Weise eine ungehinderte Entwicklung der individuellen Kraft zu befördern. Dadurch erhalten Körper, Geist, Verstand und Einbildungskraft ein festes, gesundes, ruhiges Gleichgewicht. Niemals hat ein Tag mehr als vier Schulstunden, mehrere male in der Woche nur zwei. Mit sechs bis sieben Stunden geistiger Arbeit wird selbst ein fleißiger Schüler allen Ansprüchen genügen. Welch unermeßlicher Vorzug gegen unsre deutsche»

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/224>, abgerufen am 01.10.2024.