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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Gymnasialunterricht "ut Fachbildung.

Werden. Dies hat seinen Grund in der Überfüllung der Klassen, welche in den
größern Städten geradezu erdrückende Verhältnisse angenommen hat, "ut hier
sind es "nieder die untern und mittlern Klassen, in denen dieser Übelstand am
stärksten zu Tage tritt, also diejenigen Altersstufen, die der führenden Hand des
Lehrers am meisten bedürfen. Wenn ein Knabe erst die stümperhaften Vor¬
bereitungen seiner dreißig bis vierzig Mitschüler anhören muß, ehe die Reihe
an ihn kommt, wenn Tage, oft Wochen vergehen, ehe eine Frage an ihn gerichtet
wird, so heißt das die Neigung zu Unaufmerksamkeit und Träumerei, die diesem
Alter ohnehin innewohnt, geradezu begünstigen. Und unter dieser Überfüllung
leiden alle Arten von Schülern gleichmäßig. Die begabteru langweilen sich, die
unbegabten vermissen die ermunternde Hilfe, welche ihr schwerfälligeres Denk¬
vermögen anregen und entwickeln würde. Eine Überwachung der Klasse durch
den Lehrer wird zur Unmöglichkeit, ein Studium der Persönlichkeit und des
Charakters ebenfalls, und damit ist die pädagogische Seite des Unterrichts arg
geschädigt, eine richtige Beurteilung der Fähigkeiten und Anlagen sehr erschwert
Die Folgen davon sind Irrungen und kleine Ungerechtigkeiten, welche das
jugendliche Gemüt entweder mißmutig und verdrossen machen oder als Kränkungen
empfunden werden. Dem Klassenlehrer kann man hierbei keinen Vorwurf macheu;
seine Aufgabe übersteigt oft das, was von gewissenhaftester Pflichterfüllung ge¬
fordert werden kann. Daß er genötigt ist, einen großen Teil dessen, was während
der Schulstunden verarbeitet werden sollte, auf die häuslichen Aufgaben ttber-
zuwälzen, daß dadurch der leidige Nachhilfeunterricht vielfach zur Notwendigkeit
geworden ist und dem Knaben die freie Zeit für körperliche Bewegung ver¬
kümmert wird -- alles das sind Mißstände, die mit einem Schlage zu beseitigen
wären, wenn man die in den Klassen zulässige Höhe der Schülerzahl verringerte
und an den Orten, wo der Andrang besonders stark ist, Parallelklassen einführte.
Dies ist so einleuchtend, daß die Unterlassung dieses einfachsten Auskunftsmittels
ganz unbegreiflich erschiene, wem, nicht die Kostcnfrage das Hemmnis wäre. Es
erscheint mir aber doch als eine vollständige Verkennung dessen, was wir unsrer
Jugend schuldig sind, wenn der Staat und die Gemeinde gerade an dieser
Stelle eine Sparsamkeitsregel befolgen wollten, die auf vielen andern Gebieten
der öffentliche" Wohlfahrt keineswegs so streng beobachtet wird. Ich meine,
daß die Mittel, die jetzt für die Pflege der Kunst, für die Ausschmückung der
Städte, für Verschönerungen und selbst für nützliche, aber nicht unbedingt
notwendige Gemcindebanten ausgegeben werden, doch zuvörderst dem öffentlichen
Schulwesen zufließe" sollten. In dieser Hinsicht können wir von den Engländern
und selbst vo" de" Amerikanern lernen, sowenig auch das theoretische Schul¬
system der letzter" sich sonst zur Nachahmung empfiehlt. Aber wo es gilt, die
nötigen Räume für Schulzwecke herzustellen, fehlt es dort nie an Geld.
Handelte es sich bei der Einführung von Parallelklassen, etwa von III an ab¬
wärts, denn die obern Klassen sind selten überfüllt, um große Summen, so ließe


Gymnasialunterricht »ut Fachbildung.

Werden. Dies hat seinen Grund in der Überfüllung der Klassen, welche in den
größern Städten geradezu erdrückende Verhältnisse angenommen hat, »ut hier
sind es »nieder die untern und mittlern Klassen, in denen dieser Übelstand am
stärksten zu Tage tritt, also diejenigen Altersstufen, die der führenden Hand des
Lehrers am meisten bedürfen. Wenn ein Knabe erst die stümperhaften Vor¬
bereitungen seiner dreißig bis vierzig Mitschüler anhören muß, ehe die Reihe
an ihn kommt, wenn Tage, oft Wochen vergehen, ehe eine Frage an ihn gerichtet
wird, so heißt das die Neigung zu Unaufmerksamkeit und Träumerei, die diesem
Alter ohnehin innewohnt, geradezu begünstigen. Und unter dieser Überfüllung
leiden alle Arten von Schülern gleichmäßig. Die begabteru langweilen sich, die
unbegabten vermissen die ermunternde Hilfe, welche ihr schwerfälligeres Denk¬
vermögen anregen und entwickeln würde. Eine Überwachung der Klasse durch
den Lehrer wird zur Unmöglichkeit, ein Studium der Persönlichkeit und des
Charakters ebenfalls, und damit ist die pädagogische Seite des Unterrichts arg
geschädigt, eine richtige Beurteilung der Fähigkeiten und Anlagen sehr erschwert
Die Folgen davon sind Irrungen und kleine Ungerechtigkeiten, welche das
jugendliche Gemüt entweder mißmutig und verdrossen machen oder als Kränkungen
empfunden werden. Dem Klassenlehrer kann man hierbei keinen Vorwurf macheu;
seine Aufgabe übersteigt oft das, was von gewissenhaftester Pflichterfüllung ge¬
fordert werden kann. Daß er genötigt ist, einen großen Teil dessen, was während
der Schulstunden verarbeitet werden sollte, auf die häuslichen Aufgaben ttber-
zuwälzen, daß dadurch der leidige Nachhilfeunterricht vielfach zur Notwendigkeit
geworden ist und dem Knaben die freie Zeit für körperliche Bewegung ver¬
kümmert wird — alles das sind Mißstände, die mit einem Schlage zu beseitigen
wären, wenn man die in den Klassen zulässige Höhe der Schülerzahl verringerte
und an den Orten, wo der Andrang besonders stark ist, Parallelklassen einführte.
Dies ist so einleuchtend, daß die Unterlassung dieses einfachsten Auskunftsmittels
ganz unbegreiflich erschiene, wem, nicht die Kostcnfrage das Hemmnis wäre. Es
erscheint mir aber doch als eine vollständige Verkennung dessen, was wir unsrer
Jugend schuldig sind, wenn der Staat und die Gemeinde gerade an dieser
Stelle eine Sparsamkeitsregel befolgen wollten, die auf vielen andern Gebieten
der öffentliche» Wohlfahrt keineswegs so streng beobachtet wird. Ich meine,
daß die Mittel, die jetzt für die Pflege der Kunst, für die Ausschmückung der
Städte, für Verschönerungen und selbst für nützliche, aber nicht unbedingt
notwendige Gemcindebanten ausgegeben werden, doch zuvörderst dem öffentlichen
Schulwesen zufließe» sollten. In dieser Hinsicht können wir von den Engländern
und selbst vo» de» Amerikanern lernen, sowenig auch das theoretische Schul¬
system der letzter» sich sonst zur Nachahmung empfiehlt. Aber wo es gilt, die
nötigen Räume für Schulzwecke herzustellen, fehlt es dort nie an Geld.
Handelte es sich bei der Einführung von Parallelklassen, etwa von III an ab¬
wärts, denn die obern Klassen sind selten überfüllt, um große Summen, so ließe


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[0223] Gymnasialunterricht »ut Fachbildung. Werden. Dies hat seinen Grund in der Überfüllung der Klassen, welche in den größern Städten geradezu erdrückende Verhältnisse angenommen hat, »ut hier sind es »nieder die untern und mittlern Klassen, in denen dieser Übelstand am stärksten zu Tage tritt, also diejenigen Altersstufen, die der führenden Hand des Lehrers am meisten bedürfen. Wenn ein Knabe erst die stümperhaften Vor¬ bereitungen seiner dreißig bis vierzig Mitschüler anhören muß, ehe die Reihe an ihn kommt, wenn Tage, oft Wochen vergehen, ehe eine Frage an ihn gerichtet wird, so heißt das die Neigung zu Unaufmerksamkeit und Träumerei, die diesem Alter ohnehin innewohnt, geradezu begünstigen. Und unter dieser Überfüllung leiden alle Arten von Schülern gleichmäßig. Die begabteru langweilen sich, die unbegabten vermissen die ermunternde Hilfe, welche ihr schwerfälligeres Denk¬ vermögen anregen und entwickeln würde. Eine Überwachung der Klasse durch den Lehrer wird zur Unmöglichkeit, ein Studium der Persönlichkeit und des Charakters ebenfalls, und damit ist die pädagogische Seite des Unterrichts arg geschädigt, eine richtige Beurteilung der Fähigkeiten und Anlagen sehr erschwert Die Folgen davon sind Irrungen und kleine Ungerechtigkeiten, welche das jugendliche Gemüt entweder mißmutig und verdrossen machen oder als Kränkungen empfunden werden. Dem Klassenlehrer kann man hierbei keinen Vorwurf macheu; seine Aufgabe übersteigt oft das, was von gewissenhaftester Pflichterfüllung ge¬ fordert werden kann. Daß er genötigt ist, einen großen Teil dessen, was während der Schulstunden verarbeitet werden sollte, auf die häuslichen Aufgaben ttber- zuwälzen, daß dadurch der leidige Nachhilfeunterricht vielfach zur Notwendigkeit geworden ist und dem Knaben die freie Zeit für körperliche Bewegung ver¬ kümmert wird — alles das sind Mißstände, die mit einem Schlage zu beseitigen wären, wenn man die in den Klassen zulässige Höhe der Schülerzahl verringerte und an den Orten, wo der Andrang besonders stark ist, Parallelklassen einführte. Dies ist so einleuchtend, daß die Unterlassung dieses einfachsten Auskunftsmittels ganz unbegreiflich erschiene, wem, nicht die Kostcnfrage das Hemmnis wäre. Es erscheint mir aber doch als eine vollständige Verkennung dessen, was wir unsrer Jugend schuldig sind, wenn der Staat und die Gemeinde gerade an dieser Stelle eine Sparsamkeitsregel befolgen wollten, die auf vielen andern Gebieten der öffentliche» Wohlfahrt keineswegs so streng beobachtet wird. Ich meine, daß die Mittel, die jetzt für die Pflege der Kunst, für die Ausschmückung der Städte, für Verschönerungen und selbst für nützliche, aber nicht unbedingt notwendige Gemcindebanten ausgegeben werden, doch zuvörderst dem öffentlichen Schulwesen zufließe» sollten. In dieser Hinsicht können wir von den Engländern und selbst vo» de» Amerikanern lernen, sowenig auch das theoretische Schul¬ system der letzter» sich sonst zur Nachahmung empfiehlt. Aber wo es gilt, die nötigen Räume für Schulzwecke herzustellen, fehlt es dort nie an Geld. Handelte es sich bei der Einführung von Parallelklassen, etwa von III an ab¬ wärts, denn die obern Klassen sind selten überfüllt, um große Summen, so ließe

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/223>, abgerufen am 01.10.2024.