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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Der Jammer von Reichstag.

Wie servil dieser Freisinn, der nach dem Zukuuftsregimente angelt, sein
kann, das trat auch in Richters Rede für England hervor. Er führte unter
den Motiven, die unsre Haltung England gegenüber zu berücksichtigen hätte,
auch die Verwandtschaft der Dynastien ins Treffen. Da verwahrte sich denn
doch Bismarck gegen diese Verwertung der dynastischen Verwandtschaften in
den großen nationalen Interessen. Den Versuchen Richters, dynastischen Ver¬
wandtschaften einen Einfluß auf die Politik zu gestatten, trat er mit der Ver¬
sicherung entgegen, daß das Gewicht unsrer kaiserlichen Hohcnzvllerndynastie
unter allen Umständen und zu jeder Zeit auf der Seite der nationalen Inter-
essen in die Wagschale geworfen werde.

In diese "elenden Verhandlungen" hinein, wie sie das schon damals waren,
ehe der leitende Staatsmann sie so bezeichnet hatte, fiel das Bismarckjubiläum.
Dieses selbst wagten die Fvrtschrittsblättcr nicht zu bespritzen; sie ignorirten es
nur. Aber kaum war es vorüber, da stand ihnen der Geifer wieder im Munde.
So schrieb das Blatt des Herr" Hänel einen Tag nach dem Feste, am 3. April:
"Es kann nach dem Feste nicht verschwiegen werden, daß Fürst Bismarcks
Politik im Innern nicht immer erfolgreich war. Sie suchte zu entzweien, um
zu gebieten. . . . Die Kunst der Diplomatie, auf die innern Fragen angewandt,
versagte vollständig; die besten Kräfte mühen sich in solchen Kämpfen fruchtlos
ab und erlahmen zuletzt, der treuesten Patrioten bemächtigt sich eine bittere
Resignation, sie werden irre an der Nation und an sich selbst." Wenn doch
diese "treuen Patrioten" anfingen, an sich irre zu werden! Herr Hänel und
Herr Richter könnten garnichts besseres thu".

Übergehen wollen wir, wie neben andern Dingen, in denen der Freisinn
eine Heuchelei und grundsätzliche Opposition gegen Bismarck zeigte, er sich der
Börsensteuer widersetzte. Die Füllung der Parteikricgskassc durch die Jobber
im Jahre 1881 war zu vorteilhaft für die Wahlmache der freisinnigen Herren
gewesen, als daß man sich nicht von neuem hätte um das Jobbcrtum verdient
machen müssen, um sich die frühern Kvntribneuten von neuem zu verpflichten.
Dies und so manches andre wollen wir, wie gesagt, übergehen. Schlimmeres
als alles dies, ja auch schlimmeres, als am 15. Dezember 1884 geschah, fand
am 16. Januar 1886 statt, als die sozialdemokratisch-polnisch-klerilal-freisinnige
Majorität in der Ausweisuugsdcbatte den Beweis lieferte, daß sie zu allem
fähig war, wenn es galt, dem Staatsmanne an der Spitze des Reiches in den
Rücken zu fallen. Obgleich Herr Huret früher einmal die Gefahr der Ne-
polonisirung der östlichen Provinzen anerkannt hatte, legte er jetzt doch so weit
alle Scham ab, daß er, Windthorst für seinen Herrn und Meister anerkennend,
sich für dessen Antrag erklärte: "Der Reichstag beschließt, daß die von der
königlich preußischen Negierung verfügten Auswcisnugeu russischer und öster¬
reichischer Unterthanen uach ihrem Umfange und nach ihrer Art nicht gerecht¬
fertigt erscheinen und mit dem Interesse der Reichsangehörigen nicht vereinbar


Der Jammer von Reichstag.

Wie servil dieser Freisinn, der nach dem Zukuuftsregimente angelt, sein
kann, das trat auch in Richters Rede für England hervor. Er führte unter
den Motiven, die unsre Haltung England gegenüber zu berücksichtigen hätte,
auch die Verwandtschaft der Dynastien ins Treffen. Da verwahrte sich denn
doch Bismarck gegen diese Verwertung der dynastischen Verwandtschaften in
den großen nationalen Interessen. Den Versuchen Richters, dynastischen Ver¬
wandtschaften einen Einfluß auf die Politik zu gestatten, trat er mit der Ver¬
sicherung entgegen, daß das Gewicht unsrer kaiserlichen Hohcnzvllerndynastie
unter allen Umständen und zu jeder Zeit auf der Seite der nationalen Inter-
essen in die Wagschale geworfen werde.

In diese „elenden Verhandlungen" hinein, wie sie das schon damals waren,
ehe der leitende Staatsmann sie so bezeichnet hatte, fiel das Bismarckjubiläum.
Dieses selbst wagten die Fvrtschrittsblättcr nicht zu bespritzen; sie ignorirten es
nur. Aber kaum war es vorüber, da stand ihnen der Geifer wieder im Munde.
So schrieb das Blatt des Herr» Hänel einen Tag nach dem Feste, am 3. April:
„Es kann nach dem Feste nicht verschwiegen werden, daß Fürst Bismarcks
Politik im Innern nicht immer erfolgreich war. Sie suchte zu entzweien, um
zu gebieten. . . . Die Kunst der Diplomatie, auf die innern Fragen angewandt,
versagte vollständig; die besten Kräfte mühen sich in solchen Kämpfen fruchtlos
ab und erlahmen zuletzt, der treuesten Patrioten bemächtigt sich eine bittere
Resignation, sie werden irre an der Nation und an sich selbst." Wenn doch
diese „treuen Patrioten" anfingen, an sich irre zu werden! Herr Hänel und
Herr Richter könnten garnichts besseres thu».

Übergehen wollen wir, wie neben andern Dingen, in denen der Freisinn
eine Heuchelei und grundsätzliche Opposition gegen Bismarck zeigte, er sich der
Börsensteuer widersetzte. Die Füllung der Parteikricgskassc durch die Jobber
im Jahre 1881 war zu vorteilhaft für die Wahlmache der freisinnigen Herren
gewesen, als daß man sich nicht von neuem hätte um das Jobbcrtum verdient
machen müssen, um sich die frühern Kvntribneuten von neuem zu verpflichten.
Dies und so manches andre wollen wir, wie gesagt, übergehen. Schlimmeres
als alles dies, ja auch schlimmeres, als am 15. Dezember 1884 geschah, fand
am 16. Januar 1886 statt, als die sozialdemokratisch-polnisch-klerilal-freisinnige
Majorität in der Ausweisuugsdcbatte den Beweis lieferte, daß sie zu allem
fähig war, wenn es galt, dem Staatsmanne an der Spitze des Reiches in den
Rücken zu fallen. Obgleich Herr Huret früher einmal die Gefahr der Ne-
polonisirung der östlichen Provinzen anerkannt hatte, legte er jetzt doch so weit
alle Scham ab, daß er, Windthorst für seinen Herrn und Meister anerkennend,
sich für dessen Antrag erklärte: „Der Reichstag beschließt, daß die von der
königlich preußischen Negierung verfügten Auswcisnugeu russischer und öster¬
reichischer Unterthanen uach ihrem Umfange und nach ihrer Art nicht gerecht¬
fertigt erscheinen und mit dem Interesse der Reichsangehörigen nicht vereinbar


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/208>, abgerufen am 01.10.2024.