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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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vielbesprochene (und ohne nllen Zweifel in gewissen Kreisen gehegte) Gedanke eines
russischen "Tatarenrittes" nach Ostpreußen, d. h. eines Einfalls, der nur zum
Zwecke der ausgedehntesten Verheerung durch eine Masse leichter russischer Truppen,
hauptsächlich Kavallerie, uach Ostpreußen hinein zu uuteruehiueu wäre, um dadurch
Ostpreußen auf längere Zeit unfähig zu uneben, einem größern deutsche" Heere
als Aufmarschgegend und Basis zu dienen; ein militärisch garnicht verwerflicher
Gedanke, so abscheulich auch seiue Verwirklichung vom Menschlichkeitsstnndpnnkte
aus uns erscheinen würde. Bekanntlich haben die zahlreichen kleinen Garnisonen,
welche neuerdings in unsern ostpreußischen Grenzstädten eingelegt worden sind
(Soldnn, Lyck, Goldap, Stallupöueu, Tilsit), wesentlich mit den Zweck, dem plötz¬
lichen Hereinbrechen eines derartigen russischen Entschlusses zu begegnen, und man
braucht uur einen Blick ans die Karte zu werfen, um sich zu überzeugen, daß diese
Garnisonen, ebenso wie die weiter landeinwärts (zu Jnsterburg, Lösen, Rastenburg,
Altenstein, Osterode) als Rückhalt befindlichen, durchaus systematisch für diesen
Zweck ausgewählt siud, auch sehr Wohl als Stützpunkte für den etwa dnrch Sturm¬
läuten aufzurufenden Landsturm dienen können. Es läßt sich aber auch der Fall
denken, daß Deutschland seine Streitkräfte teilen müßte und Rußland verfügbare
Streitkräfte behielte, und diese Lage vou Rußland dazu benntzt würde, eine so
wichtige und für Rußland nnter Umständen so gefährliche Provinz wie Ostpreußen
ganz zu erobern und sie sich im voraus als Siegespreis zu sicherm Um dies zu
bewerkstelligen, müßte sie aber eben Königsberg erobern, und das ist, Gottlob,
außerordentlich schwer, Königsberg ist Ostpreußen, militärisch noch mehr als in
jeder andern Hinsicht, aber dem entspricht auch seiue Stärke.

Königsberg liegt bekanntlich am Hauptarme des bei Tapiau, fünf Meilen weiter
oberhalb, in die Deiiue und den eigentlichen Pregel sich teilenden Pregelstromcs;
ersterer Arm fließt bei Labiau in das kurische, letzterer eine Meile unterhalb Königsbergs
in das frische Hass. Der eigentliche Pregel teilt sich etwa halbwegs zwischen Tapiau
und Königsberg wieder in zwei Arme, den (nördlichen) samländischen und (südlichen)
natangischen Pregel, die indessen nicht weit von einander entfernt bleiben und sich
erst innerhalb des von ihnen durchströmten Königsbergs, und zwar am untersten Ende
der Stadt, wieder vereinigen. Die Stadt zerfällt also gewissermaßen in drei Teile:
einen nördlichen, einen südlichen und einen mittleren (die Insel); diese Stadtteile
sind dnrch acht Brücken mit einander verbunden, deren Zahl ohne Schwierigkeit
beliebig vermehrt werden kann, sodaß sich die gesamte Besatzung fast ohne Zeit¬
verlust an jeden beliebigen Punkt der Umgegend befördern läßt. Die von der Stadt
ausstrahlenden fünf Eisenbahnlinien verstärken dieses günstige Verhältnis noch, da
vier von ihnen ihre erste Station im Bereiche der Festung haben; ja die jetzt endlich
gesicherte, innerhalb von längstens zwei Jahren zu vollendende Bahn Königsberg-
Labian wird den Nordrand der Stadt entlang eine förmliche Ringbahn bilden,
deren vier erste Stationen von der Festung beherrscht werden. Die weit ausgedehnte
Stadt (Königsberg ist, trotz seiner zum Teil engen Straßen, von einer ganz un-
verhältnismäßigen räumlichen Größe und bietet daher für ein Truppeulagcr praktisch
unbegrenzten Spielraum) bildet nämlich nur deu Kernpunkt der Befestigungs¬
anlagen ; in Entfernung von einer Meile ziehen sich zehn bis zwölf starke selbständige
Werke um die Stadt und beherrschen die Gegend weithin, sodaß insbesondre der
untere Pregel zwischen Stadt und frischem Haff vollständig unter deu Kanonen
der Festung steht und auch aufwärts an eine feindliche Ueberschreitung des Stromes
erst in großer Entfernung gedacht werden kann. Hierzu tritt aber der besondre
Umstand, daß zunächst die niedrigen, sumpfigen Inseln zwischen den beiden Pregel-


vielbesprochene (und ohne nllen Zweifel in gewissen Kreisen gehegte) Gedanke eines
russischen „Tatarenrittes" nach Ostpreußen, d. h. eines Einfalls, der nur zum
Zwecke der ausgedehntesten Verheerung durch eine Masse leichter russischer Truppen,
hauptsächlich Kavallerie, uach Ostpreußen hinein zu uuteruehiueu wäre, um dadurch
Ostpreußen auf längere Zeit unfähig zu uneben, einem größern deutsche» Heere
als Aufmarschgegend und Basis zu dienen; ein militärisch garnicht verwerflicher
Gedanke, so abscheulich auch seiue Verwirklichung vom Menschlichkeitsstnndpnnkte
aus uns erscheinen würde. Bekanntlich haben die zahlreichen kleinen Garnisonen,
welche neuerdings in unsern ostpreußischen Grenzstädten eingelegt worden sind
(Soldnn, Lyck, Goldap, Stallupöueu, Tilsit), wesentlich mit den Zweck, dem plötz¬
lichen Hereinbrechen eines derartigen russischen Entschlusses zu begegnen, und man
braucht uur einen Blick ans die Karte zu werfen, um sich zu überzeugen, daß diese
Garnisonen, ebenso wie die weiter landeinwärts (zu Jnsterburg, Lösen, Rastenburg,
Altenstein, Osterode) als Rückhalt befindlichen, durchaus systematisch für diesen
Zweck ausgewählt siud, auch sehr Wohl als Stützpunkte für den etwa dnrch Sturm¬
läuten aufzurufenden Landsturm dienen können. Es läßt sich aber auch der Fall
denken, daß Deutschland seine Streitkräfte teilen müßte und Rußland verfügbare
Streitkräfte behielte, und diese Lage vou Rußland dazu benntzt würde, eine so
wichtige und für Rußland nnter Umständen so gefährliche Provinz wie Ostpreußen
ganz zu erobern und sie sich im voraus als Siegespreis zu sicherm Um dies zu
bewerkstelligen, müßte sie aber eben Königsberg erobern, und das ist, Gottlob,
außerordentlich schwer, Königsberg ist Ostpreußen, militärisch noch mehr als in
jeder andern Hinsicht, aber dem entspricht auch seiue Stärke.

Königsberg liegt bekanntlich am Hauptarme des bei Tapiau, fünf Meilen weiter
oberhalb, in die Deiiue und den eigentlichen Pregel sich teilenden Pregelstromcs;
ersterer Arm fließt bei Labiau in das kurische, letzterer eine Meile unterhalb Königsbergs
in das frische Hass. Der eigentliche Pregel teilt sich etwa halbwegs zwischen Tapiau
und Königsberg wieder in zwei Arme, den (nördlichen) samländischen und (südlichen)
natangischen Pregel, die indessen nicht weit von einander entfernt bleiben und sich
erst innerhalb des von ihnen durchströmten Königsbergs, und zwar am untersten Ende
der Stadt, wieder vereinigen. Die Stadt zerfällt also gewissermaßen in drei Teile:
einen nördlichen, einen südlichen und einen mittleren (die Insel); diese Stadtteile
sind dnrch acht Brücken mit einander verbunden, deren Zahl ohne Schwierigkeit
beliebig vermehrt werden kann, sodaß sich die gesamte Besatzung fast ohne Zeit¬
verlust an jeden beliebigen Punkt der Umgegend befördern läßt. Die von der Stadt
ausstrahlenden fünf Eisenbahnlinien verstärken dieses günstige Verhältnis noch, da
vier von ihnen ihre erste Station im Bereiche der Festung haben; ja die jetzt endlich
gesicherte, innerhalb von längstens zwei Jahren zu vollendende Bahn Königsberg-
Labian wird den Nordrand der Stadt entlang eine förmliche Ringbahn bilden,
deren vier erste Stationen von der Festung beherrscht werden. Die weit ausgedehnte
Stadt (Königsberg ist, trotz seiner zum Teil engen Straßen, von einer ganz un-
verhältnismäßigen räumlichen Größe und bietet daher für ein Truppeulagcr praktisch
unbegrenzten Spielraum) bildet nämlich nur deu Kernpunkt der Befestigungs¬
anlagen ; in Entfernung von einer Meile ziehen sich zehn bis zwölf starke selbständige
Werke um die Stadt und beherrschen die Gegend weithin, sodaß insbesondre der
untere Pregel zwischen Stadt und frischem Haff vollständig unter deu Kanonen
der Festung steht und auch aufwärts an eine feindliche Ueberschreitung des Stromes
erst in großer Entfernung gedacht werden kann. Hierzu tritt aber der besondre
Umstand, daß zunächst die niedrigen, sumpfigen Inseln zwischen den beiden Pregel-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/188>, abgerufen am 23.12.2024.