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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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bangt! Wir mögen hundertmal versichern, daß die Worthelden im Reichstage
und die Zeitungsschreiber nicht das deutsche Voll sind: eben so oft wird uns
entgegnet. das Volk wähle ja die einen als Vertreter und nähre die andern.
Und in Wahrheit stehen wir hier vor einem Rätsel. Wie viele deutsche Staats¬
bürger habe ich vor Zorn erglühen sehen, wenn ich sie dazu beglückwünschte,
daß Held Richter immer wieder den Drachen Bismarck erschlage. Einen "Kal¬
kulator" nannten sie den Helden, der sich für einen Staatsrctter halte, wenn
er in einer Millionenrcchuung einen Additionsfehler in dem Betrage von zehn
Pfennigen entdeckt habe, einen Advokaten, der mit Leidenschaft die schlechtesten
Sachen vertrete, und in diesen und noch weniger schmeichelhaften Urteilen sei
alle Welt einig. Die Ungeheuerlichkeit, daß von einem solchen Manne, welcher
außerdem den wildesten Haß gegen den höchsten Vertrauensmann des Kaisers
nicht verbergen kann, wohl auch nicht verbergen will, die Wählerschaft der
Reichshauptstadt sich kommandiren läßt, konnte nie recht erklärt werden. Die
Indolenz der höhern Gesellschaftsschichten, der Einfluß der Juden und ihrer
Presse, die weitverbreitete Abneigung gegen Stöckers Partei -- in alledem sind
doch nur Ausreden zu erkennen. Berlin scheint ja sonst dem Kaiser so an¬
hänglich zu sein und den Männern zu danken, denen es seine neue Blüte schuldet.
Ist es vielleicht ein Beweis der bekannten "Intelligenz," daß die Hauptstadt
voran diejenige Partei stützt, welche auf dem Boden von 1863--64 stehen ge¬
blieben und folgerichtig wieder bei dem für sie so kläglich ausgegangenen Kon¬
flikt wegen der Heeresorganisation angelangt ist?

Die unversöhnliche Opposition der Parteien, welche überhaupt kein deutsches
Reich oder doch kein protestantisches Kaisertum wollen oder vom Umsturz der
Gesellschaftsordnung träumen, läßt sich begreifen. Aber ganz unbegreiflich bleibt
es, daß Fortschrittler, welche eine Binde vor den Augen und einen solideren
Schutz vor dem Kopfe tragen, überhaupt noch eine Partei finden. Sie sind
so stolz darauf, in einem Vierteljahrhundert nichts, aber auch garnichts gelernt
zu haben. Herr Virchow ruft deu seligen Garnier-Pages als Eideshelfer ans,
um zu beweisen, daß er für seinen berühmten Abrüstnngsantrag guten Grund
gehabt habe. Glaubt er deun, daß niemand außer ihm sich des spaßhaften alten
Herrn erinnere, welcher schon zu Anfang der sechziger Jahre Enropa bereiste,
um Stimmen für die Gründung der "Vereinigten Staaten von Europa" zu
gewinnen? Wenn man ihn befragte, wie Napoleon III. über das Projekt denke,
so antwortete er verächtlich: "Mr. Bonaparte? Den wird das Volk aller-
nüchstens über die Grenze schicken, dann wird es sprechen: Mr. Favre, Mr. Cre-
mieux, Mr. Garnier-Pages -- er nannte sich stets erst an dritter Stelle --,
bildet eine republikanische Regierung, die übrigen Völker werden ebenfalls ihre
Fürsten in Ruhestand versetzen, und das Parlament der I^res-um'Z 60 l'Lnroxo
wird abwechselnd in Paris, in Frankfurt, in Rom tagen." Der erste Teil seiner
Voraussage ging bekanntlich in Erfüllung, wenn auch etwas später und infolge


Grenzboten I. 1887. ^

bangt! Wir mögen hundertmal versichern, daß die Worthelden im Reichstage
und die Zeitungsschreiber nicht das deutsche Voll sind: eben so oft wird uns
entgegnet. das Volk wähle ja die einen als Vertreter und nähre die andern.
Und in Wahrheit stehen wir hier vor einem Rätsel. Wie viele deutsche Staats¬
bürger habe ich vor Zorn erglühen sehen, wenn ich sie dazu beglückwünschte,
daß Held Richter immer wieder den Drachen Bismarck erschlage. Einen „Kal¬
kulator" nannten sie den Helden, der sich für einen Staatsrctter halte, wenn
er in einer Millionenrcchuung einen Additionsfehler in dem Betrage von zehn
Pfennigen entdeckt habe, einen Advokaten, der mit Leidenschaft die schlechtesten
Sachen vertrete, und in diesen und noch weniger schmeichelhaften Urteilen sei
alle Welt einig. Die Ungeheuerlichkeit, daß von einem solchen Manne, welcher
außerdem den wildesten Haß gegen den höchsten Vertrauensmann des Kaisers
nicht verbergen kann, wohl auch nicht verbergen will, die Wählerschaft der
Reichshauptstadt sich kommandiren läßt, konnte nie recht erklärt werden. Die
Indolenz der höhern Gesellschaftsschichten, der Einfluß der Juden und ihrer
Presse, die weitverbreitete Abneigung gegen Stöckers Partei — in alledem sind
doch nur Ausreden zu erkennen. Berlin scheint ja sonst dem Kaiser so an¬
hänglich zu sein und den Männern zu danken, denen es seine neue Blüte schuldet.
Ist es vielleicht ein Beweis der bekannten „Intelligenz," daß die Hauptstadt
voran diejenige Partei stützt, welche auf dem Boden von 1863—64 stehen ge¬
blieben und folgerichtig wieder bei dem für sie so kläglich ausgegangenen Kon¬
flikt wegen der Heeresorganisation angelangt ist?

Die unversöhnliche Opposition der Parteien, welche überhaupt kein deutsches
Reich oder doch kein protestantisches Kaisertum wollen oder vom Umsturz der
Gesellschaftsordnung träumen, läßt sich begreifen. Aber ganz unbegreiflich bleibt
es, daß Fortschrittler, welche eine Binde vor den Augen und einen solideren
Schutz vor dem Kopfe tragen, überhaupt noch eine Partei finden. Sie sind
so stolz darauf, in einem Vierteljahrhundert nichts, aber auch garnichts gelernt
zu haben. Herr Virchow ruft deu seligen Garnier-Pages als Eideshelfer ans,
um zu beweisen, daß er für seinen berühmten Abrüstnngsantrag guten Grund
gehabt habe. Glaubt er deun, daß niemand außer ihm sich des spaßhaften alten
Herrn erinnere, welcher schon zu Anfang der sechziger Jahre Enropa bereiste,
um Stimmen für die Gründung der „Vereinigten Staaten von Europa" zu
gewinnen? Wenn man ihn befragte, wie Napoleon III. über das Projekt denke,
so antwortete er verächtlich: „Mr. Bonaparte? Den wird das Volk aller-
nüchstens über die Grenze schicken, dann wird es sprechen: Mr. Favre, Mr. Cre-
mieux, Mr. Garnier-Pages — er nannte sich stets erst an dritter Stelle —,
bildet eine republikanische Regierung, die übrigen Völker werden ebenfalls ihre
Fürsten in Ruhestand versetzen, und das Parlament der I^res-um'Z 60 l'Lnroxo
wird abwechselnd in Paris, in Frankfurt, in Rom tagen." Der erste Teil seiner
Voraussage ging bekanntlich in Erfüllung, wenn auch etwas später und infolge


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/185>, abgerufen am 01.10.2024.