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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Deutsch-böhmische Briefe.

Und nun gestatten Sie, daß ich sofort einen oft zu hörenden Irrtum oder
ein wider besseres Wissen beharrlich wiederholtes Vorgeben widerlege. Häufig
begegnet man in deu Kreisen der tschechischen Chauvinisten, wo die Wissenschaft
überhaupt Wohl oder übel der Küche, in welcher sie ihre Velleitnten kochen,
Wasser zu holen und Holz zu hacken gezwungen wird, der Behauptung, die
Deutschen, welche gegenwärtig auf dem Boden des böhmischen Kessels wohnen,
seien sämtlich erst nach dem dreißigjährigen Kriege eingewandert und hätten hier
früher von Tschechen innegehabte Landstriche sich angeeignet. Das ist, wo nicht
eine volle Unwahrheit, so doch eine arge Übertreibung durch Verallgemeinerung
einzelner Fälle. Der Krieg hatte die von alten Zeiten her deutschen Gegenden
Böhmens, welches nach demselben nur noch 800000 Einwohner zählte, ebenso
entvölkert als die tschechischen, und dasselbe gilt von dem größten Teile Nord-
uud Süddeutschlands, sodaß dieses Auswanderer in namhafter Zahl nicht ab¬
geben konnte. Es kamen deren in der That nur aus Osterreich, Tirol, Baiern
und der Pfalz einige Züge. Dagegen stiegen größere Massen der Dentsch-
böhmen von den Bergen an der Grenze, wo sie bis dahin gewohnt und die
Wirren und Verwüstungen der ersten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts über¬
dauert hatten, in die fruchtbaren Ebnen hinab und füllten die unter der deutschen
Bevölkerung derselben entstandenen Lücken aus, wobei es allerdings geschah,
daß auch mehrere vordem ganz tschechische Ortschaften, die herrenlos geworden
waren, von ihnen in Besitz genommen wurden. Dies vollzog sich namentlich
an der Saatzer und Lcitmeritzer Kreisgrcnze, keineswegs aber in allen jetzt
deutsche" Teilen des Saatzer und Pilsener Kreises, wie die Tschechen zu be¬
haupten belieben; beim in vielen der dortigen Dörfer war, wie deren Kirchen-
und Gemcindebücher beweisen, mindestens schon um die Mitte des sechzehnte"
Jahrhunderts das Deutschtum ausschließlich oder überwiegend zu Hause.

Dies führt uns zu einem Rückblicke auf die Geschichte der Deutschböhmeu
überhaupt, wobei ich die entlegene und dunkle Markomannenzcit und das Mittel¬
alter bis zur Entstehung des deutschen Reiches außer Acht lasse und znnüchst nur
folgendes als höchst wahrscheinlich erwähne. Böhmen ist niemals ganz im Besitze
der Tschechen gewesen. Dieselben begnügten sich vielmehr, als sie im Gefolge
der Avaren erschienen, zunächst mit der Einnahme der fruchtbaren Niederung,
von wo sie später in den Flußthälern stromaufwärts vordrangen, wogegen sie
die Rundgebirge und die sich von hier tief nach deren Vorhügeln und in die
Ebne hinein erstreckenden Wälder ""besetzt ließen. So kam es, daß sich hier
ansehnliche Reste der germanischen Urbevölkerung erhielte", die sich im Verlaufe
der Zeiten verstärkte" und zu einem achtnnggcbictenden Elemente der Ein¬
wohnerschaft des Landes wurden. Daz" trat der "nichtige Einfluß, welche"
das deutsche Reich auf das benachbarte kleine Slawenland schon früh ausübte
und, nachdem die Versuche, die Westslaweu zu einem einzigen großen Staate
zu vereinigen, mißlungen waren, dermaßen verstärkte und erweiterte, daß die


Deutsch-böhmische Briefe.

Und nun gestatten Sie, daß ich sofort einen oft zu hörenden Irrtum oder
ein wider besseres Wissen beharrlich wiederholtes Vorgeben widerlege. Häufig
begegnet man in deu Kreisen der tschechischen Chauvinisten, wo die Wissenschaft
überhaupt Wohl oder übel der Küche, in welcher sie ihre Velleitnten kochen,
Wasser zu holen und Holz zu hacken gezwungen wird, der Behauptung, die
Deutschen, welche gegenwärtig auf dem Boden des böhmischen Kessels wohnen,
seien sämtlich erst nach dem dreißigjährigen Kriege eingewandert und hätten hier
früher von Tschechen innegehabte Landstriche sich angeeignet. Das ist, wo nicht
eine volle Unwahrheit, so doch eine arge Übertreibung durch Verallgemeinerung
einzelner Fälle. Der Krieg hatte die von alten Zeiten her deutschen Gegenden
Böhmens, welches nach demselben nur noch 800000 Einwohner zählte, ebenso
entvölkert als die tschechischen, und dasselbe gilt von dem größten Teile Nord-
uud Süddeutschlands, sodaß dieses Auswanderer in namhafter Zahl nicht ab¬
geben konnte. Es kamen deren in der That nur aus Osterreich, Tirol, Baiern
und der Pfalz einige Züge. Dagegen stiegen größere Massen der Dentsch-
böhmen von den Bergen an der Grenze, wo sie bis dahin gewohnt und die
Wirren und Verwüstungen der ersten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts über¬
dauert hatten, in die fruchtbaren Ebnen hinab und füllten die unter der deutschen
Bevölkerung derselben entstandenen Lücken aus, wobei es allerdings geschah,
daß auch mehrere vordem ganz tschechische Ortschaften, die herrenlos geworden
waren, von ihnen in Besitz genommen wurden. Dies vollzog sich namentlich
an der Saatzer und Lcitmeritzer Kreisgrcnze, keineswegs aber in allen jetzt
deutsche» Teilen des Saatzer und Pilsener Kreises, wie die Tschechen zu be¬
haupten belieben; beim in vielen der dortigen Dörfer war, wie deren Kirchen-
und Gemcindebücher beweisen, mindestens schon um die Mitte des sechzehnte»
Jahrhunderts das Deutschtum ausschließlich oder überwiegend zu Hause.

Dies führt uns zu einem Rückblicke auf die Geschichte der Deutschböhmeu
überhaupt, wobei ich die entlegene und dunkle Markomannenzcit und das Mittel¬
alter bis zur Entstehung des deutschen Reiches außer Acht lasse und znnüchst nur
folgendes als höchst wahrscheinlich erwähne. Böhmen ist niemals ganz im Besitze
der Tschechen gewesen. Dieselben begnügten sich vielmehr, als sie im Gefolge
der Avaren erschienen, zunächst mit der Einnahme der fruchtbaren Niederung,
von wo sie später in den Flußthälern stromaufwärts vordrangen, wogegen sie
die Rundgebirge und die sich von hier tief nach deren Vorhügeln und in die
Ebne hinein erstreckenden Wälder »»besetzt ließen. So kam es, daß sich hier
ansehnliche Reste der germanischen Urbevölkerung erhielte», die sich im Verlaufe
der Zeiten verstärkte» und zu einem achtnnggcbictenden Elemente der Ein¬
wohnerschaft des Landes wurden. Daz» trat der »nichtige Einfluß, welche»
das deutsche Reich auf das benachbarte kleine Slawenland schon früh ausübte
und, nachdem die Versuche, die Westslaweu zu einem einzigen großen Staate
zu vereinigen, mißlungen waren, dermaßen verstärkte und erweiterte, daß die


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[0154] Deutsch-böhmische Briefe. Und nun gestatten Sie, daß ich sofort einen oft zu hörenden Irrtum oder ein wider besseres Wissen beharrlich wiederholtes Vorgeben widerlege. Häufig begegnet man in deu Kreisen der tschechischen Chauvinisten, wo die Wissenschaft überhaupt Wohl oder übel der Küche, in welcher sie ihre Velleitnten kochen, Wasser zu holen und Holz zu hacken gezwungen wird, der Behauptung, die Deutschen, welche gegenwärtig auf dem Boden des böhmischen Kessels wohnen, seien sämtlich erst nach dem dreißigjährigen Kriege eingewandert und hätten hier früher von Tschechen innegehabte Landstriche sich angeeignet. Das ist, wo nicht eine volle Unwahrheit, so doch eine arge Übertreibung durch Verallgemeinerung einzelner Fälle. Der Krieg hatte die von alten Zeiten her deutschen Gegenden Böhmens, welches nach demselben nur noch 800000 Einwohner zählte, ebenso entvölkert als die tschechischen, und dasselbe gilt von dem größten Teile Nord- uud Süddeutschlands, sodaß dieses Auswanderer in namhafter Zahl nicht ab¬ geben konnte. Es kamen deren in der That nur aus Osterreich, Tirol, Baiern und der Pfalz einige Züge. Dagegen stiegen größere Massen der Dentsch- böhmen von den Bergen an der Grenze, wo sie bis dahin gewohnt und die Wirren und Verwüstungen der ersten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts über¬ dauert hatten, in die fruchtbaren Ebnen hinab und füllten die unter der deutschen Bevölkerung derselben entstandenen Lücken aus, wobei es allerdings geschah, daß auch mehrere vordem ganz tschechische Ortschaften, die herrenlos geworden waren, von ihnen in Besitz genommen wurden. Dies vollzog sich namentlich an der Saatzer und Lcitmeritzer Kreisgrcnze, keineswegs aber in allen jetzt deutsche» Teilen des Saatzer und Pilsener Kreises, wie die Tschechen zu be¬ haupten belieben; beim in vielen der dortigen Dörfer war, wie deren Kirchen- und Gemcindebücher beweisen, mindestens schon um die Mitte des sechzehnte» Jahrhunderts das Deutschtum ausschließlich oder überwiegend zu Hause. Dies führt uns zu einem Rückblicke auf die Geschichte der Deutschböhmeu überhaupt, wobei ich die entlegene und dunkle Markomannenzcit und das Mittel¬ alter bis zur Entstehung des deutschen Reiches außer Acht lasse und znnüchst nur folgendes als höchst wahrscheinlich erwähne. Böhmen ist niemals ganz im Besitze der Tschechen gewesen. Dieselben begnügten sich vielmehr, als sie im Gefolge der Avaren erschienen, zunächst mit der Einnahme der fruchtbaren Niederung, von wo sie später in den Flußthälern stromaufwärts vordrangen, wogegen sie die Rundgebirge und die sich von hier tief nach deren Vorhügeln und in die Ebne hinein erstreckenden Wälder »»besetzt ließen. So kam es, daß sich hier ansehnliche Reste der germanischen Urbevölkerung erhielte», die sich im Verlaufe der Zeiten verstärkte» und zu einem achtnnggcbictenden Elemente der Ein¬ wohnerschaft des Landes wurden. Daz» trat der »nichtige Einfluß, welche» das deutsche Reich auf das benachbarte kleine Slawenland schon früh ausübte und, nachdem die Versuche, die Westslaweu zu einem einzigen großen Staate zu vereinigen, mißlungen waren, dermaßen verstärkte und erweiterte, daß die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/154>, abgerufen am 23.12.2024.