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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Nun ist aber die Kunst, wie etwa der Staat (zu dem die katholische Kirche
ja in ähnlicher Beziehung steht, und bei dem daher ähnliche, wenn auch nicht
so weitgehende Grenzstreitigkeiten unausbleiblich sind) eine ganz besondre, auf
sich selbst gegründete Erscheinung, Jede Kirche bedarf gewisser staatlicher
Organisationen (wenn auch nicht so weitgehender wie die katholische). Aber
deshalb ist der Staat nicht kirchlich. Eine jede Religion und besonders die
katholische bedarf der Kunst. Aber deshalb ist die Kunst nicht religiös. Sicher¬
lich beruht auf der Verbindung des höchsten Guten (als welches uns das
"Heilige" erscheint) mit dem höchsten Schönen, dem "Vollendeten," die höchste
Wirkung der Kunst. Aber diese Verbindung braucht erstens nicht durchaus
religiös zu sein, und zweitens ist die Kunst damit keineswegs erschöpft. Die
christliche Ästhetik bestätigt dies, ohne es zu wollen, selbst. Wir sollten meinen,
ein Kunstwerk, welches in dem Grade der Kunst und Religion gemeinsam ist
wie die sixtinische Madonna, wäre nie geschaffen worden. Trotzdem liegt
bereits in der Nacktheit des Kindes ein Trennungspunkt. Das Religiöse kaun
dies tadeln -- vom christlichen Standpunkte. Der christliche Ästhetiker aber
tadelt es vom ästhetischen. Schärfer können seine Übergriffe nicht gekennzeichnet
werden. Das Kölner Dombild steht ihm höher. Das ist natürlich. Aber es
steht ihm ästhetisch höher -- das ist widernatürlich. Der Gregorianische Kirchen¬
gesang und die Palästrinasche Messe sind gewiß auch höchste künstlerische
Erscheinungen. Aber das Mozartsche Requiem ist es nicht minder, trotzdem
daß es aus dem Kreise des rein Religiösen heraustritt. Und wie das Schöne
selbst in Verbindung mit dem Guten unnachsichlich verworfen wird, sobald nur
die geringste Möglichkeit vorliegt, daß es -- gleichviel wen! -- weltlich reizen
könnte, so wird auch das Gute gebannt, sobald es aus dem kirchlichen Kreise
heraustritt oder außerhalb desselben liegt. Goethe (der übrigens aus Hermann
Baumgart zitirt wird!) ist "unsittlich" wohl nicht bloß aus jenem, sondern
hauptsächlich aus diesem Grunde, die Antike ist sündhaft, nicht bloß als "nackt,"
sondern vornehmlich als "heidnisch." Das Nazarenertmn und die Romantik
wird empfohlen und gefördert, aber nnr insoweit es kirchlich ist. Groß ist
die Kunst, mit der hierbei zu Wege gegangen wird. Der naive Präparand
könnte staunen über die Menge und das Gewicht der Autoritäten, die sich stets
und ausschließlich zur christlichen Ästhetik bekannt haben. Das "Wann, wo,
wie" wird weislich verschwiegen oder in den Hintergrund gedrängt. Schiller
wird gern zitirt, aber unter Namensnennung stets -- auch bei ganz unver¬
fänglichen Fragen, wie der, daß jedes Drama als Dessin für die (erst eigent¬
lich künstlerische) Aufführung gedacht sei -- mit Ideen und Szenen, welche den
Katholizismus feiern. Herder wird gegen Kant ins Treffen geführt, aus
"Obersätzen Wagners" und "Untersätzen Hcmslicks" werden sehr unwagncrische
und wenig Hanslicksche Schlüsse gezogen. Die modernen Dichter der christ¬
lichen Ästhetik sind nicht Novalis und Eichendorff, sondern Kardinal Wiscman


Nun ist aber die Kunst, wie etwa der Staat (zu dem die katholische Kirche
ja in ähnlicher Beziehung steht, und bei dem daher ähnliche, wenn auch nicht
so weitgehende Grenzstreitigkeiten unausbleiblich sind) eine ganz besondre, auf
sich selbst gegründete Erscheinung, Jede Kirche bedarf gewisser staatlicher
Organisationen (wenn auch nicht so weitgehender wie die katholische). Aber
deshalb ist der Staat nicht kirchlich. Eine jede Religion und besonders die
katholische bedarf der Kunst. Aber deshalb ist die Kunst nicht religiös. Sicher¬
lich beruht auf der Verbindung des höchsten Guten (als welches uns das
„Heilige" erscheint) mit dem höchsten Schönen, dem „Vollendeten," die höchste
Wirkung der Kunst. Aber diese Verbindung braucht erstens nicht durchaus
religiös zu sein, und zweitens ist die Kunst damit keineswegs erschöpft. Die
christliche Ästhetik bestätigt dies, ohne es zu wollen, selbst. Wir sollten meinen,
ein Kunstwerk, welches in dem Grade der Kunst und Religion gemeinsam ist
wie die sixtinische Madonna, wäre nie geschaffen worden. Trotzdem liegt
bereits in der Nacktheit des Kindes ein Trennungspunkt. Das Religiöse kaun
dies tadeln — vom christlichen Standpunkte. Der christliche Ästhetiker aber
tadelt es vom ästhetischen. Schärfer können seine Übergriffe nicht gekennzeichnet
werden. Das Kölner Dombild steht ihm höher. Das ist natürlich. Aber es
steht ihm ästhetisch höher — das ist widernatürlich. Der Gregorianische Kirchen¬
gesang und die Palästrinasche Messe sind gewiß auch höchste künstlerische
Erscheinungen. Aber das Mozartsche Requiem ist es nicht minder, trotzdem
daß es aus dem Kreise des rein Religiösen heraustritt. Und wie das Schöne
selbst in Verbindung mit dem Guten unnachsichlich verworfen wird, sobald nur
die geringste Möglichkeit vorliegt, daß es — gleichviel wen! — weltlich reizen
könnte, so wird auch das Gute gebannt, sobald es aus dem kirchlichen Kreise
heraustritt oder außerhalb desselben liegt. Goethe (der übrigens aus Hermann
Baumgart zitirt wird!) ist „unsittlich" wohl nicht bloß aus jenem, sondern
hauptsächlich aus diesem Grunde, die Antike ist sündhaft, nicht bloß als „nackt,"
sondern vornehmlich als „heidnisch." Das Nazarenertmn und die Romantik
wird empfohlen und gefördert, aber nnr insoweit es kirchlich ist. Groß ist
die Kunst, mit der hierbei zu Wege gegangen wird. Der naive Präparand
könnte staunen über die Menge und das Gewicht der Autoritäten, die sich stets
und ausschließlich zur christlichen Ästhetik bekannt haben. Das „Wann, wo,
wie" wird weislich verschwiegen oder in den Hintergrund gedrängt. Schiller
wird gern zitirt, aber unter Namensnennung stets — auch bei ganz unver¬
fänglichen Fragen, wie der, daß jedes Drama als Dessin für die (erst eigent¬
lich künstlerische) Aufführung gedacht sei — mit Ideen und Szenen, welche den
Katholizismus feiern. Herder wird gegen Kant ins Treffen geführt, aus
„Obersätzen Wagners" und „Untersätzen Hcmslicks" werden sehr unwagncrische
und wenig Hanslicksche Schlüsse gezogen. Die modernen Dichter der christ¬
lichen Ästhetik sind nicht Novalis und Eichendorff, sondern Kardinal Wiscman


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/133>, abgerufen am 23.12.2024.