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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Gine christliche Ästhetik.

Hat der Vertreter des ästhetische" Einheitsgedankens bisher Ursache gehabt,
mit unsrer vorgeblichen Unterstützung desselben -- in seinem Sinne -- ziem¬
lich unzufrieden zu sein, so wird er vielleicht umso willkommener unsern dritten
und letzten Bestimmungspunkt begrüßen, der ihm einen völligen Triumph zu
verheißen scheint. Das Schöne gefällt durch das seiner Erscheinung zu Grunde
liegende, durch seine Voraussetzung. Ja, ist denn das noch "schön," was nicht
durch sich selbst gefällt? Kann man eine Bestimmung auf etwas uicht vor¬
handenes gründen? Doch wohl; in irgend welcher Weise muß es möglich sein.
Sonst hätten nicht die ersten Geister der Menschheit, die doch gerade in diesem
Fache bereits mindestens so berufene Richter waren wie unser erleuchtetes Ge¬
schlecht, sonst hätten nicht gerade diese jene Bestimmung bei der Erklärung des
Schönen und seiner Wirkungen herbeigezogen. Ja, wir stehen nicht an, dem
"Guten" eine grundlegende Beziehung zum "Schonen" einzuräumen, den alten
Platonischen x"/>.o?-Begriff in seine ihm durch die Ästhetik geraubten Rechte
wieder einzusetzen.

Es ist wunderlich, daß bei einer der vielen "Revisionen," die eine Spe¬
zialität der Ästhetik zu sein scheinen, noch niemals die Frage aufgeworfen wurde,
ob denn die vielberühmte Begrenzung des formalen Schönhcitsbcgriffcs nach
seinen frühern "Vermischungen" der Wissenschaft des Schönen mehr genützt
oder geschadet habe. Genützt hat sie sicherlich: sie hat zu einigen unschätzbaren
Grundbegriffen verholfen, durch die das Schöne sozusagen emanzipirt worden
ist, Begriffen, mit denen wir heutzutage spielen, die wir aber der Ästhetik und
vor allem freilich ihrem großen zweiten (und doch eigentlich ersten) Vater, Kant,
verdanken. Daß aber damit die eigentliche Arbeit auf dem Felde des lebendigen
Schönen erst anfinge, leugnete die Ästhetik. Froh ihrer ererbten Begriffe, fing
sie gründlich an, deren Besitz zu erwerben, tummelte ihr damit befrachtetes
Schifflein auf dem flachen Gewässer ihrer Abstraktionen herum, bis sie ganz
auf dem Hegelschen Saude festfuhr und froh sein mußte, sich auf die Her-
bartsche wüste Insel zu retten, wo sie fern von den blühenden Gestaden der
Kunst ein ebenso wohlgeordnetes als dürftiges Leben fristet. Dort drüben
aber hat man sie, nachdem man sich eine Zeit lang über ihre Demonstrationen
weidlich geärgert hatte, fast völlig vergessen, und es geht trotzdem; nicht bloß
w xraxi, auch in tlrsori-r. Merkwürdig, auf den Gebieten der Architektur und
Musik hat sie noch verhältnismäßig das meiste Ansehen. Auf denen der übrigen
bildenden Künste und der Poesie steht letzteres bekanntlich leider unter Null.
Wir brauchen die Erklärung nach dem, wovon wir ausgingen, nicht lange zu
suchen. Sie liegt in der unzureichenden Verwendbarkeit des einseitigen Schön¬
heitsbegriffes der Ästhetik in Künsten, deren Vorwurf vorzugsweise der Mensch
ist, der Mensch und seine That.

Nur in verschwindend seltenen Fällen unterliegt der Mensch und sein Thun
dem Maßstabe einer rein ästhetischen Wertschätzung. Die bloße sogenannte


Grenzboten I. 1887. ^
Gine christliche Ästhetik.

Hat der Vertreter des ästhetische» Einheitsgedankens bisher Ursache gehabt,
mit unsrer vorgeblichen Unterstützung desselben — in seinem Sinne — ziem¬
lich unzufrieden zu sein, so wird er vielleicht umso willkommener unsern dritten
und letzten Bestimmungspunkt begrüßen, der ihm einen völligen Triumph zu
verheißen scheint. Das Schöne gefällt durch das seiner Erscheinung zu Grunde
liegende, durch seine Voraussetzung. Ja, ist denn das noch „schön," was nicht
durch sich selbst gefällt? Kann man eine Bestimmung auf etwas uicht vor¬
handenes gründen? Doch wohl; in irgend welcher Weise muß es möglich sein.
Sonst hätten nicht die ersten Geister der Menschheit, die doch gerade in diesem
Fache bereits mindestens so berufene Richter waren wie unser erleuchtetes Ge¬
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ob denn die vielberühmte Begrenzung des formalen Schönhcitsbcgriffcs nach
seinen frühern „Vermischungen" der Wissenschaft des Schönen mehr genützt
oder geschadet habe. Genützt hat sie sicherlich: sie hat zu einigen unschätzbaren
Grundbegriffen verholfen, durch die das Schöne sozusagen emanzipirt worden
ist, Begriffen, mit denen wir heutzutage spielen, die wir aber der Ästhetik und
vor allem freilich ihrem großen zweiten (und doch eigentlich ersten) Vater, Kant,
verdanken. Daß aber damit die eigentliche Arbeit auf dem Felde des lebendigen
Schönen erst anfinge, leugnete die Ästhetik. Froh ihrer ererbten Begriffe, fing
sie gründlich an, deren Besitz zu erwerben, tummelte ihr damit befrachtetes
Schifflein auf dem flachen Gewässer ihrer Abstraktionen herum, bis sie ganz
auf dem Hegelschen Saude festfuhr und froh sein mußte, sich auf die Her-
bartsche wüste Insel zu retten, wo sie fern von den blühenden Gestaden der
Kunst ein ebenso wohlgeordnetes als dürftiges Leben fristet. Dort drüben
aber hat man sie, nachdem man sich eine Zeit lang über ihre Demonstrationen
weidlich geärgert hatte, fast völlig vergessen, und es geht trotzdem; nicht bloß
w xraxi, auch in tlrsori-r. Merkwürdig, auf den Gebieten der Architektur und
Musik hat sie noch verhältnismäßig das meiste Ansehen. Auf denen der übrigen
bildenden Künste und der Poesie steht letzteres bekanntlich leider unter Null.
Wir brauchen die Erklärung nach dem, wovon wir ausgingen, nicht lange zu
suchen. Sie liegt in der unzureichenden Verwendbarkeit des einseitigen Schön¬
heitsbegriffes der Ästhetik in Künsten, deren Vorwurf vorzugsweise der Mensch
ist, der Mensch und seine That.

Nur in verschwindend seltenen Fällen unterliegt der Mensch und sein Thun
dem Maßstabe einer rein ästhetischen Wertschätzung. Die bloße sogenannte


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[0129] Gine christliche Ästhetik. Hat der Vertreter des ästhetische» Einheitsgedankens bisher Ursache gehabt, mit unsrer vorgeblichen Unterstützung desselben — in seinem Sinne — ziem¬ lich unzufrieden zu sein, so wird er vielleicht umso willkommener unsern dritten und letzten Bestimmungspunkt begrüßen, der ihm einen völligen Triumph zu verheißen scheint. Das Schöne gefällt durch das seiner Erscheinung zu Grunde liegende, durch seine Voraussetzung. Ja, ist denn das noch „schön," was nicht durch sich selbst gefällt? Kann man eine Bestimmung auf etwas uicht vor¬ handenes gründen? Doch wohl; in irgend welcher Weise muß es möglich sein. Sonst hätten nicht die ersten Geister der Menschheit, die doch gerade in diesem Fache bereits mindestens so berufene Richter waren wie unser erleuchtetes Ge¬ schlecht, sonst hätten nicht gerade diese jene Bestimmung bei der Erklärung des Schönen und seiner Wirkungen herbeigezogen. Ja, wir stehen nicht an, dem „Guten" eine grundlegende Beziehung zum „Schonen" einzuräumen, den alten Platonischen x«/>.o?-Begriff in seine ihm durch die Ästhetik geraubten Rechte wieder einzusetzen. Es ist wunderlich, daß bei einer der vielen „Revisionen," die eine Spe¬ zialität der Ästhetik zu sein scheinen, noch niemals die Frage aufgeworfen wurde, ob denn die vielberühmte Begrenzung des formalen Schönhcitsbcgriffcs nach seinen frühern „Vermischungen" der Wissenschaft des Schönen mehr genützt oder geschadet habe. Genützt hat sie sicherlich: sie hat zu einigen unschätzbaren Grundbegriffen verholfen, durch die das Schöne sozusagen emanzipirt worden ist, Begriffen, mit denen wir heutzutage spielen, die wir aber der Ästhetik und vor allem freilich ihrem großen zweiten (und doch eigentlich ersten) Vater, Kant, verdanken. Daß aber damit die eigentliche Arbeit auf dem Felde des lebendigen Schönen erst anfinge, leugnete die Ästhetik. Froh ihrer ererbten Begriffe, fing sie gründlich an, deren Besitz zu erwerben, tummelte ihr damit befrachtetes Schifflein auf dem flachen Gewässer ihrer Abstraktionen herum, bis sie ganz auf dem Hegelschen Saude festfuhr und froh sein mußte, sich auf die Her- bartsche wüste Insel zu retten, wo sie fern von den blühenden Gestaden der Kunst ein ebenso wohlgeordnetes als dürftiges Leben fristet. Dort drüben aber hat man sie, nachdem man sich eine Zeit lang über ihre Demonstrationen weidlich geärgert hatte, fast völlig vergessen, und es geht trotzdem; nicht bloß w xraxi, auch in tlrsori-r. Merkwürdig, auf den Gebieten der Architektur und Musik hat sie noch verhältnismäßig das meiste Ansehen. Auf denen der übrigen bildenden Künste und der Poesie steht letzteres bekanntlich leider unter Null. Wir brauchen die Erklärung nach dem, wovon wir ausgingen, nicht lange zu suchen. Sie liegt in der unzureichenden Verwendbarkeit des einseitigen Schön¬ heitsbegriffes der Ästhetik in Künsten, deren Vorwurf vorzugsweise der Mensch ist, der Mensch und seine That. Nur in verschwindend seltenen Fällen unterliegt der Mensch und sein Thun dem Maßstabe einer rein ästhetischen Wertschätzung. Die bloße sogenannte Grenzboten I. 1887. ^

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/129>, abgerufen am 23.12.2024.