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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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muß ein fester Grund gelegt sein. Willensstärke, Ausdauer, Selbstverleugnung
und Gewissenhaftigkeit müssen in dem jugendlichen Gemüte schon feste Wurzeln
geschlagen haben, ehe der Kampf uns Dasein beginnt. Wenn daher in letzter
Zeit häufig Klage darüber geführt wird, daß unsre Primaner abgearbeitet und
unlustig von der Schule abgehen, nur beseelt von dem Verlangen, den Büchern
für einige Zeit den Rücken zu kehren, so fordert dies unsre Aufmerksamkeit in
hohem Grade heraus und wirft einen dunkeln Schatten auf das bestehende
Lehrsystem.

Ich glaube, daß das Gymnasium sich seine Aufgabe nicht weiter stecken
soll, als bis zur Grenze einer allgemeinen Vorbereitung für deu Eintritt in
die gebildete Gesellschaft, Über deu Grad und Umfang dessen, was unter dieser
allgemeinen Bildung verstanden wird, mag man streiten. An dem Grundsätze
aber, daß diese Bildung eine für alle spätern Lebensverhältnisse passende, des¬
halb allgemeine und nicht auf das Bernfsinteresse zugeschnittene sei, sollte man
unter alleu Umständen festhalten. Selbstverständlich handelt es sich nicht um
ein Maß von Wissen, nicht um die Anhäufung von Kenntnissen. Was wir
Bildung neunen, stellt sich als eine Klärung nicht nur des Verstandes, sondern
auch des Gemüts dar. Sie ist Frucht nicht nur des Lernens,. sondern auch
der Erziehung. Und diese letztere, wichtige Aufgabe hat sich die Schule, erdrückt
von der Wucht des Arbeitsstoffes, leider allzuleicht entwinden lassen oder allzu
achtlos selbst preisgegeben. Es ist mißlich, das Wort "Ideal" auf unsre Lebens-
verhültnisfe und deren Forderungen anzuwenden. Daß aber dem Gymnasium
im Gegensatze zu andern Elementar- oder Fachschulen die Pflege einer dem
Zwange gemeiner Nützlichkeit entzogenen und ideale Ziele anstrebenden Geistes-
richtung als wichtigste Aufgabe zufällt, wird nur dann geleugnet werden können,
wenn die Wertschätzung einer auf solchem Wege erzielten Bildung einem Volke
verloren gegangen ist. Der Keim des Strebens nach Wahrheit, der in die
jugendliche Seele gelegt ist, wird auch später für deu erweiterten Blick des ge¬
lehrten Forschers seine Früchte tragen. Die Pflege der Wissenschaft mit ihren
höchsten Zielen verlangt Uneigennützigkeit und Hingebung. Praktische Tüchtig¬
keit, wie sie die Amerikaner ihrer Jugend anerziehen, ist für diese hohe Aufgabe
allein nicht ausreichend. Wir wollen in der Jugend, die später berufen ist,
thatkräftig in das öffentliche Leben einzugreifen, die sittlichen Anschauungen
wecken und fördern, die zu eiuer von Selbstsucht und Leidenschaft möglichst
freien Schätzung idealer Güter führt. Diese Objektivität, diese unbefangene
Erkenntnis der höchsten Aufgaben des Menschen und die Fähigkeit, frei vou
persönlichen Wünschen und Interessen ini Gemeinwesen dafür zu wirken, diese
Eigenschaften sind Kennzeichen der höhern Bildung. Das Wesen des huma¬
nistischen Unterrichts soll diese sittlichen Anschauungen hervorrufen, und das ist
sein unbestreitbarer Vorzug vor dem realistischen Nützlichkeitsprinzip. Die
preußische Unterrichtsverfassung von 1816 hat diese Ziele gekennzeichnet, indem


muß ein fester Grund gelegt sein. Willensstärke, Ausdauer, Selbstverleugnung
und Gewissenhaftigkeit müssen in dem jugendlichen Gemüte schon feste Wurzeln
geschlagen haben, ehe der Kampf uns Dasein beginnt. Wenn daher in letzter
Zeit häufig Klage darüber geführt wird, daß unsre Primaner abgearbeitet und
unlustig von der Schule abgehen, nur beseelt von dem Verlangen, den Büchern
für einige Zeit den Rücken zu kehren, so fordert dies unsre Aufmerksamkeit in
hohem Grade heraus und wirft einen dunkeln Schatten auf das bestehende
Lehrsystem.

Ich glaube, daß das Gymnasium sich seine Aufgabe nicht weiter stecken
soll, als bis zur Grenze einer allgemeinen Vorbereitung für deu Eintritt in
die gebildete Gesellschaft, Über deu Grad und Umfang dessen, was unter dieser
allgemeinen Bildung verstanden wird, mag man streiten. An dem Grundsätze
aber, daß diese Bildung eine für alle spätern Lebensverhältnisse passende, des¬
halb allgemeine und nicht auf das Bernfsinteresse zugeschnittene sei, sollte man
unter alleu Umständen festhalten. Selbstverständlich handelt es sich nicht um
ein Maß von Wissen, nicht um die Anhäufung von Kenntnissen. Was wir
Bildung neunen, stellt sich als eine Klärung nicht nur des Verstandes, sondern
auch des Gemüts dar. Sie ist Frucht nicht nur des Lernens,. sondern auch
der Erziehung. Und diese letztere, wichtige Aufgabe hat sich die Schule, erdrückt
von der Wucht des Arbeitsstoffes, leider allzuleicht entwinden lassen oder allzu
achtlos selbst preisgegeben. Es ist mißlich, das Wort „Ideal" auf unsre Lebens-
verhültnisfe und deren Forderungen anzuwenden. Daß aber dem Gymnasium
im Gegensatze zu andern Elementar- oder Fachschulen die Pflege einer dem
Zwange gemeiner Nützlichkeit entzogenen und ideale Ziele anstrebenden Geistes-
richtung als wichtigste Aufgabe zufällt, wird nur dann geleugnet werden können,
wenn die Wertschätzung einer auf solchem Wege erzielten Bildung einem Volke
verloren gegangen ist. Der Keim des Strebens nach Wahrheit, der in die
jugendliche Seele gelegt ist, wird auch später für deu erweiterten Blick des ge¬
lehrten Forschers seine Früchte tragen. Die Pflege der Wissenschaft mit ihren
höchsten Zielen verlangt Uneigennützigkeit und Hingebung. Praktische Tüchtig¬
keit, wie sie die Amerikaner ihrer Jugend anerziehen, ist für diese hohe Aufgabe
allein nicht ausreichend. Wir wollen in der Jugend, die später berufen ist,
thatkräftig in das öffentliche Leben einzugreifen, die sittlichen Anschauungen
wecken und fördern, die zu eiuer von Selbstsucht und Leidenschaft möglichst
freien Schätzung idealer Güter führt. Diese Objektivität, diese unbefangene
Erkenntnis der höchsten Aufgaben des Menschen und die Fähigkeit, frei vou
persönlichen Wünschen und Interessen ini Gemeinwesen dafür zu wirken, diese
Eigenschaften sind Kennzeichen der höhern Bildung. Das Wesen des huma¬
nistischen Unterrichts soll diese sittlichen Anschauungen hervorrufen, und das ist
sein unbestreitbarer Vorzug vor dem realistischen Nützlichkeitsprinzip. Die
preußische Unterrichtsverfassung von 1816 hat diese Ziele gekennzeichnet, indem


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/124>, abgerufen am 23.12.2024.