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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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verwechselt? Ist denn die Lehrmethode immer die richtige? Hierüber werden
namentlich neuerdings von vielen Seiten Zweifel laut. Sehen wir zu, wieweit
dieselben berechtigt sind.

Die philologischen Begründer hatten den großen Fehler begangen, die
Grenzen des auf der Schule zu erobernden Gebiets viel zu weit zu stecken.
Vielleicht täuschte sie die eigne Begeisterung, die zeitweilige Lernbegierde der
Schüler, welche der Reiz der Neuheit anfeuerte. Vielleicht entschuldigte sie der
Maugel realistischer Lehrstoffe. Thatsächlich gingen sie in ihren Anforderungen
an die physische Leistungsfähigkeit und die moralische Energie der Schüler zu
weit. Aber noch ein andrer organischer Fehler trat sehr bald zu Tage. Es
war dies der Zwiespalt über die Verwendung des altsprachlichen Lehrstoffes:
das Schwanken zwischen seiner formalen Nützlichkeit lind seinem ethischen Werte.
Bald sollte der grammatikalische Unterricht nur zum Klettergerüst dienen, an
dem die geistige Gymnastik des Verstandes zu den höchsten Leistungen gesteigert
werden konnte, bald wieder kam es nur auf den Inhalt der Lektüre, auf den
Veredlnngsprvzeß um, den der Schüler in dein innigen Verkehr mit dem Alter¬
tume durchmachte. Von den Vertretern dieser Richtungen zerrte jeder den
Schüler nach seiner Seite. Dabei wuchs das Pensum und erlahmte naturgemäß
die Freudigkeit am Lernen. Diese Spaltung im philologischen Lager giebt den
realistischen Gegnern die stärkste Angriffswaffe in die Hand. Sie zeigt, daß
es ein unbedingt richtiges und durch die Erfahrung erprobtes Lehrsystem auch
bei den Humanisten nicht giebt, und mau sich überhaupt über das zu erstrebende
Ziel nicht im Klaren ist. Denn entweder sollen die alten Sprachen nur die
Denkfähigkeit steigern; dann aber kann dies auch auf anderm Wege, durch
Mathematik, Logik oder neuere Sprachen geschehen. Oder es handelt sich um
historische Erkenntnis der klassischen Kulturperiode, daun kann diese auch durch
Übersetzungen gewonnen werden. Der Einwand, daß das wahre Verständnis
für die Literatur der Griechen und Römer nur durch Beherrschung ihrer
Sprachen erzielt werden könnte, ist hinfällig, denn diese Beherrschung wird
-- wenigstens ans der Schule -- nicht erreicht. Das Gymnasium hält nicht,
was es verspricht, und das ist der gewichtigste Vorwurf, den man ihm machen
kann. "Oder sollen wir uns -- bemerkt Paulsen in seinem schon oben zitirten
Werke -- mit der Hoffnung trösten, der Schiller, den wir zwar vom Gym¬
nasium mit einer nur notdürftigen Kenntnis der Sprache entlassen, werde später
die Dynmnis leicht in Energie umsetzen und die erforderliche Lesefertigkeit sich
erwerben? Es mag sein, daß sie leicht zu erwerben ist; ich glaube, wer auf
der Universität auch mir ein paar Monate ununterbrochen einen Schriftsteller,
wie etwa den Platon, liest, dem wird, vielleicht zu seiner Überraschung, bald
deutlich, daß Griechischlesen gar keine so schwierige Sache ist, wie es dem Abi¬
turienten schien. Aber wie viele sind in dieser Lage? Ist es ein Zehntel
unsrer Abiturienten, also ein Dreißigstel derer, welche durch unsre Schulord-


verwechselt? Ist denn die Lehrmethode immer die richtige? Hierüber werden
namentlich neuerdings von vielen Seiten Zweifel laut. Sehen wir zu, wieweit
dieselben berechtigt sind.

Die philologischen Begründer hatten den großen Fehler begangen, die
Grenzen des auf der Schule zu erobernden Gebiets viel zu weit zu stecken.
Vielleicht täuschte sie die eigne Begeisterung, die zeitweilige Lernbegierde der
Schüler, welche der Reiz der Neuheit anfeuerte. Vielleicht entschuldigte sie der
Maugel realistischer Lehrstoffe. Thatsächlich gingen sie in ihren Anforderungen
an die physische Leistungsfähigkeit und die moralische Energie der Schüler zu
weit. Aber noch ein andrer organischer Fehler trat sehr bald zu Tage. Es
war dies der Zwiespalt über die Verwendung des altsprachlichen Lehrstoffes:
das Schwanken zwischen seiner formalen Nützlichkeit lind seinem ethischen Werte.
Bald sollte der grammatikalische Unterricht nur zum Klettergerüst dienen, an
dem die geistige Gymnastik des Verstandes zu den höchsten Leistungen gesteigert
werden konnte, bald wieder kam es nur auf den Inhalt der Lektüre, auf den
Veredlnngsprvzeß um, den der Schüler in dein innigen Verkehr mit dem Alter¬
tume durchmachte. Von den Vertretern dieser Richtungen zerrte jeder den
Schüler nach seiner Seite. Dabei wuchs das Pensum und erlahmte naturgemäß
die Freudigkeit am Lernen. Diese Spaltung im philologischen Lager giebt den
realistischen Gegnern die stärkste Angriffswaffe in die Hand. Sie zeigt, daß
es ein unbedingt richtiges und durch die Erfahrung erprobtes Lehrsystem auch
bei den Humanisten nicht giebt, und mau sich überhaupt über das zu erstrebende
Ziel nicht im Klaren ist. Denn entweder sollen die alten Sprachen nur die
Denkfähigkeit steigern; dann aber kann dies auch auf anderm Wege, durch
Mathematik, Logik oder neuere Sprachen geschehen. Oder es handelt sich um
historische Erkenntnis der klassischen Kulturperiode, daun kann diese auch durch
Übersetzungen gewonnen werden. Der Einwand, daß das wahre Verständnis
für die Literatur der Griechen und Römer nur durch Beherrschung ihrer
Sprachen erzielt werden könnte, ist hinfällig, denn diese Beherrschung wird
— wenigstens ans der Schule — nicht erreicht. Das Gymnasium hält nicht,
was es verspricht, und das ist der gewichtigste Vorwurf, den man ihm machen
kann. „Oder sollen wir uns — bemerkt Paulsen in seinem schon oben zitirten
Werke — mit der Hoffnung trösten, der Schiller, den wir zwar vom Gym¬
nasium mit einer nur notdürftigen Kenntnis der Sprache entlassen, werde später
die Dynmnis leicht in Energie umsetzen und die erforderliche Lesefertigkeit sich
erwerben? Es mag sein, daß sie leicht zu erwerben ist; ich glaube, wer auf
der Universität auch mir ein paar Monate ununterbrochen einen Schriftsteller,
wie etwa den Platon, liest, dem wird, vielleicht zu seiner Überraschung, bald
deutlich, daß Griechischlesen gar keine so schwierige Sache ist, wie es dem Abi¬
turienten schien. Aber wie viele sind in dieser Lage? Ist es ein Zehntel
unsrer Abiturienten, also ein Dreißigstel derer, welche durch unsre Schulord-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/117>, abgerufen am 01.10.2024.