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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.

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Die moderne Arbeiterbewegung.

das? die früher jedem gebotene Aussicht, sich durch persönliche Tüchtigkeit auf
der sozialen Stufenleiter allmählich emporzuarbeiten, mehr und mehr schwindet,
und dumpfe Hoffnungslosigkeit oder tollkühnes Wagen immer weitere Kreise er¬
fassen, ein Zustand, der für eine gesunde Entwicklung des Wirtschaftslebens auf
die Dauer ebenso unfruchtbar als gefährlich ist.

Obgleich diese Anzeichen einer bevorstehenden sozialen Entscheidung seit
einiger Zeit in allen Kulturstaaten immer stärker und drohender zu Tage treten,
scheint die Gefahr von den besitzenden Klassen und insbesondre den maßgebenden
politischen Parteien dennoch nicht ernst genommen zu werden; denn selbst da,
wo man sich auf Repressivmaßregeln allein nicht mehr beschränken zu dürfen
glaubt, hat man sich meist mit äußern Heilmitteln begnügt, die zwar die offenen
Wunden des kranken Körpers verstopfen, die innere Ursache der Krankheit aber
unberührt küssen. Im allgemeinen glaubt man Wohl einen gewaltsamen Aus¬
bruch der Volksleidenschafteu noch nicht so nahe bevorstehend und schlimmsten¬
falls in den stehenden Heeren ein sicheres Bollwerk gegen die soziale Sturmflut
zu besitzen. Dabei vergißt man freilich die demokratisch-nivellirende Wirkung
der modernen Presse und der heutigen Verkehrsmittel, die steigende Intelligenz
der breiten Klassen, die internationale Schrankenlosigkeit und Gleichförmigkeit
des treibenden Elements, sodaß der erste beste Anlaß den vorhandenen Zünd¬
stoff zu einem allgemeinen Weltbrande entflammen kann. Und ob es der mili¬
tärischen Disziplin gelingen wird, den fanatischen Haß gegen jedwede Autorität,
mit dem die aufwachsende Generation durchseucht wird, mit dauerndem Erfolge
zu überwinden, dürste angesichts der Vorkommnisse in einzelnen Ländern, wo
Soldaten mit Streitenden bereits frateruisirt, für sie Geld gesammelt und gegen
sie vorzugehen sich geweigert haben, doch mindestens fraglich erscheinen.

Es ist begreiflich, daß die von den sozialen Mißständen zunächst und am
härtesten betroffene Arbeiterschaft auch zuerst auf Abhilfe sann, und daß diese
Bewegung von England, dem klassischen Boden des modernen Jndustrialismus,
ihren Ausgang nahm. Nachdem die englischen Arbeiter sich die Koalitions¬
freiheit erstritten hatten, suchten sie unter der Fahne des Manchestertnms auf
dem Wege der Selbsthilfe durch die 'Iraäes vnioi,8, sodann unter Anlehnung
an die Liberalen anch dnrch entsprechende Einwirkung auf die Gesetzgebung die
zu Tage tretenden Schäden von Fall zu Fall zu beseitigen. Da die herrschende
Stellung Englands auf dem Weltmarkte fortgesetzte Zugeständnisse an die ar¬
beitende Klasse gestattete, und diese vermeintlichen Erfolge der englischen Arbeiter¬
vereine blendeten, war es ganz natürlich, daß die Arbeiter der übrigen Länder,
je nachdem deren industrielle Verhältnisse zu weiterer Entwicklung gelangten,
dem gegebenen Beispiele folgten.

So entstand die erste, reformatorische Richtung der modernen Arbeiter¬
bewegung, welche die Schäden der heutigen Wirtschaftsordnung durch eine zeit¬
gemäße Fortbildung zu beseitigen strebt, hierzu die korporative Selbsthilfe bei


Die moderne Arbeiterbewegung.

das? die früher jedem gebotene Aussicht, sich durch persönliche Tüchtigkeit auf
der sozialen Stufenleiter allmählich emporzuarbeiten, mehr und mehr schwindet,
und dumpfe Hoffnungslosigkeit oder tollkühnes Wagen immer weitere Kreise er¬
fassen, ein Zustand, der für eine gesunde Entwicklung des Wirtschaftslebens auf
die Dauer ebenso unfruchtbar als gefährlich ist.

Obgleich diese Anzeichen einer bevorstehenden sozialen Entscheidung seit
einiger Zeit in allen Kulturstaaten immer stärker und drohender zu Tage treten,
scheint die Gefahr von den besitzenden Klassen und insbesondre den maßgebenden
politischen Parteien dennoch nicht ernst genommen zu werden; denn selbst da,
wo man sich auf Repressivmaßregeln allein nicht mehr beschränken zu dürfen
glaubt, hat man sich meist mit äußern Heilmitteln begnügt, die zwar die offenen
Wunden des kranken Körpers verstopfen, die innere Ursache der Krankheit aber
unberührt küssen. Im allgemeinen glaubt man Wohl einen gewaltsamen Aus¬
bruch der Volksleidenschafteu noch nicht so nahe bevorstehend und schlimmsten¬
falls in den stehenden Heeren ein sicheres Bollwerk gegen die soziale Sturmflut
zu besitzen. Dabei vergißt man freilich die demokratisch-nivellirende Wirkung
der modernen Presse und der heutigen Verkehrsmittel, die steigende Intelligenz
der breiten Klassen, die internationale Schrankenlosigkeit und Gleichförmigkeit
des treibenden Elements, sodaß der erste beste Anlaß den vorhandenen Zünd¬
stoff zu einem allgemeinen Weltbrande entflammen kann. Und ob es der mili¬
tärischen Disziplin gelingen wird, den fanatischen Haß gegen jedwede Autorität,
mit dem die aufwachsende Generation durchseucht wird, mit dauerndem Erfolge
zu überwinden, dürste angesichts der Vorkommnisse in einzelnen Ländern, wo
Soldaten mit Streitenden bereits frateruisirt, für sie Geld gesammelt und gegen
sie vorzugehen sich geweigert haben, doch mindestens fraglich erscheinen.

Es ist begreiflich, daß die von den sozialen Mißständen zunächst und am
härtesten betroffene Arbeiterschaft auch zuerst auf Abhilfe sann, und daß diese
Bewegung von England, dem klassischen Boden des modernen Jndustrialismus,
ihren Ausgang nahm. Nachdem die englischen Arbeiter sich die Koalitions¬
freiheit erstritten hatten, suchten sie unter der Fahne des Manchestertnms auf
dem Wege der Selbsthilfe durch die 'Iraäes vnioi,8, sodann unter Anlehnung
an die Liberalen anch dnrch entsprechende Einwirkung auf die Gesetzgebung die
zu Tage tretenden Schäden von Fall zu Fall zu beseitigen. Da die herrschende
Stellung Englands auf dem Weltmarkte fortgesetzte Zugeständnisse an die ar¬
beitende Klasse gestattete, und diese vermeintlichen Erfolge der englischen Arbeiter¬
vereine blendeten, war es ganz natürlich, daß die Arbeiter der übrigen Länder,
je nachdem deren industrielle Verhältnisse zu weiterer Entwicklung gelangten,
dem gegebenen Beispiele folgten.

So entstand die erste, reformatorische Richtung der modernen Arbeiter¬
bewegung, welche die Schäden der heutigen Wirtschaftsordnung durch eine zeit¬
gemäße Fortbildung zu beseitigen strebt, hierzu die korporative Selbsthilfe bei


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[0067] Die moderne Arbeiterbewegung. das? die früher jedem gebotene Aussicht, sich durch persönliche Tüchtigkeit auf der sozialen Stufenleiter allmählich emporzuarbeiten, mehr und mehr schwindet, und dumpfe Hoffnungslosigkeit oder tollkühnes Wagen immer weitere Kreise er¬ fassen, ein Zustand, der für eine gesunde Entwicklung des Wirtschaftslebens auf die Dauer ebenso unfruchtbar als gefährlich ist. Obgleich diese Anzeichen einer bevorstehenden sozialen Entscheidung seit einiger Zeit in allen Kulturstaaten immer stärker und drohender zu Tage treten, scheint die Gefahr von den besitzenden Klassen und insbesondre den maßgebenden politischen Parteien dennoch nicht ernst genommen zu werden; denn selbst da, wo man sich auf Repressivmaßregeln allein nicht mehr beschränken zu dürfen glaubt, hat man sich meist mit äußern Heilmitteln begnügt, die zwar die offenen Wunden des kranken Körpers verstopfen, die innere Ursache der Krankheit aber unberührt küssen. Im allgemeinen glaubt man Wohl einen gewaltsamen Aus¬ bruch der Volksleidenschafteu noch nicht so nahe bevorstehend und schlimmsten¬ falls in den stehenden Heeren ein sicheres Bollwerk gegen die soziale Sturmflut zu besitzen. Dabei vergißt man freilich die demokratisch-nivellirende Wirkung der modernen Presse und der heutigen Verkehrsmittel, die steigende Intelligenz der breiten Klassen, die internationale Schrankenlosigkeit und Gleichförmigkeit des treibenden Elements, sodaß der erste beste Anlaß den vorhandenen Zünd¬ stoff zu einem allgemeinen Weltbrande entflammen kann. Und ob es der mili¬ tärischen Disziplin gelingen wird, den fanatischen Haß gegen jedwede Autorität, mit dem die aufwachsende Generation durchseucht wird, mit dauerndem Erfolge zu überwinden, dürste angesichts der Vorkommnisse in einzelnen Ländern, wo Soldaten mit Streitenden bereits frateruisirt, für sie Geld gesammelt und gegen sie vorzugehen sich geweigert haben, doch mindestens fraglich erscheinen. Es ist begreiflich, daß die von den sozialen Mißständen zunächst und am härtesten betroffene Arbeiterschaft auch zuerst auf Abhilfe sann, und daß diese Bewegung von England, dem klassischen Boden des modernen Jndustrialismus, ihren Ausgang nahm. Nachdem die englischen Arbeiter sich die Koalitions¬ freiheit erstritten hatten, suchten sie unter der Fahne des Manchestertnms auf dem Wege der Selbsthilfe durch die 'Iraäes vnioi,8, sodann unter Anlehnung an die Liberalen anch dnrch entsprechende Einwirkung auf die Gesetzgebung die zu Tage tretenden Schäden von Fall zu Fall zu beseitigen. Da die herrschende Stellung Englands auf dem Weltmarkte fortgesetzte Zugeständnisse an die ar¬ beitende Klasse gestattete, und diese vermeintlichen Erfolge der englischen Arbeiter¬ vereine blendeten, war es ganz natürlich, daß die Arbeiter der übrigen Länder, je nachdem deren industrielle Verhältnisse zu weiterer Entwicklung gelangten, dem gegebenen Beispiele folgten. So entstand die erste, reformatorische Richtung der modernen Arbeiter¬ bewegung, welche die Schäden der heutigen Wirtschaftsordnung durch eine zeit¬ gemäße Fortbildung zu beseitigen strebt, hierzu die korporative Selbsthilfe bei

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/67>, abgerufen am 28.09.2024.