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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.

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Aus Schwaben.

Zweifel, ob dies noch der Fall sei. Die deutsche Politik ist nicht beim Jahre
1871 stehen geblieben; sie hat sich seitdem weiter entwickelt. Die schwäbischen
Volksvertreter sitzen im hohen Rate der Nation mit dem Rechte, mitzusprechen
und mitzubeschließen. Sollen ihre Auftraggeber nicht auch Teil nehmen an
den Aufgaben, welche der Gesetzgebung und Regierung des deutschen Reiches
gestellt sind? Sollen sie auch eine solche Teilnahme noch als ein Opfer an¬
sehen, abgepreßt und entschuldigt durch die Notwendigkeit der politischen Lage?
Fast sollte man glauben, daß dies die allgemeine Meinung sei innerhalb der
"deutschen Partei." Ju der Vevölkerungsschicht, die "national" zu stimmen
pflegt, ist das politische Interesse auf den Nullpunkt gesunken. Kaum daß man
"och hie und da von Bulgarien spricht oder vom russischen Kaiser; von deutschen
Angelegenheiten ist nirgends die Rede; es ist, als ob sie uns nichts angingen
oder als ob wir ein- für allemal dazu verurteilt wären, alles, was die deutsche
Politik bringt, leidend über uns ergehen zu lassen. Mancherlei Umstände mögen
zur Herbeiführung dieser betrübenden Ergebnisse mitgewirkt haben, die vor¬
nehmste Ursache liegt in der oben gekennzeichneten Haltung der "deutscheu
Partei." Oder vielmehr in dem Mangel der gänzlichen Abwesenheit einer
Partei, welche deutsch gesinnt wäre, aber außerdem noch einen bestimmten
positiven Charakter, außer der allgemeinen nationalen Gesinnung noch
bestimmte politische Grundsätze hätte. Wahlerfolge, die hie und da
errungen werden, beweisen garnichts. Wie sind sie zu stände gekommen?
Gewöhnlich durch Kompromisse, welche das Absehen von allen und
jeden politischen Grundsätzen zur Voraussetzung haben. Der soziale Einfluß
der Persönlichkeiten, die bei solchen Kompromissen sich ÄÄ lloo verständigt
haben, ist dann immer noch groß genug, um die zum Ausstechen des
Gegners erforderliche Anzahl Stimmzettel in die Urne zu liefern; ob bei
solchen, durch rein äußerliche Mittel erreichten Erfolgen das politische Leben
des Volkes gewinnt, erscheint mehr als zweifelhaft. Staatliche Gesinnung und
die relative Stärke einer bestimmten Art derselben soll bei einer Wahl zum
Ausdruck kommen. Eine solche staatliche Gesinnung wird aber gepflanzt und
gepflegt nur dadurch, daß der Masse der Wähler verständlich gemacht wird,
inwiefern die staatlichen Interessen zugleich ihre eignen sind und wie sie als
selbständige Männer und Bürger des Gemeinwesens die sittliche Pflicht haben,
sich ein Urteil über die Frage zu bilden, auf welche Weise der staatliche Teil
ihrer Interessen am besten wahrgenommen wird. Ohne die Anerkennung eiuer
sittliche" Pflicht zur politischen Stellung möchte allerdings jenes schnöde Wort
Recht behalten: "Die Politik verdirbt den Charakter." So aber sagen wir um¬
gekehrt: Der politische Charakter gehört mit zum Charakter des selbständigen
Mannes in einer Zeit und in einem Staatswesen, das ihn zur aktiven Teilnahme
am öffentlichen Leben reif erklärt. Aus dieser Prämisse aber ergiebt sich als
nicht von der Hand zu weisende praktische Schlußfolgerung, daß wie der Einzelne,


Aus Schwaben.

Zweifel, ob dies noch der Fall sei. Die deutsche Politik ist nicht beim Jahre
1871 stehen geblieben; sie hat sich seitdem weiter entwickelt. Die schwäbischen
Volksvertreter sitzen im hohen Rate der Nation mit dem Rechte, mitzusprechen
und mitzubeschließen. Sollen ihre Auftraggeber nicht auch Teil nehmen an
den Aufgaben, welche der Gesetzgebung und Regierung des deutschen Reiches
gestellt sind? Sollen sie auch eine solche Teilnahme noch als ein Opfer an¬
sehen, abgepreßt und entschuldigt durch die Notwendigkeit der politischen Lage?
Fast sollte man glauben, daß dies die allgemeine Meinung sei innerhalb der
„deutschen Partei." Ju der Vevölkerungsschicht, die „national" zu stimmen
pflegt, ist das politische Interesse auf den Nullpunkt gesunken. Kaum daß man
«och hie und da von Bulgarien spricht oder vom russischen Kaiser; von deutschen
Angelegenheiten ist nirgends die Rede; es ist, als ob sie uns nichts angingen
oder als ob wir ein- für allemal dazu verurteilt wären, alles, was die deutsche
Politik bringt, leidend über uns ergehen zu lassen. Mancherlei Umstände mögen
zur Herbeiführung dieser betrübenden Ergebnisse mitgewirkt haben, die vor¬
nehmste Ursache liegt in der oben gekennzeichneten Haltung der „deutscheu
Partei." Oder vielmehr in dem Mangel der gänzlichen Abwesenheit einer
Partei, welche deutsch gesinnt wäre, aber außerdem noch einen bestimmten
positiven Charakter, außer der allgemeinen nationalen Gesinnung noch
bestimmte politische Grundsätze hätte. Wahlerfolge, die hie und da
errungen werden, beweisen garnichts. Wie sind sie zu stände gekommen?
Gewöhnlich durch Kompromisse, welche das Absehen von allen und
jeden politischen Grundsätzen zur Voraussetzung haben. Der soziale Einfluß
der Persönlichkeiten, die bei solchen Kompromissen sich ÄÄ lloo verständigt
haben, ist dann immer noch groß genug, um die zum Ausstechen des
Gegners erforderliche Anzahl Stimmzettel in die Urne zu liefern; ob bei
solchen, durch rein äußerliche Mittel erreichten Erfolgen das politische Leben
des Volkes gewinnt, erscheint mehr als zweifelhaft. Staatliche Gesinnung und
die relative Stärke einer bestimmten Art derselben soll bei einer Wahl zum
Ausdruck kommen. Eine solche staatliche Gesinnung wird aber gepflanzt und
gepflegt nur dadurch, daß der Masse der Wähler verständlich gemacht wird,
inwiefern die staatlichen Interessen zugleich ihre eignen sind und wie sie als
selbständige Männer und Bürger des Gemeinwesens die sittliche Pflicht haben,
sich ein Urteil über die Frage zu bilden, auf welche Weise der staatliche Teil
ihrer Interessen am besten wahrgenommen wird. Ohne die Anerkennung eiuer
sittliche» Pflicht zur politischen Stellung möchte allerdings jenes schnöde Wort
Recht behalten: „Die Politik verdirbt den Charakter." So aber sagen wir um¬
gekehrt: Der politische Charakter gehört mit zum Charakter des selbständigen
Mannes in einer Zeit und in einem Staatswesen, das ihn zur aktiven Teilnahme
am öffentlichen Leben reif erklärt. Aus dieser Prämisse aber ergiebt sich als
nicht von der Hand zu weisende praktische Schlußfolgerung, daß wie der Einzelne,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/650>, abgerufen am 20.10.2024.