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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.

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Die Geschichte der Gotthardbahn.

bei vielen abgezehrt und blutleer zurückgekehrte" Arbeitern einen kleinen Ein¬
geweidewurm, der sonst nur in den Tropen heimisch ist.

Aber auch die unmittelbar an die Arbeit sich knüpfenden Gefahren waren
nicht gering und die Unglücksfälle überaus häufig. Explosionen der Dyuamit-
Hütten, unzeitige Entzündung von Minen, Abstürze und Einbrüche aller Art,
Unfälle bei der Forderung des Ausbruchs:c. führten solche herbei. Am 1. Juli
1873 erließ der Bundesrat ein Haftpflichtgesetz, durch welches er den Arbeitern
Schutz zu gewähren suchte. Gleichwohl vermehrten sich die Unfälle von Jahr
zu Jahr. Aus deu Jahren 1872 bis 1880 werden 165 Todesfälle und 354
mehr oder minder schwere Verletzungen gemeldet. Rechnet man hinzu die zahl¬
reichen Anfälle, welche auch der Bau der übrigen Bahnstrecken herbeiführte
-- allein aus dem Jahre 1880 werden von dort 60 Todesfälle und 181 Ver¬
letzungen aufgeführt --, so möchte man den Bau der Gotthardbahn mit einer
von der Menschheit gegen die riesigen Naturkrüfte geschlagenen Schlacht ver¬
gleichen, welche zahlreiche Tote und Verwundete gekostet hat.

Ein sehr beklagenswertes Ereignis war es auch, daß im Juli 1873 zu
Gvscheucn ein Arbeiteraufrnhr ausbrach. Streitigkeiten über die Arbeits¬
bedingungen führten dahin, daß ein großer Teil der Arbeiter streikte und auch
die übrigen nicht zu der Arbeit ließ. Eine Kompagnie Militär wurde von
Altdorf aufgeboten. Die Arbeiter, wohl tausend an der Zahl, widersetzten sich
und griffen das Militär mit einem Hagel von Steinen an. Dieses machte von
der Schießwaffe Gebrauch. Mehrere Arbeiter wurden verwundet, zwei
(Italiener) blieben tot auf dem Platze. Hierauf ward die Ordnung wieder¬
hergestellt.

Um von der Größe des gesamten Betriebes eine Vorstellung zu gebe",
möge hier noch folgendes angeführt werden. Im Jahre 1879 brannten in dem
Tunnel durchschnittlich 743 Lampen, welche täglich 520 Kilo Ol verbrauchten.
Dynamik wurde um jene Zeit durchschnittlich für den Tag auf der Nordseite
157, auf der Südseite 225 Kilo verwendete.

Unter namenlosen Mühen und Opfern rückte der rastlos betriebene Nicht-
stvllen dem ersehnten Ziele immer näher. Zuerst in der Christnacht 1879
glaubte man auf der Nordseite Schüsse von der Südseite her, aus 415 Meter
Entfernung, zu hören. Ende Dezember, bei noch 394 Meter Entfernung, hörte
man sie ganz deutlich. Man berechnete deu Durchschlag auf die ersten Tage
des März. Es fand schon am 29. Februar 1880, morgens 11^ Uhr, statt.
Der Mineur Vercelli, der auch den letzten Schuß im Mvnteenis gethan, vollzog
denselben. Das große Werk war geglückt. In der Richtung zeigten die beiden
Stollen nur 0,33 Meter, in der Höhe nur 0,05 Meter Unterschied. Ein
großer Triumph menschlicher Kunst! Der Durchschlag erfolgte 7744 Meter
vou dem Nordende, 7167 Meter von dem Südende. Die Arbeit auf der
Nordseite war also der auf der Südseite um 577 Meter vorausgeeilt. Die


Die Geschichte der Gotthardbahn.

bei vielen abgezehrt und blutleer zurückgekehrte» Arbeitern einen kleinen Ein¬
geweidewurm, der sonst nur in den Tropen heimisch ist.

Aber auch die unmittelbar an die Arbeit sich knüpfenden Gefahren waren
nicht gering und die Unglücksfälle überaus häufig. Explosionen der Dyuamit-
Hütten, unzeitige Entzündung von Minen, Abstürze und Einbrüche aller Art,
Unfälle bei der Forderung des Ausbruchs:c. führten solche herbei. Am 1. Juli
1873 erließ der Bundesrat ein Haftpflichtgesetz, durch welches er den Arbeitern
Schutz zu gewähren suchte. Gleichwohl vermehrten sich die Unfälle von Jahr
zu Jahr. Aus deu Jahren 1872 bis 1880 werden 165 Todesfälle und 354
mehr oder minder schwere Verletzungen gemeldet. Rechnet man hinzu die zahl¬
reichen Anfälle, welche auch der Bau der übrigen Bahnstrecken herbeiführte
— allein aus dem Jahre 1880 werden von dort 60 Todesfälle und 181 Ver¬
letzungen aufgeführt —, so möchte man den Bau der Gotthardbahn mit einer
von der Menschheit gegen die riesigen Naturkrüfte geschlagenen Schlacht ver¬
gleichen, welche zahlreiche Tote und Verwundete gekostet hat.

Ein sehr beklagenswertes Ereignis war es auch, daß im Juli 1873 zu
Gvscheucn ein Arbeiteraufrnhr ausbrach. Streitigkeiten über die Arbeits¬
bedingungen führten dahin, daß ein großer Teil der Arbeiter streikte und auch
die übrigen nicht zu der Arbeit ließ. Eine Kompagnie Militär wurde von
Altdorf aufgeboten. Die Arbeiter, wohl tausend an der Zahl, widersetzten sich
und griffen das Militär mit einem Hagel von Steinen an. Dieses machte von
der Schießwaffe Gebrauch. Mehrere Arbeiter wurden verwundet, zwei
(Italiener) blieben tot auf dem Platze. Hierauf ward die Ordnung wieder¬
hergestellt.

Um von der Größe des gesamten Betriebes eine Vorstellung zu gebe»,
möge hier noch folgendes angeführt werden. Im Jahre 1879 brannten in dem
Tunnel durchschnittlich 743 Lampen, welche täglich 520 Kilo Ol verbrauchten.
Dynamik wurde um jene Zeit durchschnittlich für den Tag auf der Nordseite
157, auf der Südseite 225 Kilo verwendete.

Unter namenlosen Mühen und Opfern rückte der rastlos betriebene Nicht-
stvllen dem ersehnten Ziele immer näher. Zuerst in der Christnacht 1879
glaubte man auf der Nordseite Schüsse von der Südseite her, aus 415 Meter
Entfernung, zu hören. Ende Dezember, bei noch 394 Meter Entfernung, hörte
man sie ganz deutlich. Man berechnete deu Durchschlag auf die ersten Tage
des März. Es fand schon am 29. Februar 1880, morgens 11^ Uhr, statt.
Der Mineur Vercelli, der auch den letzten Schuß im Mvnteenis gethan, vollzog
denselben. Das große Werk war geglückt. In der Richtung zeigten die beiden
Stollen nur 0,33 Meter, in der Höhe nur 0,05 Meter Unterschied. Ein
großer Triumph menschlicher Kunst! Der Durchschlag erfolgte 7744 Meter
vou dem Nordende, 7167 Meter von dem Südende. Die Arbeit auf der
Nordseite war also der auf der Südseite um 577 Meter vorausgeeilt. Die


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[0644] Die Geschichte der Gotthardbahn. bei vielen abgezehrt und blutleer zurückgekehrte» Arbeitern einen kleinen Ein¬ geweidewurm, der sonst nur in den Tropen heimisch ist. Aber auch die unmittelbar an die Arbeit sich knüpfenden Gefahren waren nicht gering und die Unglücksfälle überaus häufig. Explosionen der Dyuamit- Hütten, unzeitige Entzündung von Minen, Abstürze und Einbrüche aller Art, Unfälle bei der Forderung des Ausbruchs:c. führten solche herbei. Am 1. Juli 1873 erließ der Bundesrat ein Haftpflichtgesetz, durch welches er den Arbeitern Schutz zu gewähren suchte. Gleichwohl vermehrten sich die Unfälle von Jahr zu Jahr. Aus deu Jahren 1872 bis 1880 werden 165 Todesfälle und 354 mehr oder minder schwere Verletzungen gemeldet. Rechnet man hinzu die zahl¬ reichen Anfälle, welche auch der Bau der übrigen Bahnstrecken herbeiführte — allein aus dem Jahre 1880 werden von dort 60 Todesfälle und 181 Ver¬ letzungen aufgeführt —, so möchte man den Bau der Gotthardbahn mit einer von der Menschheit gegen die riesigen Naturkrüfte geschlagenen Schlacht ver¬ gleichen, welche zahlreiche Tote und Verwundete gekostet hat. Ein sehr beklagenswertes Ereignis war es auch, daß im Juli 1873 zu Gvscheucn ein Arbeiteraufrnhr ausbrach. Streitigkeiten über die Arbeits¬ bedingungen führten dahin, daß ein großer Teil der Arbeiter streikte und auch die übrigen nicht zu der Arbeit ließ. Eine Kompagnie Militär wurde von Altdorf aufgeboten. Die Arbeiter, wohl tausend an der Zahl, widersetzten sich und griffen das Militär mit einem Hagel von Steinen an. Dieses machte von der Schießwaffe Gebrauch. Mehrere Arbeiter wurden verwundet, zwei (Italiener) blieben tot auf dem Platze. Hierauf ward die Ordnung wieder¬ hergestellt. Um von der Größe des gesamten Betriebes eine Vorstellung zu gebe», möge hier noch folgendes angeführt werden. Im Jahre 1879 brannten in dem Tunnel durchschnittlich 743 Lampen, welche täglich 520 Kilo Ol verbrauchten. Dynamik wurde um jene Zeit durchschnittlich für den Tag auf der Nordseite 157, auf der Südseite 225 Kilo verwendete. Unter namenlosen Mühen und Opfern rückte der rastlos betriebene Nicht- stvllen dem ersehnten Ziele immer näher. Zuerst in der Christnacht 1879 glaubte man auf der Nordseite Schüsse von der Südseite her, aus 415 Meter Entfernung, zu hören. Ende Dezember, bei noch 394 Meter Entfernung, hörte man sie ganz deutlich. Man berechnete deu Durchschlag auf die ersten Tage des März. Es fand schon am 29. Februar 1880, morgens 11^ Uhr, statt. Der Mineur Vercelli, der auch den letzten Schuß im Mvnteenis gethan, vollzog denselben. Das große Werk war geglückt. In der Richtung zeigten die beiden Stollen nur 0,33 Meter, in der Höhe nur 0,05 Meter Unterschied. Ein großer Triumph menschlicher Kunst! Der Durchschlag erfolgte 7744 Meter vou dem Nordende, 7167 Meter von dem Südende. Die Arbeit auf der Nordseite war also der auf der Südseite um 577 Meter vorausgeeilt. Die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/644>, abgerufen am 20.10.2024.