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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.

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Vor Ministcrwechsel in Paris.

Littkeil in der Kammer und den Fraktionen, welche den Raum zwischen dieser
und der Rechten einnehmen. Einige von denen, welche sich nach einem Porte¬
feuille und der Aussicht, auf ihre Visitenkarten iuroiou Ministro schreiben zu
dürfen sehnten, mögen vergnügt gewesen sein, und die, denen dieses Glück nicht
zu Teil geworden war, mögen gehofft haben, die Reihe werde jetzt an sie kommen.
Die Geschichte der französischen Ministerien ist eine Kette rasch aufeinander
folgender Veränderungen, die sich hauptsächlich auf Grund solcher selbstsüchtigen
Hoffnungen und Bestrebungen vollzogen, und die Doktrinen, die man dabei
vonseiten der Parteien verwendete, waren gewöhnlich nur Vorwande und Deck¬
mantel. Gambetta wurde vom Amte verdrängt, weil er bei der Auswahl seiner
Minister aus deu Reihen dieser Gesinnnngstüchtigen nicht alle berücksichtigt hatte,
welche sich für die "rechten Leute" hielten. Freycinet wurde schon einmal ver¬
trieben, weil die republikanische Union meinte, sie sei unter seinen Amtsgenossen
nicht hinreichend vertreten, und als die Führer dieser Clique endlich das lange
ersehnte Ziel erreicht hatten, wurden sie bei passender Gelegenheit ihrerseits
hinausgeworfen, um andern Ehrgeizigen Platz zu machen. Jetzt stand die
Sache folgendermaßen. Zunächst bemühte sich der Präsident Grevy, die Mi¬
nister zur Rücknahme ihres Entlassungsgesuches zu bewegen, dann schlug er
Freycinet vor, die Neubildung des Kabinets in die Hand zu nehmen. Derselbe
lehnte dies jedoch ab, und zwar, wie er später in einer Sitzung des Senats
erklärte, weil er nicht ans Empfindlichkeit zurückgetreten war, sondern deshalb,
weil ihm die Parteiverhältnisse in der Kammer der Deputirten das Regieren
unmöglich machten und ihm die geringe und unsichere Mehrheit, welche hier
hinter ihm stehe, nicht das genügende Ansehen bei den gerade jetzt (bei der
ägyptischen und bulgarischen Frage) besonders schwierigen Unterhandlungen mit
auswärtigen Mächten gewähre. Diese Äußerung war nicht unglaubwürdig;
denn bei den letzten wichtigen Kundgebungen in London und Pest war Frank¬
reichs nicht mit einem Worte gedacht worden, und ebensowenig war in den
Erklärungen, die Graf Rvbilnut der Kammer in Rom über die auswärtigen
Beziehungen Italiens gab, von dem französischen Nachbarstaate die Rede ge¬
wesen. Doch konnte Freycinet sich sagen, daß auf ihn das Sprichwort An¬
wendung leide, nach welchem unter Blinden der Einäugige König ist, d. h. daß
er gegenwärtig der einzige Staatsmann Frankreichs ist, dem man im Auslande
die Befähigung zugesteht, ein leidlich haltbares Kabinet zu stände zu bringen.
In der Kammer halten sich die Gruppe der Opportunisten und die der von
Clemeneeau geführten Radikalen gegenseitig die Wage, sodaß weder die eine noch
die andre daran denken kann, allein und selbständig die Regierung zu über¬
nehmen. Im Ministerium Freycinet waren daher beide Fraktionen ungefähr
zu gleichen Teilen vertreten, und die Stimme des Präsidenten des Konsens
gab bald nach dieser Seite hin, bald nach der andern den Ausschlag. Das
gab keine starke Regierung, aber es war die unter den obwaltenden Umständen


Vor Ministcrwechsel in Paris.

Littkeil in der Kammer und den Fraktionen, welche den Raum zwischen dieser
und der Rechten einnehmen. Einige von denen, welche sich nach einem Porte¬
feuille und der Aussicht, auf ihre Visitenkarten iuroiou Ministro schreiben zu
dürfen sehnten, mögen vergnügt gewesen sein, und die, denen dieses Glück nicht
zu Teil geworden war, mögen gehofft haben, die Reihe werde jetzt an sie kommen.
Die Geschichte der französischen Ministerien ist eine Kette rasch aufeinander
folgender Veränderungen, die sich hauptsächlich auf Grund solcher selbstsüchtigen
Hoffnungen und Bestrebungen vollzogen, und die Doktrinen, die man dabei
vonseiten der Parteien verwendete, waren gewöhnlich nur Vorwande und Deck¬
mantel. Gambetta wurde vom Amte verdrängt, weil er bei der Auswahl seiner
Minister aus deu Reihen dieser Gesinnnngstüchtigen nicht alle berücksichtigt hatte,
welche sich für die „rechten Leute" hielten. Freycinet wurde schon einmal ver¬
trieben, weil die republikanische Union meinte, sie sei unter seinen Amtsgenossen
nicht hinreichend vertreten, und als die Führer dieser Clique endlich das lange
ersehnte Ziel erreicht hatten, wurden sie bei passender Gelegenheit ihrerseits
hinausgeworfen, um andern Ehrgeizigen Platz zu machen. Jetzt stand die
Sache folgendermaßen. Zunächst bemühte sich der Präsident Grevy, die Mi¬
nister zur Rücknahme ihres Entlassungsgesuches zu bewegen, dann schlug er
Freycinet vor, die Neubildung des Kabinets in die Hand zu nehmen. Derselbe
lehnte dies jedoch ab, und zwar, wie er später in einer Sitzung des Senats
erklärte, weil er nicht ans Empfindlichkeit zurückgetreten war, sondern deshalb,
weil ihm die Parteiverhältnisse in der Kammer der Deputirten das Regieren
unmöglich machten und ihm die geringe und unsichere Mehrheit, welche hier
hinter ihm stehe, nicht das genügende Ansehen bei den gerade jetzt (bei der
ägyptischen und bulgarischen Frage) besonders schwierigen Unterhandlungen mit
auswärtigen Mächten gewähre. Diese Äußerung war nicht unglaubwürdig;
denn bei den letzten wichtigen Kundgebungen in London und Pest war Frank¬
reichs nicht mit einem Worte gedacht worden, und ebensowenig war in den
Erklärungen, die Graf Rvbilnut der Kammer in Rom über die auswärtigen
Beziehungen Italiens gab, von dem französischen Nachbarstaate die Rede ge¬
wesen. Doch konnte Freycinet sich sagen, daß auf ihn das Sprichwort An¬
wendung leide, nach welchem unter Blinden der Einäugige König ist, d. h. daß
er gegenwärtig der einzige Staatsmann Frankreichs ist, dem man im Auslande
die Befähigung zugesteht, ein leidlich haltbares Kabinet zu stände zu bringen.
In der Kammer halten sich die Gruppe der Opportunisten und die der von
Clemeneeau geführten Radikalen gegenseitig die Wage, sodaß weder die eine noch
die andre daran denken kann, allein und selbständig die Regierung zu über¬
nehmen. Im Ministerium Freycinet waren daher beide Fraktionen ungefähr
zu gleichen Teilen vertreten, und die Stimme des Präsidenten des Konsens
gab bald nach dieser Seite hin, bald nach der andern den Ausschlag. Das
gab keine starke Regierung, aber es war die unter den obwaltenden Umständen


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[0629] Vor Ministcrwechsel in Paris. Littkeil in der Kammer und den Fraktionen, welche den Raum zwischen dieser und der Rechten einnehmen. Einige von denen, welche sich nach einem Porte¬ feuille und der Aussicht, auf ihre Visitenkarten iuroiou Ministro schreiben zu dürfen sehnten, mögen vergnügt gewesen sein, und die, denen dieses Glück nicht zu Teil geworden war, mögen gehofft haben, die Reihe werde jetzt an sie kommen. Die Geschichte der französischen Ministerien ist eine Kette rasch aufeinander folgender Veränderungen, die sich hauptsächlich auf Grund solcher selbstsüchtigen Hoffnungen und Bestrebungen vollzogen, und die Doktrinen, die man dabei vonseiten der Parteien verwendete, waren gewöhnlich nur Vorwande und Deck¬ mantel. Gambetta wurde vom Amte verdrängt, weil er bei der Auswahl seiner Minister aus deu Reihen dieser Gesinnnngstüchtigen nicht alle berücksichtigt hatte, welche sich für die „rechten Leute" hielten. Freycinet wurde schon einmal ver¬ trieben, weil die republikanische Union meinte, sie sei unter seinen Amtsgenossen nicht hinreichend vertreten, und als die Führer dieser Clique endlich das lange ersehnte Ziel erreicht hatten, wurden sie bei passender Gelegenheit ihrerseits hinausgeworfen, um andern Ehrgeizigen Platz zu machen. Jetzt stand die Sache folgendermaßen. Zunächst bemühte sich der Präsident Grevy, die Mi¬ nister zur Rücknahme ihres Entlassungsgesuches zu bewegen, dann schlug er Freycinet vor, die Neubildung des Kabinets in die Hand zu nehmen. Derselbe lehnte dies jedoch ab, und zwar, wie er später in einer Sitzung des Senats erklärte, weil er nicht ans Empfindlichkeit zurückgetreten war, sondern deshalb, weil ihm die Parteiverhältnisse in der Kammer der Deputirten das Regieren unmöglich machten und ihm die geringe und unsichere Mehrheit, welche hier hinter ihm stehe, nicht das genügende Ansehen bei den gerade jetzt (bei der ägyptischen und bulgarischen Frage) besonders schwierigen Unterhandlungen mit auswärtigen Mächten gewähre. Diese Äußerung war nicht unglaubwürdig; denn bei den letzten wichtigen Kundgebungen in London und Pest war Frank¬ reichs nicht mit einem Worte gedacht worden, und ebensowenig war in den Erklärungen, die Graf Rvbilnut der Kammer in Rom über die auswärtigen Beziehungen Italiens gab, von dem französischen Nachbarstaate die Rede ge¬ wesen. Doch konnte Freycinet sich sagen, daß auf ihn das Sprichwort An¬ wendung leide, nach welchem unter Blinden der Einäugige König ist, d. h. daß er gegenwärtig der einzige Staatsmann Frankreichs ist, dem man im Auslande die Befähigung zugesteht, ein leidlich haltbares Kabinet zu stände zu bringen. In der Kammer halten sich die Gruppe der Opportunisten und die der von Clemeneeau geführten Radikalen gegenseitig die Wage, sodaß weder die eine noch die andre daran denken kann, allein und selbständig die Regierung zu über¬ nehmen. Im Ministerium Freycinet waren daher beide Fraktionen ungefähr zu gleichen Teilen vertreten, und die Stimme des Präsidenten des Konsens gab bald nach dieser Seite hin, bald nach der andern den Ausschlag. Das gab keine starke Regierung, aber es war die unter den obwaltenden Umständen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/629>, abgerufen am 20.10.2024.