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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.

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Zwei Minderer des Reichs.

der dem Individuum darin gleiche, daß er ein Ganzes sei. So wenig aber
das Individuum eine doppelte Religion haben könne, so wenig der Staat. Der
letztere müsse daher die Religion bekennen, die der Majorität zusage, und die
Bekenner andrer Religionen zwar nicht verbrennen, aber entmutigen durch Aus¬
schließung von allen Ämtern und ehrenden Auszeichnungen. Nun ist aber klar,
daß Hobbes den Staat nur als das angesehen haben will, was die Juristen
früher eine moralische Person nannten und seit Savignh eine juristische Person
nennen, d. h. als einen Träger von Rechten und Verbindlichkeiten, und daß diese
Fiktion oder dieser technische Sprachgebrauch dem Staate nicht eine Seele zu¬
schreiben will, noch einflößen kann.

Wir denken freilich nicht daran, Gladstone in seinem fiebenundsiebzigftcn
Jahre auf das festnageln zu Wollen, was er geschrieben hat, als er nicht lange
den scholastischen Dunstkreis von Christchurch College in Oxford verlassen hatte,
aber eine Stelle seiner Schrift werden wir ihm heute noch vorhalten dürfen,
weil er nie etwas gesagt, geschrieben oder gethan hat, worin ein Widerruf ge¬
funden werden könnte. Welche Religion soll nach ihm der englische Staat be¬
kennen? Natürlich die anglikanische. Aber wie faßt er die anglikanische Kirche
auf? Die Antwort liegt in folgender Stelle seiner genannten Schrift, Teil II,
S. 127: "Ich kann keine Spur der Ansicht finden, welche jetzt in dem Munde ge¬
dankenloser Personen so gewöhnlich ist, daß die römisch-katholische Kirche zur
Zeit der Reformation in England abgeschafft und daß eine protestantische Kirche
an ihre Stelle gesetzt worden sei; ebensowenig erhellt, daß in dem Geiste
irgend eines der Reformatoren auch nur ein Zweifel darüber bestanden habe,
daß die gesetzlich (IvMlI/) in England nach der Reformation aufgerichtete Kirche
dieselbe Institution ist wie die vor der Reformation gesetzlich in England auf¬
gerichtete Kirche."

Es leuchtet ein, daß jemand, der wie Gladstone angelegt ist, auf diesem
Standpunkte, der übrigens von vielen Geistlichen und Laien geteilt wird, ganz
überraschende dogmatische Kunststücke zur Rechtfertigung politischer Evolutionen
ausführen kann. Es wäre nicht leicht, die Scheidelinie zu ziehen zwischen seiner
Auffassung und der Darlegung, welche der Kardinal Manning in der Dublin
liovisv vom Oktober 1885 in einer Anweisung, wie seine Herde sich bei den
Wahlen verhalten solle, gegeben hat. Er bestreitet zwar, daß England katholisch
sei, fährt aber fort: "Wir sind verpflichtet, die alte und katholische Konstitution
des englischen Reiches aufrecht zu erhalten und fortzusetzen, die durch eine Ver¬
erbung von tausend Jahren auf uns gekommen ist. Ihre Grundlagen sind in
dem ungeschriebenen Rechte des Sachsenvolkes, entstanden in der Zeit, da die
katholische Kirche ihre freiesten und weitesten Gewalten ausübte in der Ge¬
staltung von Freiheit und Recht in England. Die Traditionen und Rechts¬
gewohnheiten der Monarchie und des Gemeinwesens von England sind zwar
Menschenwerk, aber sie entspringen aus den reinsten katholischen Zeitaltern unsers


Zwei Minderer des Reichs.

der dem Individuum darin gleiche, daß er ein Ganzes sei. So wenig aber
das Individuum eine doppelte Religion haben könne, so wenig der Staat. Der
letztere müsse daher die Religion bekennen, die der Majorität zusage, und die
Bekenner andrer Religionen zwar nicht verbrennen, aber entmutigen durch Aus¬
schließung von allen Ämtern und ehrenden Auszeichnungen. Nun ist aber klar,
daß Hobbes den Staat nur als das angesehen haben will, was die Juristen
früher eine moralische Person nannten und seit Savignh eine juristische Person
nennen, d. h. als einen Träger von Rechten und Verbindlichkeiten, und daß diese
Fiktion oder dieser technische Sprachgebrauch dem Staate nicht eine Seele zu¬
schreiben will, noch einflößen kann.

Wir denken freilich nicht daran, Gladstone in seinem fiebenundsiebzigftcn
Jahre auf das festnageln zu Wollen, was er geschrieben hat, als er nicht lange
den scholastischen Dunstkreis von Christchurch College in Oxford verlassen hatte,
aber eine Stelle seiner Schrift werden wir ihm heute noch vorhalten dürfen,
weil er nie etwas gesagt, geschrieben oder gethan hat, worin ein Widerruf ge¬
funden werden könnte. Welche Religion soll nach ihm der englische Staat be¬
kennen? Natürlich die anglikanische. Aber wie faßt er die anglikanische Kirche
auf? Die Antwort liegt in folgender Stelle seiner genannten Schrift, Teil II,
S. 127: „Ich kann keine Spur der Ansicht finden, welche jetzt in dem Munde ge¬
dankenloser Personen so gewöhnlich ist, daß die römisch-katholische Kirche zur
Zeit der Reformation in England abgeschafft und daß eine protestantische Kirche
an ihre Stelle gesetzt worden sei; ebensowenig erhellt, daß in dem Geiste
irgend eines der Reformatoren auch nur ein Zweifel darüber bestanden habe,
daß die gesetzlich (IvMlI/) in England nach der Reformation aufgerichtete Kirche
dieselbe Institution ist wie die vor der Reformation gesetzlich in England auf¬
gerichtete Kirche."

Es leuchtet ein, daß jemand, der wie Gladstone angelegt ist, auf diesem
Standpunkte, der übrigens von vielen Geistlichen und Laien geteilt wird, ganz
überraschende dogmatische Kunststücke zur Rechtfertigung politischer Evolutionen
ausführen kann. Es wäre nicht leicht, die Scheidelinie zu ziehen zwischen seiner
Auffassung und der Darlegung, welche der Kardinal Manning in der Dublin
liovisv vom Oktober 1885 in einer Anweisung, wie seine Herde sich bei den
Wahlen verhalten solle, gegeben hat. Er bestreitet zwar, daß England katholisch
sei, fährt aber fort: „Wir sind verpflichtet, die alte und katholische Konstitution
des englischen Reiches aufrecht zu erhalten und fortzusetzen, die durch eine Ver¬
erbung von tausend Jahren auf uns gekommen ist. Ihre Grundlagen sind in
dem ungeschriebenen Rechte des Sachsenvolkes, entstanden in der Zeit, da die
katholische Kirche ihre freiesten und weitesten Gewalten ausübte in der Ge¬
staltung von Freiheit und Recht in England. Die Traditionen und Rechts¬
gewohnheiten der Monarchie und des Gemeinwesens von England sind zwar
Menschenwerk, aber sie entspringen aus den reinsten katholischen Zeitaltern unsers


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/62>, abgerufen am 27.09.2024.